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Mehrheit ist Mehrheit. Angela Merkel erhält auf dem Bundesparteitag der CDU in Essen elf Minuten Applaus – aber gerade 89,5 Prozent der Stimmen: Nur 2004 schnitt sie noch schlechter ab.

© AFP

CDU-Parteitag: Angela Merkel, eigentlich alternativlos

Angela Merkel hat der CDU viel zugemutet. Doch der Glaube an die Kanzlerin ist ungebrochen – nur von sich selbst ist die Union nicht überzeugt.

Von Robert Birnbaum

Eigentlich wäre es jetzt praktisch, wenn sie sofort wählen lassen könnten. Nicht hier in der Essener Grugahalle – da steht der Wahlgang sowieso erst etwas später an –, nein, draußen im Land. Viel besser könnte die Lage für Angela Merkel objektiv nicht sein: Da draußen eine unruhige Welt, in der andere Völker obskure Menschen an die Macht wählen, hier im Land die Konkurrenz vollauf mit sich selbst beschäftigt... – Wenn es sich also kurzfristig einrichten ließe, die Deutschen am kommenden Sonntag zur Bundestagswahl zu rufen, die nächste Kanzlerin bliebe die alte.

Es ist aber noch fast ein Jahr. Ein Jahr, hat Armin Laschet neulich gesagt, kann sehr lang sein in der Politik.

Laschet ist im Moment in der CDU ein wichtiger Mann, weil er als CDU-Spitzenkandidat bei der Landtagswahl in Nordrhein-Westfalen im Mai die Vorlage liefern soll für die größere Schlacht im Herbst. Deshalb trifft sich der Bundesparteitag ja auch in Essen. Am Dienstag früh spaziert Merkel in rotem Blazer zum Mikrofon. „So, ich würd’ sagen – guten Morgen erst mal!“

Für die CDU-Chefin ist Essen ein Schicksalsort. Vor 16 Jahren ist sie genau in dieser Halle zum ersten Mal zur Vorsitzenden der Union gewählt worden; eine junge Hoffnungsträgerin, die die Christdemokraten aus dem Trümmerfeld führen sollte, das Helmut Kohl hinterließ. Jetzt erinnert sie beim Totengedenken an Walther Leisler-Kiep. Eine Hausdurchsuchung bei dem Ex-CDU-Schatzmeister hatte damals die Spendenaffäre ins Rollen gebracht. Sie muss aber auch an Peter Hintze erinnern, ihren Ratgeber, Netzwerker, Begleiter. „Er wird uns bei diesem Parteitag sehr fehlen“, sagt Merkel mit rauer Stimme.

16 Jahre können schon auch ziemlich lang sein. 16,5 Jahre ganz genau, sie wird das später vorrechnen.

Zu lang?

„Eigentlich“, sagt Angela Merkel. Vor einem Jahr in Karlsruhe, auf dem Höhepunkt der Flüchtlingskrise hat die CDU-Vorsitzende ihre widerstrebende Partei bei sich halten müssen: Wir schaffen das. Diesmal ist die Aufgabe womöglich noch ein bisschen komplizierter. Merkel muss die Partei von sich überzeugen – aber mehr noch die Union von der Union. Nicht, dass die Christdemokratie insgesamt verzagt durchs Land läuft. Aber was bedeutet es, wenn ein jüngerer Abgeordneter sich fragt, ob den Umfragen zu trauen ist? Die Umfragen stehen ja nicht so schlecht für die Union. Seit Merkel ihre Kanzlerkandidatur angekündigt hat, steigen sie sogar sachte an. Nur, sagt der Jüngere: „Es fühlt sich im Wahlkreis nicht wie 37 Prozent an.“

Eigentlich war 2015 ein irres Jahr

Oder was soll man davon halten, wenn ein erfahrener Parteistratege am Vorabend beim Bier in der Stadion-Arena des Traditionsvereins Rot-Weiß Essen die eigenen Truppen im ablaufenden Jahr als „zurückgezogen“ beschreibt? Etwa ein Drittel der CDU-Funktionäre habe die eigene Kanzlerin verteidigt. „Der Rest“, sagt der Mann, „war in Deckung.“

Einige waren sogar auf dem Absprung. In der Aussprache nach Merkels Rede wird ein Delegierter aus Baden-Württemberg den Mitgliedsausweis hochhalten und bekennen, dass er im zurückliegenden Jahr mehrfach kurz davor war, ihn zurückzugeben. „Ich bin mit einem ziemlichen Groll hier nach Essen gekommen“, sagt der Mann. Ein anderer Baden-Württemberger wird Merkel vorhalten, sie habe die CDU „nach links geführt“, Prinzipien über Bord geworfen und das Recht gebrochen: „Illegalität blüht!“

Eine dritte Baden-Württembergerin beschwört noch einmal den „Kontrollverlust an der Grenze“ vor Jahresfrist und fordert im Übrigen Ehrlichkeit: Bis auf die „Obergrenze“, sagt sie, habe sich die CSU und ihr Chef Horst Seehofer mit allen Anliegen durchgesetzt. Wenn man den Leitantrag durchliest, den der CDU-Vorstand am Vorabend in Sachen Abschiebung noch einmal etwas angeschärft hat, kann man dieser Feststellung schwer widersprechen.

Der Beifall für die drei Pultrebellen fällt trotzdem extrem spärlich aus. Das liegt zum Teil daran, dass die meisten Delegierten die Aussprache privat beim Mittagessen führen und der Saal also ziemlich leer ist. Zum größeren Teil liegt es an der praktischen Vernunft der Machtpartei CDU. Und ein bisschen liegt es wahrscheinlich auch an Merkel.

„Eigentlich“, sagt also Merkel. Eigentlich war 2015 ein irres Jahr, und 2016 hätte eins der Beruhigung werden können. Wurde es aber nicht. Eigentlich hätte man sich um Europas Stärkung in einer globalen Welt kümmern müssen. Stattdessen: Brexit. Eigentlich stünde die Stärkung der transatlantischen Achse und der Nato an. Stattdessen: Donald Trump. Eigentlich müsste die Welt gemeinsam die Terroristen des IS bekämpfen. Stattdessen: Aleppo.

„Viele Menschen empfinden, dass die Welt aus den Fugen geraten ist“, sagt Merkel. Es gibt also etwas zu richten. Das „eigentlich“ ist, ohne dass sie es offen so ausspricht, ihre Legitimation zu bleiben.

In besseren Tagen hätte sie sagen können, nach zwölf Jahren sei’s dann auch gut. Aber von ihrem Mann Joachim Sauer wird sinngemäß der Satz überliefert, als Erste das Kanzleramt freiwillig verlassen zu wollen, sei auch eine Form von Eitelkeit. Die Zeiten sind nicht danach, dass sich die Regierungschefin des letzten halbwegs stabilen Führungslands der westlichen Welt ins Private verabschiedet.

Und das sonstige Personalangebot der CDU ist gerade auch nicht so toll. Man kann das noch einmal schön Revue passieren lassen, weil sich Merkel bei ausnahmslos jedem ihrer Minister „herzlichst“ für deren Initiativen in den vergangenen drei Jahren bedankt, außerdem bei ihren fünf Stellvertretern, den Ministerpräsidenten nebst denen, die es in Düsseldorf und Kiel im Frühjahr werden wollen, ihrem Fraktions- und dem Kanzleramtschef sowie bei den Familienunternehmern, den Ehrenamtlern, dem Mittelstand, der Handwerk, der Polizei und den Soldaten. Noch jemand vergessen bei der Aufzählung? Ach so, ja: die Eltern, EU-Kommissar Günther Oettinger und den Fraktionschef der Konservativen im Europaparlament, Manfred Weber von der CSU.

Der Applaus bleibt bestenfalls höflich, auch für das „eigentlich“. Die erste echte Beifallswelle kommt beim Kapitel „Recht und Ordnung“. „Hier in Deutschland gelten die Gesetze unseres Landes“, ruft Merkel. „Unser Recht hat Vorrang vor Ehrenkodexen, Stammes- und Familienregeln und der Scharia.“ Und außerdem zeige man hierzulande sein Gesicht und verstecke es nicht… Das Wort „Burka“ geht im Jubel unter. Er klingt, dieser Jubel, erleichtert: Willkommen zurück.

Horst Seehofer ist nicht in Essen

Den zweiten begeisterten Zuspruch gibt’s für das Kapitel „AfD“ – die CDU-Chefin nennt den Namen der unerwünschten Konkurrenz nicht. Aber der Saal versteht, wer gemeint ist mit „einigen, die schon immer in Deutschland leben“ und auch dringend einen Integrationskurs brauchen könnten. „Da wird im Internet gehetzt“, ruft Merkel, da fielen alle Hemmungen: „Da sagen wir, da sage ich: So nicht!“ Und wer übrigens das Volk sei, „das bestimmen wir alle und nicht ein paar wenige, mögen sie auch noch so laut sein!“ Der Saal jubelt. Das klingt ja wieder mal nach Kampfgeist! Über die Sache mit der Hetze im Internet macht sich die gesamte Parteispitze übrigens im Moment viel Kopfzerbrechen. Was denn, wenn so etwas wie die Flut an falschen Nachrichten und Meinungsrobotern im US-Wahlkampf mit der üblichen Verspätung auch im alten Europa auftauchte? Die Parteien haben mittlerweile alle versprochen, dass sie auf solche Methoden verzichten. „Aber was machen wir denn, wenn jemand so einen ,social bot’ programmiert und behauptet, der sei von der CDU?“, hat neulich einer aus der Wahlkampfleitung sorgenvoll gefragt. „Ich werde nicht über jedes Stöckchen springen, das man mir im Wahlkampf hinhält“, versichert Merkel selbst.

Nun sind das sicherlich alles berechtigte Fragen. Allerdings wird man das Gefühl nicht los, dass es den Warnern insgeheim gar nicht unrecht wäre, wenn der nächste Wahlkampf von der unerwünschten Konkurrenz wirklich mit der beispiellosen Härte geführt würde, von der jetzt alle reden. Man könnte sie dann leichter als Trolle abtun. Eine AfD, die bloß das tut, was sie in den letzten erfolgreichen Wahlkämpfen getan hat – nämlich im Wesentlichen einfach da zu sein –, wäre ein viel schwierigerer Gegner.

Ach, und apropos Troll: Horst Seehofer ist bekanntlich nicht in Essen. Dafür werden seine Gesandten – die CSU-Landesgruppenchefin Gerda Hasselfeldt und der Generalsekretär Andreas Scheuer – umso herzlicher begrüßt. Am Montag hat Seehofer in München einen Vorstandsbeschluss zum Reizthema „Obergrenze“ kurzfristig verschoben. Vorangegangen waren einige sehr deutliche Worte von Wolfgang Schäuble. Das Grundrecht auf Asyl, hat der Jurist Schäuble den Erfahrungsjuristen Seehofer per Interview belehrt, kenne keine „Obergrenze“.

Auf gut Deutsch hieß das: Wir kommen dir schon an allen möglichen Stellen entgegen, aber treib’ es nicht auf die Spitze. Merkel sagt zum Thema, CDU und CSU seien die einzige politische Kraft der Mitte und müssten „geschlossen und gemeinsam“ bleiben. Unterschiedliche Meinungen, findet die CDU-Chefin, sollten einfach mal nebeneinander stehen. Zumindest an dem Punkt scheint in der CDU Einigkeit; selbst von den Kritikern am Pult gibt nur einer Seehofer Recht.

Am Nachmittag legt sich Schweigen über den Saal

So weit, so gut. Merkel führt dann noch länger aus, was sie als konkrete Zukunftsaufgaben sieht, wobei die „Neuland“-Novizin die rasende Entwicklung der digitalen Welt mit ihren umstürzenden Folgen für Arbeit, Freizeit und den Rest des Lebens erkennbar besonders fasziniert und interessiert. Den Parteitag treibt das nicht ganz so um. Er wartet sowieso noch auf etwas anderes. Und er bekommt etwas.

Sie habe ihnen einiges zugemutet, sagt die CDU-Chefin, „weil die Zeiten uns einiges zugemutet haben“. Sie könne auch nicht versprechen, dass es nie mehr Zumutungen geben werde. Als sie monatelang über ihre Kandidatur nachgedacht habe, da hätten ihr viele gesagt: Du musst! Du musst! Du musst! „Das hat mich sehr berührt – das Gegenteil wär’ ja auch nicht schön gewesen.“ Der Saal kichert. „Aber ihr müsst mir helfen!“

Am Nachmittag legt sich Schweigen über den Saal. Die Stimmen zur Wahl der Parteivorsitzenden sind ausgezählt, Laschet verliest das Ergebnis: 949 Stimmen sind abgegeben, das ist fast der komplette Parteitag. Eine ungültig, vier Enthaltungen. „Für Frau Dr. Angela Merkel abgegeben wurden 845 Stimmen, das sind 89,5 Prozent.“

Durch den Saal geht ein Raunen. Merkel hat schon einen Rosenstrauß in der Hand, geht ans Pult. Nach ihrer Rede hatte der Parteitag einen Beifallsmarathon absolviert; die Chefin musste mit energischen Gesten ein Ende setzen. So können elf Minuten täuschen; 89,5 Prozent sind ihr zweitschlechtester Wert, 2004 bekam sie mal 88,4 Prozent. Ein „ehrliches Ergebnis“ hatte sie sich gewünscht. Das hat sie nun. „Ich nehme die Wahl an“, sagt Merkel, „und bedanke mich für das Vertrauen.“

Schließlich, Mehrheit ist Mehrheit. Und eigentlich, um das Leitwort des Tages noch einmal zu bemühen, eigentlich wäre jedes andere Ergebnis ja auch wirklich gelogen gewesen nach so einem Jahr. Und außerdem – wie hat der ältere Delegierte aus Baden-Württemberg vorhin gesagt, nachdem er Merkels gesamtes Sündenregister aus altkonservativer Sicht von der Flüchtlingskrise bis zum aufgedrängten Bundespräsidentenkandidaten Frank- Walter Steinmeier von der SPD heruntergebetet hat? Hat er gefordert: Merkel muss weg? Hat er nicht.

„Für ihre vierte Amtszeit“, sprach der Rebell, „wünsche ich Ihnen viel Kraft.“

In einer früheren Version dieses Textes hieß es, Angela Merkel habe ihrer Partei die "Homo-Ehe zugemutet". Das ist nicht richtig. Die gleichgeschlechtliche Ehe ist Paaren in Deutschland immer noch verwehrt. Wir bitten für den Fehler um Entschuldigung.

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