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Selbstversuch. Wer sind diese jungen Leute? Sind sie „Ausländer“? „Türken und Araber“? „Jugendliche aus Einwandererfamilien“, „Mitglieder einer Streetgang“, „geduldete Asylsuchende“? Oder gehören sie zur Essener Initiative „Engagierte Jungs", nominiert für den Ehrenamtspreis „Essens Beste“? Alles trifft zu, aber jede der Bezeichnungen wirft ein anderes Licht auf die Gruppe.

© Fotoredaktion Presseamt

Medien und Migration: Was ist eine angemessene Sprache für eine vielfältige Gesellschaft?

Muss es Fremdenfeindlichkeit oder Rassismus heißen? Genau zu formulieren ist auch für Journalisten nicht leicht, in einem Einwanderungsland aber unerlässlich. Ein Glossar hilft.

Ein einziges Wort kann den Ausschlag geben. Darum mischten sich die Neuen deutschen Medienmacher (NdM) im November 2011 mit einer öffentlichen Stellungnahme ein. Als Verein von Medienschaffenden mit und ohne Einwanderungsgeschichte veröffentlichten sie zum ersten Mal Formulierungshilfen für die Berichterstattung.

Fremdenfeindlichkeit als Motiv? Es ist Rassismus

Es war kurz nach dem Bekanntwerden der Neonazi-Mordserie. Neun Menschen waren ermordet worden. Aber in der Berichterstattung klang es, als seien es neun Döner. Selbst in der Tagesschau war die Rede von "Döner-Morden" und so brachten die NdM ein Papier heraus, um ihre Sicht der Dinge einzubringen.

Sie erklärten, warum es nicht angemessen ist, von "Döner-Morden" zu sprechen, weshalb die Gruppe der Opfer nicht einfach als "Türken" bezeichnet werden sollte, sondern zum Beispiel als Kleinunternehmer – schließlich wurden auch deutsche Staatsbürger ermordet. Und warum das Motiv der Neonazis nicht Fremdenfeindlichkeit war, sondern Rassismus. Es waren ja keine Fremden, die getötet wurden, es waren in Deutschland ansässige Bürger; nur weil die Mörder sie als Fremde sahen, mussten Journalisten es ihnen nicht gleich tun.

Die "Formulierungshilfen der Neuen deutschen Medienmacher für die Berichterstattung zur Neonazi-Mordserie" sorgten für Diskussionen in vielen Redaktionen. Manche Kollegen fühlten sich bevormundet, andere setzten die Empfehlungen um, ein weiterer Teil war einfach froh über Rückdeckung für die eigene kritische Betrachtung.

In fast allen Fällen aber zeigte sich ein Bedarf an Auseinandersetzung und an Orientierung. Bei allem Stress, Zeit- und Aktualitätsdruck im Mediengeschäft ist Journalistinnen und Journalisten sehr bewusst, dass sie Einfluss nehmen, Deutungsmacht haben und damit auch Verantwortung. Durch ihre Wahl der Themen, der Geschichten, der Perspektiven und im letzten Schritt durch die Wortwahl geben sie dem Publikum und ihren Lesern eine Richtung vor.

Ein Experiment der Stanford University

Das ist kein unbestimmtes Gefühl, es gibt zahlreiche wissenschaftliche Untersuchungen, die es belegen. So hat die Psychologin Lera Boroditsky 2011 in einem Experiment an der Stanford University nachgewiesen, wie viel Gewicht ein einziges Wort in einem journalistischen Text hat. Sie legte zwei Gruppen von Probanden je einen kurzen Bericht vor, in dem die rapide steigende Kriminalität in einer fiktiven amerikanischen Stadt behandelt wurde. Anschließend sollten Lösungen für das Problem gefunden werden. Beide Texte waren fast gleich, mit nur einem Unterschied. In Einem wurde Kriminalität als ein Virus in der Stadt beschrieben, im zweiten wurde sie mit einer Bestie verglichen.

Durch einzelne Wörter unterschiedliche Wahrnehmung

Die Lösungsvorschläge der Probanden, die den Virus-Text gelesen hatten, waren vor allem präventiv. Sie plädierten für Bildungsprogramme und Armutsbekämpfung. Die zweite Gruppe dagegen, die im Bericht die Metapher von der Bestie gelesen hatte, wollte mehrheitlich restriktiv vorgehen, forderte strengere Gesetze und höhere Gefängnisstrafen. Besonders bemerkenswert waren die Begründungen dafür: Beide Gruppen rechtfertigten ihre Vorschläge mit den Zahlen und Statistiken aus dem Bericht. Es waren in beiden Texten exakt dieselben.

Wie Unterschiede in der Wahrnehmung durch einzelne Wörter deutlich werden können, ist aktuell an der Berichterstattung zur Asyldebatte zu beobachten: am oft verwendeten Schlagwort "Flüchtlingskrise". Was es aussagt, liegt auf der Hand: Es gibt eine Krise wegen geflüchteter Menschen. Wird das Leitwort hinterfragt, kann sich ein ganz anderes Bild ergeben. Gemessen an der aktuellen Zahl von weltweit rund 60 Millionen Menschen auf der Flucht, sind eine Million von ihnen in Deutschland genau genommen nicht viel.

Es macht Probleme, aber ist es eine Krise? Und wenn ja, sind eine Millionen Menschen im Exil in einem Land von 81 Millionen die Ursache? Es ist ebenso gut möglich zu meinen, dass der deutsche Staat versagt, weil Gesetze und Strukturen unzureichend sind. In dem Fall würde das Beitragsthema nicht "Flüchtlingskrise" lauten, sondern vielleicht "Asylgesetzkrise" oder neutraler "Asylpolitik".

"Kleinkinderkrise" - auf die Idee würde niemand kommen

Diese Sichtweise ist bei vielen anderen Themen selbstverständlich. Es würde niemand auf die Idee kommen, einen Diskurs um fehlende Kindergartenplätze mit dem Schlagwort "Kleinkinderkrise" zu überschreiben. Eltern würden auf die Barrikaden gehen. Verständlich, sie haben ein verbrieftes Recht auf Kinderbetreuung. Das Recht auf Asyl ist allerdings auch gesetzlich festgeschrieben.

Wenn Menschen vor allem aus der eigenen Perspektive auf die Welt blicken ist das normal, erst Recht im privaten Raum. Um eine ausgewogene Medienberichterstattung zu gewährleisten, ist es aber sinnvoll unterschiedliche Blickwinkel einzunehmen. Das ist bei der Benennung von Themen hilfreich und ebenfalls bei Menschen, egal ob sie der Mehrheit oder einer Minderheit angehören. Wir sehen Leute anders an, je nachdem wie sie uns vorgestellt werden. Und nichts anderes machen Journalisten, wenn sie beschreiben, erklären, einordnen.

Möglichst genau und kenntnisreich zu formulieren ist in der Theorie eine Banalität. In der Praxis ist es weniger leicht. Oft müssen Journalisten vereinfachen und verkürzen, mitunter fehlt die Zeit zur Recherche, teils fehlen Zugänge zu Minderheiten, die beschrieben werden sollen und in vielen Redaktionen fehlt es an Medienpersonal aus Einwandererfamilien. Dazu kommt, dass Migration und Integration als Alltagsthemen gelten, dabei ist Fachwissen gefragt, um etwa die komplexe Einwanderungs- oder Asylgesetzgebung zu verstehen.

Gängige und neue Bezeichnungen für Minderheiten: das Glossar

Alles gute Gründe für die Neuen deutschen Medienmacher, ein Angebot an Information und Reflektion zu machen. Dazu wurde das "Glossar mit Formulierungshilfen für die Berichterstattung im Einwanderungsland" von NdM-Journalistinnen zusammen mit Wissenschaftlern und weiteren Fachleuten erarbeitet; ehrenamtlich und als kostenfreie Broschüre. In fünf Kapiteln finden sich gängige und ganz neue Bezeichnungen für Minderheiten in Deutschland und auch für die Mehrheit. Es sind Wörter zu den Themen Asyl, Migration oder zur Kriminalitätsberichterstattung enthalten, genauso wie Begriffe, die Musliminnen und Muslime sowie Juden und Jüdinnen beschreiben oder betreffen.

Jedes Wort wird mit einer kurzen Erläuterung eingeordnet, gegebenenfalls werden Alternativen genannt. Hier kann der Unterschied zwischen Zuwanderern und Einwanderern nachgeschlagen werden, weshalb mutmaßliche Islamisten nicht dasselbe wie Terrorverdächtige sind, dass Asyl und Flüchtlingsschutz keine Synonyme sind, ebenso wenig wie Antisemitismus und Antijudaismus. Man erfährt, dass das harmlos wirkende "Passdeutsche" aus dem Vokabular von Rechtsextremen stammt, woran Burka, Niqab oder Tschador zu erkennen sind, wann islamisch und wann muslimisch sprachlich korrekt sind oder was genau eigentlich postmigrantisch ist.

Fast zweihundert Wörter sind aufgeführt

Fast zweihundert Wörter sind aufgeführt und ebenso viele Alternativbegriffe rund um Themen der Einwanderungsgesellschaft. Alles in journalistisch brauchbarer Sprache und in kurzer Form, als Hilfestellung und schnelle Recherchequelle im Redaktionsalltag. Zusätzlich gibt es seit kurzem eine interaktive Onlineversion mit praktischer Suchfunktion. Es versteht sich von selbst, dass dadurch niemandem Vorschriften gemacht werden. Die Hinweise von Journalisten für Journalisten dienen dazu, gut informierte Entscheidungen für oder gegen eine Formulierung zu treffen.

Das kommt an. Bei Erscheinen im November 2014 war die Broschüre sofort vergriffen. Kürzlich wurde die dritte Auflage veröffentlicht. Fast genauso oft wird das Heft von Behörden, Pressestellen, Schulen oder Universitäten nachgefragt. Einige Polizeidienststellen und das Landeskriminalamt in Baden-Württemberg arbeiten damit, das Institut für deutsche Sprache hat einen Artikel darüber angefragt, und wenn Bundespräsident Gauck von Menschen aus Einwandererfamilien spricht, dann hat er vielleicht das Glossar gelesen. Es ist ein Alternativbegriff daraus, wenn man nicht vom abstrakt klingenden "Migrationshintergrund" sprechen will.

Die multiethnische Gesellschaft in der Wortwahl

Immer öfter ist an der Wortwahl abzulesen, dass Deutschland sich zu einer multiethnischen Gesellschaft entwickelt. Sprache entfaltet und verändert sich mit. Und so wie heute niemand mehr ernsthaft von Fremdarbeitern spricht, könnte morgen die gar nicht so alte Wortschöpfung Zuwanderer überholt sein. Im Glossar kann man sich schon mal Inspiration holen.

Eine Frage steht bei aller journalistischen Ausgewogenheit und differenzierten Formulierungsarbeit jedoch immer im Raum: Liefert diskriminierungsfreie Sprache in der Berichterstattung eine Steilvorlage für diejenigen, die den Medien Manipulation vorhalten, die den unsäglichen Vorwurf der "Lügenpresse" erheben? Das stimmt. Es kann eine Folge sein. Na und?

Ein Journalist, der anstatt Ausländer Einwanderer schreibt, der nicht von Flüchtlingsströmen berichtet, sondern Zahlen nennt, der nicht von Farbigen spricht, sondern von Schwarzen, oder für den Mehmet K. nicht Türke, sondern Berliner ist, der lügt nicht. Er erzählt, dass Berliner viele Namen und Biografien haben, dass Minderheiten ein Recht haben, ihre Bezeichnung selbst zu wählen, dass Menschen im Exil nicht wie Naturgewalten über ein Land kommen und dass Deutschland ein Einwanderungsland ist. Es ist eine klare Fehlinterpretation zu unterstellen, dass Medienschaffende dadurch eine sachlich geführte gesellschaftliche Debatte unterdrücken. Und es wäre fatal, wenn Journalisten ihre Arbeit an solchen Thesen ausrichten würden. Es verliehe ihnen ein unangemessenes Gewicht.

Die heftigste Kritik kommt aus dem Netz

Die heftigste Kritik am Glossar kommt aus den sozialen Medien im Netz. Fast immer geht es um vermeintliche Zensur. Eine Minderheit würde der Mehrheit die Worte diktieren - oder wie es in Reaktionen hieß "den gehirngewaschenen Meinungsmedienschmierfinken noch mehr Multikulti in den Hintern blasen". Wahlweise auch per "Verbal-Inquisition" würden die Neuen deutschen Medienmacher "am Genozid Deutschlands arbeiten". Eine akute Bedrohung durch Formulierungstipps wird aber bloß von Leuten ausgemacht die das Glossar nie gelesen haben. Jedenfalls sind es keine Journalisten, der Schreibe nach.

Unter Kollegen werden die Vorschläge überwiegend als Anregung zur Auseinandersetzung aufgenommen. Auch hier gibt es strittige Punkte. Wenn im Glossar vorgeschlagen wird im Gegenzug auch Mal die Kategorie Deutsche ohne Migrationshintergrund zu erwägen, weil eingebürgerte Deutsche ja auch als Menschen mit Migrationshintergrund bezeichnet werden, dann schmeckt das nicht allen und ist ja auch eher selten in die journalistische Praxis umsetzbar.

Es sind aber mehr Stimmen, die diesen spielerischen Umgang mit Sprache in Identitätsfragen als entkrampfend und ideenstiftend empfinden. So wie die neuen Begriffe im Glossar gedacht sind, als Impulsgeber. Und darüber hinaus als Hinweise auf mehr Präzision. Denn wer heutzutage von Deutschen schreibt oder spricht, kann auch all jene mitdenken, die keine standarddeutsche Familiengeschichte haben. Die bekannte Forderung "Das wird man doch mal sagen dürfen" die gilt für alle.

- Die Autorin ist Geschäftsführerin der Neuen deutschen Medienmacher. Dieser Text erschien in der Beilage zur Diversity-Konferenz 2015 des Tagesspiegels. Mehr zum Thema Diversity lesen Sie hier.

Konstantina Vassiliou-Enz

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