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Ohne ihren Jugendklub wären sie nicht, wer sie heute sind: Sourour, Somaya, Sebahat (oben v.l.), Eda, Zaineb, Feyza und Fatima (unten v.l.)

© Agnieszka Budek

Berlin-Neukölln: Mädchenklub "Schilleria" droht die Schließung

Kein Opfer sein, den Mund aufmachen, das lernen sie in der "Schilleria". Doch der Mädchenklub im Neuköllner Schillerkiez ist in Gefahr. Über seine Zukunft wird am heutigen Montag entschieden.

Soumaya wartete einst sehnsüchtig auf den Tag, an dem sie endlich sieben werden würde. Denn erst mit sieben Jahren darf man hier rein. Sie bemerkte neidisch, wie glücklich ihre Schwester und ihre Cousinen aussahen, die schon hier waren. Und als sie schließlich hinein durfte, da duftete es, denn es wurde gerade gekocht, und schon bald war sie ein Vogel in einem Theaterstück über Tiere, die sich erst gar nicht verstanden, aber das war nur ein Missverständnis, und es gab ein glückliches Ende.

Hier in der Schilleria, in ihrem geliebten Mädchenklub, hat sich ihr Leben verändert.

Elf Jahre später sitzt Soumaya an einem schlichten Holztisch in der Schilleria, Schillerkiez in Berlin-Neukölln, neben ihr ihre Schwester, die Cousinen und andere Freundinnen. Alle, die hierher kamen, waren erst schüchtern, aber neugierig, ängstlich und doch hoffnungsvoll. Nun sind sie alle junge Frauen, manche schon volljährig, selbständig und mutig, heiter und klug, viele von ihnen werden die ersten Akademikerinnen in ihren Familien sein, fast alle haben einen Migrationshintergrund. Wenn sie eines gelernt haben in ihrem Mädchenklub, der nun um seine Existenz kämpft, dann das: Sei kein Opfer, überwinde Ohnmacht und Einflusslosigkeit – mach die Klappe auf!

Soumaya, nun 18 Jahre alt, dreht sich zurück in den Raum, als müsse sie sich vergewissern, dass es ihn noch gibt: die kleine Bar, der Kicker, die selbst bemalten Wände, dahinter der Flur zur Küche, zum Theaterraum, zum Musikraum, zu den Computern und Büchern. Dann sagt sie zu ihrer Schwester Sourour, ihren Cousinen Zaineb und Fatima und ihren Freundinnen Feyza, Eda und Sebahat: „Wir gehen hier nicht weg.“ Der Nachmieter würde ihnen schon sehr leidtun, der könne sich auf was gefasst machen.

Es klingt wie eine Drohung. Dann lacht sie und alle lachen mit, ausgelassen und ein bisschen bitter zugleich, denn eigentlich wissen sie nicht so genau, was sie nun noch tun können. Man kann an ihren Gesichtern ablesen, welche Bedeutung dieser mit bunten Graffiti verzierte Laden im Erdgeschoss des Mietshauses an der Weise-/Ecke Herrfurthstraße für den Kiez und seine Mädchen besitzt.

Sozialer Brennpunkt und Boom-Kiez

Die Schilleria gibt es seit 2003, es ist die einzige Mädcheneinrichtung im Kiez. Vor zwei Monaten hat sie die Kündigung erhalten. Wenig später bot der Eigentümer, laut dem Neuköllner Bezirksamt ein Immobilieninvestor namens Greta AG, einen neuen Mietvertrag an, allerdings zum dreifachen Mietpreis. „Mindestens“ 15 Euro pro Quadratmeter stelle sich der Eigentümer vor, heißt es. Aus dem Bezirksamt ist zu hören, man könne aber nur maximal zwölf Euro zahlen. Auf Nachfrage sagt eine Mitarbeiterin der Greta AG, man möge sich an die Hausverwaltung Hachmann wenden. Dort heißt es: „Wir sagen gar nichts.“ Der Mitarbeiter, der namentlich nicht genannt werden will, bestätigt nicht, dass der Eigentümer die Greta AG sei, dementiert es aber auch nicht.

An diesem Montag wollen sich Vertreter des Bezirksamts, der Schilleria und ihres Trägers, des Mädchenvereins „Madonna“, mit dem Geschäftsführer des Eigentümers zu einem Runden Tisch treffen. Dass sie sich einigen, ist eher nicht zu erwarten.

15 Euro sind im Vergleich zu den Gewerbemieten, die mittlerweile verlangt werden, nichts. 50 Euro werden jetzt schon pro Quadratmeter aufgerufen. Kommt es heute zu keiner Einigung, ist für die Schilleria zum 1. Januar Schluss. Einen Block weiter hat ein anderer Groß-Investor einem palästinensischen Verein, der vor allem Sozialarbeit macht, angeboten, die zwei bislang genutzten Räume zu kaufen – für 250 000 Euro. Das Angebot kommt einem Rausschmiss gleich. Die Schilleria steht nicht alleine da. Ihr Schicksal ist zugleich symptomatisch für eine Entwicklung, die nicht nur Neukölln betrifft: Immer mehr Jugend-, oder Senioren- und anderen Freizeiteinrichtungen wird gekündigt oder die Miete für ihre Räume wird drastisch erhöht. Der Neuköllner Baustadtrat Jochen Biedermann sagt: „Wir haben jede Woche Notrufe. Wir kommen nicht hinterher, können uns nicht um alle kümmern.“

Der Schillerkiez ist sozialer Brennpunkt und Boom-Kiez zugleich, sechs Blocks mit 808 Häusern und knapp 12 300 Wohnungen, in denen Tradition auf Zuzug trifft, Eckkneipe auf Hipster-Café, Bruchbude auf Luxus-Dachgeschoss; hier wollen Investoren aus aller Welt auf Berlins noch immer heißestem Sperrmüll-Hotspot mit jährlich bis zu 800 Tonnen illegal abgelagerten Schrott fette Beute machen. Es ist ein Ort, an dem Berlins lähmender Stillstand und seine gleichzeitig rasante Entwicklung wie im Brennglas zu betrachten sind.

"Es gibt keine Gnade mehr"

Ein Dachgeschoss am Ende der Herrfurthstraße mit Blick auf das Tempelhofer Feld, nur ein paar Meter von der Schilleria entfernt, wird derzeit für mehr als eine Million Euro Kaufpreis angeboten, ein anderes Dachgeschoss in unmittelbarer Nähe in der Schillerpromenade für 1,2 Millionen Euro. 91 Prozent der Häuser wurden vor 1945 erbaut, es gibt also fast nur Altbauwohnungen, die wiederum haben bei der Umwandlung von Miet- in Eigentumswohnungen die größten Margen. Und wer noch eine Mietwohnung hat, muss aufpassen: 70 Prozent beträgt die Mietsteigerung in Neukölln seit 2009, fast 100 Prozent im Schillerkiez.

Früher, sagt der Anwalt Max Althoff, der hier seit 2011 mitten im Kiez Mietberatung anbietet, habe das Juristische, die Durchsetzung von Recht, kaum eine Rolle gespielt, weil die Alteigentümer ihre Mieter und deren Probleme kannten. Es wurde Rücksicht genommen. Heute werde bei der geringsten Zahlungsverzögerung die Kündigung rausgeschickt. Es gebe kaum noch Alteigentümer, nur große Investoren oder Immobilienfonds. Der Mietanwalt kann dutzende Geschichten erzählen, wie Mieter mit dubiosen Methoden rausgedrängt werden. Eine Familie etwa bekomme die Kündigung, weil es angeblich ständig streng aus ihrer Wohnung rieche, acht Zeugen im Haus konnten den Geruch nicht bestätigen, nur die Mitarbeiter der Hausverwaltung, die gar nicht täglich vor Ort seien. Althoff sagt: „Es gibt keine Gnade mehr.“

Die Schilleria gehört zum Mädchenverein Madonna, der sich wiederum seit 37 Jahren um junge Frauen im sozialen Brennpunkt kümmert. Die Schilleria-Leiterin Sinaya Sanchis, die hier seit 2006 arbeitet, hat eine zweite, feste Mitarbeiterin, der Rest des Teams wird von ehrenamtlichen Frauen gebildet, die zum Teil selbst als Jugendliche die Schilleria besuchten. Der Ansatz, der hier verfolgt wird, nennt sich „Empowerment“. Es geht darum, Autonomie und Selbstbestimmung von Mädchen und jungen Frauen zu stärken. Vor allem Mädchen machen nach wie vor fast täglich Erfahrungen mit Mobbing, verbalen Attacken und sexueller Anmache in der Schule. Eine Lehrerin, die nicht genannt werden will und selbst Migrationshintergrund hat, sagt: „Vor allem die verbalen Übergriffe auf die Mädchen sind Alltag, der Druck auf sie ist groß. Es ist kaum möglich, sich dem zu entziehen. Leider haben Lehrer oft Angst, die Dinge anzusprechen und zu sanktionieren.“

Die Schilleria ist Wagenburg und Zufluchtsort zugleich, Zweitfamilie allemal, Ansporn für Selbstfindung und Kreativität. Die großen Mädchen geben dieses Erbe ihren Schwestern und Cousinen weiter. Samstags ist der Tag der jungen Frauen. Sie sind dann unter sich, ohne Betreuerinnen. Alle ihre Geschichten handeln vom Wachsen, nicht nur vom Erwachsenwerden: Soumaya wurde in der Grundschule von einer Mädchengruppe gemobbt. Als sie das in der Schilleria erzählte, sagten die Betreuerinnen, sie solle sich dem Konflikt stellen und die Mädchen ansprechen. Soumaya hatte Angst, sie sagte: „Mach’ ich niemals.“

Opferrollen mögen sie nicht

So fängt es hier immer an: mit Abwehr bei den Mädchen und Geduld bei den Betreuerinnen. Irgendwann war Soumayas Leidensdruck so groß, dass sie etwas ändern wollte. Genau an dem Holztisch, an dem die jungen Frauen nun an einem Samstag im November 2017 sitzen, saß Soumaya auch damals. „Setz dich“, hieß es. „Jetzt diskutieren wir, was du machen kannst.“ Mit Hilfe der Betreuerinnen hat Soumaya die anderen in der Schule zur Rede gestellt, sie kamen ins Gespräch. Eines der Mädchen, die sie so geärgert hatten, wurde eine Freundin. Bis sie wegziehen musste – wegen der steigenden Mieten.

Soumayas und Sourours Familie stammt aus Tunesien. Sourour war drei, als sie in Deutschland ankamen, heute ist sie 21. Damals war die Angst groß, alleine rauszugehen, die Eltern wollten die Kinder schützen. „Die Schilleria war einer der wenigen Orte, wo ich alleine hingehen durfte“, sagt sie. Die Mutter ging bald selbst zum Mütterstammtisch, der hier angeboten wird, der Vater verlegte das Laminat in den Räumen. Er ist heute der erste, der zu ihnen sagt: „Geht raus und kämpft für euren Laden.“ Sourour und ihre Schwester kichern, der Vater mochte es, als die Töchter plötzlich anfingen, mit ihm über Politik zu reden. Das machte alle glücklich. Und stolz.

Mit sieben Jahren begann Sourour zu rappen, angespornt von der gebürtigen Mexikanerin und Rapperin Sinaya Sanchis, ihrer Leiterin, die den Mädchen beibringt, dass Rappen nicht allein für Jungens da ist. Sie rappte über das, was sie sah, was sie störte: Der Rassismus, den sie etwa beobachtet, ist einer von Einwohnern mit Migrationshintergrund gegenüber blonden Deutschen, vorzugsweise deutschen Mädchen. Sie sang auch darüber, wie dumm sie es findet, dass man sich als Ausländer bezeichnet, obwohl man doch in Deutschland geboren sei. Opferrollen mögen sie in der Schilleria eben nicht.

Am anderen Ende des Tisches sitzen die Schwestern Feyza und Eda, sie sind in Berlin geboren, ihre Eltern kommen aus der Türkei. Feyzas Cousinen waren auch schon in der Schilleria, auch sie wollte wie Soumaya unbedingt hierher und mogelte sich schon mit sechs Jahren herein. Eines Tages hat sie das Gefühl, dass ein Lehrer in der Schule sie ganz komisch anguckte, auch anderen Mädchen ging es so. Doch als sie das bei einer Lehrerin ansprachen und das Thema bei der Direktorin landete, reagierte die Schule mit Abwehr, drohte mit Tadeln und Verweisen. In der Schilleria wurde Feyza ernst genommen. Die Direktorin der Schule kam auf Einladung, am Ende konnte dem Lehrer zwar nichts nachgewiesen werden, aber durch den Einsatz des Schilleria-Teams sagte die Direktorin später selbst, dass sie anders hätte handeln müssen. Seitdem gibt Sinaya Sanchis an der Schule auch Kurse, etwa für Gewaltprävention.

Jede achte Wohnung überbelegt

Hier im Klub, in unmittelbarer Reichweite von drei Schulen, geht es um Bildung, Kunst, Kultur und Bewegung: Rappen, tanzen, Theaterspielen gehören zum Angebot. Genauso wie Nachhilfe, Computerschulungen, Videos drehen und Projekte entwickeln – so wie der Polittalk der Mädchen zur Bundestagswahl. Es wird gekocht und gespielt und vor allem wird offen diskutiert. Ältere und Jüngere, Erwachsene und Kinder, immer auf Augenhöhe. Fragt man die ganz jungen Mädchen, sieben bis zehn Jahre alt, die fast jeden Tag in der Woche da sind, sagen sie: „Schilleria bedeutet mir so so viel“, oder: „Ohne die Schilleria hätte ich nichts, ich bin ja Einzelkind.“ Ein sehr kleines Mädchen sagt: „Ich komme doch schon seit 1000 Jahren hierher.“

An diesem Montag wird sich die Zukunft der Schilleria entscheiden, das Wort „Runder Tisch“, das das Bezirksamt verwendet, hört der Eigentümer laut Hausverwaltung nicht gerne. Man ist verärgert darüber, dass in der Öffentlichkeit der Eindruck entsteht, dass verhandelt wird. Bis 2010 hat auch hier im Kiez die legendäre Jugendrichterin Kirsten Heisig Runde Tische organisiert, um die arabischen und türkischen Familien mit den Mitarbeitern von Polizei, Jugendamt und Quartiersmanagement zusammenzubringen.

Seit 2010 wiederum sind so viele Menschen neu in den Schillerkiez gezogen, dass sie bereits 40 Prozent aller Bewohner ausmachen. Einmal mehr brechen mühsam aufgebaute Strukturen auseinander. Mietanwalt Max Althoff, der gerade jetzt wieder „verstärkten Beratungsbedarf“ feststellt, sagt: „Das Miteinander geht verloren, das Verständnis für die Sorgen der Nachbarn. Der Zusammenhalt löst sich auf.“

Mittlerweile sei jede achte Wohnung hoffnungslos überbelegt, ist aus dem Bezirksamt zu hören, die ärmeren Familien müssen zusammenrücken.

Soumaya sagt, sie wünsche sich für jüngere Mädchen genau das, was sie auch hatte – „und zwar genau an diesem Platz“. Denn woanders, hin zur Sonnenallee oder über die Hermannstraße hinweg, dürften die Mädchen hier im Kiez ja gerade nicht gehen.

An diesem Holztisch an jenem Samstag in der Schilleria kann man betrachten, was ein kleiner Jugendklub mit hoher Empathie und großer Leidenschaft erreichen kann: Da ist also Eda, sie studiert jetzt Medieninformatik, „kriegste hin“, habe Leiterin Sinaya Sanchis zu ihr gesagt; da ist Sebahat, sie studiert Kulturwissenschaften; da ist Sourour, sie studiert Verkehrswesen und Fahrzeugtechnik und möchte Ingenieurin werden, und da ist ihre Schwester Soumaya, sie kann die Klappe aufreißen, sagt sie, und „behält gerne Recht“. Sie studiert Jura.

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