zum Hauptinhalt
Die Gehirnzellen benötigen Zucker als "Treibstoff".

© Stocksnapper

Demenz-Forschung: Bittere Diagnose, süße Therapie?

Biochemiker Werner Reutter erforscht die Wirksamkeit von Galaktose gegen Demenz – und kämpft seit Jahren für eine klinische Studie.

Manch schwere Krankheit ist heute gut behandelbar. Doch gegen Demenz, speziell Morbus Alzheimer, scheint noch immer kein Kraut gewachsen. Wie auch, wenn selbst Experten sich nicht einig über die Ursache sind. Fehlerhafte Tau-Proteine sagen die einen, zu Fibrillen verklumptes Eiweiß namens Amyloid-beta glauben andere. Für den langjährigen Mediziner der Freien Universität Berlin und Biochemiker Werner Reutter ist beides Forschen an Symptomen – nicht an der Ursache: „Die typischen Plaques im Gehirn der Patienten sind nicht Auslöser, sondern die Folge einer Fehlfunktion.“

Tatsache ist, dass sich bei allen älteren Menschen Eiweiße im Gehirn ablagern – doch längst nicht alle werden dement. Bei den unter 75-Jährigen sind es nur 3,5 Prozent. Bei den 80- bis 84-Jährigen knapp 16. Erst nach dem 90. Geburtstag ereilt es fast jeden Zweiten. Bei weniger als zwei Prozent der Menschen liegt Alzheimer bereits in den Genen, die übrigen bekommen ihn sporadisch. Studien belegen, dass Diabetiker ein erhöhtes Risiko für Demenz haben. Ebenso Menschen, die unter Depressionen leiden.

Bereits Anfang der 1990er Jahre stellte der Heidelberger Neurowissenschaftler Siegfried Hoyer die These auf, dass Demenz eine Stoffwechselstörung sein könnte: ein Diabetes Typ 3. Werner Reutter, Experte für Zuckerbiochemie, und sein Team denken das auch. „Wir glauben, dass defekte Insulinrezeptoren im Gehirn die Ursache sind.“ Jüngste Studien, unter anderem vom US-Gerontologen Auriel Willette, stützen dies. Willette konnte an 186 (im Schnitt 60-jährigen) Probanden zeigen, dass – bevor die Plaque entsteht – eine Insulinresistenz der Gehirnzellen längst da ist. Das heißt, dass die Gehirnzellen die Glukose aus dem Blut trotz ausreichender Insulinproduktion des Körpers nicht mehr ausreichend aufnehmen können.

Diabetes, Demenz und gar Depression, wie Ronald Kahn vom Joslin Diabetes Center in Boston kürzlich bewiesen hat, scheinen eines gemeinsam zu haben: defekte Insulinrezeptoren. Mäuse, denen das Gen für den Rezeptor im Gehirn fehlt, werden im Alter ängstlich und wirken depressiv. Sie bilden vermehrt Enzyme, die den Belohnungsstoff Dopamin abbauen. Morbus Parkinson ist ebenfalls durch einen Dopaminmangel gekennzeichnet. Die Vermutung liegt nahe, dass auch hier eine Insulinresistenz des Gehirns der Auslöser sein könnte.

Die Nervenzellen „vermüllen“ und sterben ab

Zumindest ein schlüssiges Szenario der Alzheimer-Entstehung scheint sich nun logisch zusammenzufügen: Gelangt nicht genügend Glukose in die Gehirnzellen, fehlt den Neuronen die Power, um ihre Aufgaben zu verrichten. Unter anderem können sie verbrauchte Proteine nicht mehr zeitnah abbauen. Die Zellen „vermüllen“, Plaques entstehen, und in der Folge sterben die betroffenen Nervenzellen ab.

Obwohl das Gehirn bei Erwachsenen nur zwei Prozent des Körpergewichts ausmacht, verbraucht es mehr als die Hälfte der täglich aufgenommenen Kohlenhydrate – konkret: die darin enthaltene Glukose. Ein anderer, chemisch fast identischer Zucker – die im Milchzucker (Laktose) enthaltene Galaktose – gelangt unabhängig vom Insulinrezeptor über einen anderen Transportweg in die Zelle und wird dort enzymatisch in Glukose umgewandelt.

Könnte also ein einfacher Zucker die Lösung bei Demenz sein? Gemeinsam mit der Pharmakologin Melitta Salkovic-Petrisic von der Universität Zagreb konnte Reutter an Ratten zeigen, dass Tiere, deren Insulinrezeptoren im Gehirn chemisch blockiert worden waren und die über Trinkwasser Galaktose erhielten, ihr Erinnerungsvermögen nicht verloren. Vergleichstiere, die pures Wasser tranken, fanden dagegen schon bald nicht mehr den Weg zum Futternapf.

Erste zaghafte Versuche, den (potenziell) ausgehungerten Hirnzellen von an Demenz erkrankten Menschen ersatzweise Galaktose anzubieten, verliefen sehr vielversprechend, erzählt Reutter. „Ich sah selbst eine ganze Reihe von Patienten, die es nehmen. Orientierung, Erinnerung und die soziale Kommunikation verbessern sich deutlich. Kein derzeit zugelassenes Medikament kann da mithalten.“ Dreimal täglich einen Teelöffel des Zuckers in Tee, Wasser oder Kaffee reichten aus.

Pharmaindustrie und Krankenkassen sind an Studien nicht interessiert

Ebenso lange, wie es die Diabetes-Theorie für Alzheimer gibt, versucht Werner Reutter – heute 78 Jahre alt und noch immer für die Charité in der Forschung tätig – Gelder für eine klinische Galaktose-Studie aufzutreiben, mit der die therapierende Wirkung des Zuckers wissenschaftlich untersucht und mögliche unerwünschte Nebenwirkungen ausgeschlossen werden könnten. Bislang vergeblich. Weder Pharmaindustrie noch Krankenkassen seien interessiert. Warum nicht? „Weil sich mit Galaktose nichts verdienen lässt, denn es ist kein Arzneimittel, sondern ,nur’ ein Zuckerersatzstoff“, sagt Reutter bitter. Die chemisch korrekt als D-Galaktose bezeichnete Substanz gehört wie Glukose, der gemeine Traubenzucker, zu den natürlichen Einfachzuckern (Monosacchariden) – und ist als Nahrungsergänzungsmittel frei verkäuflich. 250 Gramm kosten 40 bis 50 Euro. Die derzeit häufig bei Demenz verschriebenen Acetylcholinesterase-Hemmer kosten die Krankenkassen sehr viel mehr. „Aber sie sind einfach nur teuer und wirken kaum“, sagt Reutter kopfschüttelnd. Zudem liegt die Hoffnung von Medizin (und Pharmaindustrie) aktuell auf einem lukrativen Impfstoff gegen Alzheimer: Er soll das Immunsystem anregen, Antikörper gegen die Plaque zu bilden. Ein Impfstoff gegen ein Symptom – nicht gegen die Ursache, kritisiert Reutter.

Galaktose gibt es bereits heute rezeptfrei in der Apotheke. Sie ist nicht ganz so süß wie Rohrzucker und wird in reiner Form aus Laktose gewonnen. Ausgangsstoff dafür ist meist Molke. Könnte man stattdessen nicht einfach viel Milch trinken oder üppig Käse und Joghurt essen? „Nein, denn Galaktose wird erst von den Zellen aufgenommen, wenn ausreichend davon im Blut ist“, betont Reutter. „Selbst purer Milchzucker würde nichts bringen. Rund zehn Prozent der Europäer sind laktose-intolerant, und bei den übrigen 90 Prozent ist das Enzym, das Laktose im Darm spaltet, nicht aktiv genug, um ausreichend Galaktose freizusetzen.“

Anders als die meisten Arzneimittel habe der besondere Zucker nur Nebenwirkungen, wenn man es damit maßlos übertreibe, sagt Reutter. Viel hilft viel, gelte also auch in diesem Fall nicht. „Es darf nur so viel sein, wie am Tag verstoffwechselt werden kann. Andernfalls kann eine Situation entstehen wie beim seltenen Gendefekt Galaktosämie, auf den Neugeborene routinemäßig getestet werden.“ Einem von 40 000 Menschen nämlich fehlt das Enzym zum Abbau von Galaktose. Reichert sie sich im Blut zu stark an, kann Grauer Star entstehen. „Drei Teelöffel pro Tag wären dafür allerdings viel zu wenig“, betont Reutter.

Sogar Diabetiker können Galaktose nehmen

Galaktose ist auch für laktose-intolerante Menschen geeignet. Nur bei übermäßigem Verzehr wirkt sie abführend. Und sogar Diabetiker können den Zucker nehmen, denn er erhöht ihren Blutzuckerspiegel nicht. Ob Galaktose – prophylaktisch bei ersten Anzeichen genommen – den Ausbruch einer Demenz verhindern kann, ist noch spekulativ, denn wie gesagt: klinische Studien fehlen. Reutter nimmt den Zucker regelmäßig, aus einem viel kurzfristigeren Grund: „Galaktose vertreibt die Mittagsmüdigkeit.“

Leistungssportler wissen das längst. Sie schätzen den Zucker, weil er insulinunabhängig in die Zellen geht und der übersäuerten Muskulatur schnell neue Energie liefert. Bei Überanstrengung entstehen Milchsäure und Ammoniak im Körper. Und Ammoniak blockiert den Insulinrezeptor. Das sei auch so ein Punkt, der die Diabetes-Theorie stütze, sagt Werner Reutter: „Nach neueren Studien sind bei Alzheimer-Patienten die Ammoniakwerte ebenfalls erhöht.“

Bereits Ende der 1970er Jahre begann Reutter den Galaktose-Stoffwechsel zu erforschen. An der Universität Freiburg untersuchte er Lebertumore bei Mäusen. Später an der Freien Universität fokussierte er sich auf hepatische Enzephalopathie, eine Hirnfunktionsstörung, die entsteht, wenn die Leber Ammoniak nicht mehr abbauen kann. Reutter wusste da bereits, dass Galaktose zuckerhungrigen Zellen helfen kann und überzeugte einen Gastroenterologen an der Freien Universität davon, seinen Patienten versuchsweise Galaktose zu geben. Der Kollege berichtete verblüfft, dass die Kranken sehr viel schneller darauf ansprachen als auf die übliche Glukose-Infusion.

Ähnlich wie Ammoniak vergiften auch Endotoxine, die bei einer Blutvergiftung (Sepsis) entstehen, die Insulinrezeptoren. Erste Ergebnisse einer deutschen Pilot-Studie mit 70 Patienten belegen, dass Galaktose Sepsis sehr effektiv bekämpfen kann.

Ginge es nach Werner Reutter, gäbe es längst ein ganzes Max-Planck-Institut rund um Galaktose und den bisher wenig erforschten Insulinrezeptor. Da letzterer auf fast jeder Körperzelle sitzt, hält Reutter es für wahrscheinlich, dass Galaktose auch noch bei ganz anderen Erkrankungen wirksam ist. Es wäre nicht das erste Mal, dass die Natur auf einfache und geniale Weise selbst eine passende Therapie parat hält.

Catarina Pietschmann

Zur Startseite