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Nicht nur die AKP-Anhänger, auch die Opposition geht in Istanbul auf die Straße, um gegen die Gülen-Bewegung zu demonstrieren. Ein Drittel aller Türken glaubt, dass sie für den Putsch verantwortlich ist.

© AFP

Erdogans vertrauter Feind: Wie die Gülen-Bewegung vom Peiniger zum Gejagten wurde

Mehmet Koç wurde gefoltert und erniedrigt - von Anhängern des Predigers Fetullah Gülen. Seit dem Putschversuch geht die Regierung gegen die Bewegung vor.

Kein Schlaf, kein Essen, manchmal nicht einmal Wasser. Mehmet Koç ist im Jahr 2009 noch Kadett an der Militärakademie in Ankara. Die Ausbilder lassen ihn auf dem Boden über den rauen Asphalt kriechen, seine Unterarme und Beine sind blutig, bekommen keine Zeit zu heilen.

Vielen anderen Kadetten seines Jahrgangs ergeht es nicht besser. Eines Tages werfen ihre Vorgesetzten sie in Mülltonnen, beschimpfen sie als Dreck, der es nicht wert sei, ein Offizier der türkischen Armee zu werden. In drei Wochen verliert Koç neun Kilogramm. Am 20. Tag bricht er die Ausbildung ab.

So erzählt es Mehmet Koç fast sieben Jahre später in einem Istanbuler Café. Der militärische Drill ist ihm noch anzusehen, er drückt den Rücken durch, das weiße Hemd sitzt trotz der schwülen Abendhitze tadellos, selbst sein Haarschnitt verrät noch den ehemaligen Militärschüler. Er ist hier, weil er nun – mittlerweile Mitte zwanzig und Rechtsanwalt – offen sprechen kann über jene, die ihm und vielen anderen Mitschülern das damals angetan haben: „die Gülenisten“. So nennt man in der Türkei die Anhänger von Fethullah Gülen, einem islamischen Prediger, der seit einigen Jahren im Exil in den USA lebt und ein weltweites Netzwerk unterhält.

Die Wut von einst ist Koç geblieben, auch wenn sich sonst vieles geändert hat im Land. Die Peiniger von früher sind längst selbst zu Gejagten geworden.

Im Café, in dem Koç sitzt, kann man laute Musik vom nahegelegenen Taksim-Platz herüberdriften hören. Seit einem Monat halten dort Putschgegner – viele von ihnen auch leidenschaftliche Unterstützer des Präsidenten Recep Tayyip Erdogan – sogenannte „Demokratie-Wachten“ ab. Sie feiern die Niederschlagung des Putschversuches vom 15. Juli. Mindestens 260 Menschen wurden dabei getötet, mehr als 2.000 verletzt. Kampfflieger bombardierten ein Polizeihauptquartier und das Parlamentsgebäude in Ankara. Soldaten schossen auf Zivilisten. Der Schock sitzt immer noch tief. Erdogan und die AKP-Regierung präsentierten schon bald einen Schuldigen. Fetullah Gülen sei der Drahtzieher gewesen – ehemals ein enger Verbündeter von Erdogan.

Auf der Militärschule terrorisieren sie ihn: die Gülen-Anhänger

Wer verstehen will, was da gerade in der Türkei passiert, muss zurückschauen zum Beginn dieser Freundschaft. Mehmet Koç bekam die Folgen am eigenen Leib zu spüren. Es war während des letzten Schuljahres am Militärgymnasium in Bursa, als er merkte, dass sich gewisse Dinge in der türkischen Armee zu verändern begannen. Damals, 2008, wurden die Verwaltung und Leitung der Schule an die Luftwaffe übergeben, und die neuen Kommandanten und Lehrer schienen anderen Regeln zu folgen als die Lehrer der Bodentruppen zuvor. Die Neuen seien eindeutig darauf aus gewesen, das altehrwürdige Gymnasium in ihrem Sinne komplett umzukrempeln, sagt Koç.

Ex-Freund des Staatschefs. Prediger Fetullah Gülen galt lange als Erdogans Verbündeter.
Ex-Freund des Staatschefs. Prediger Fetullah Gülen galt lange als Erdogans Verbündeter.

© dpa

„Vor der Übernahme des Gymnasiums war ich ein erfolgreicher Schüler, hatte gute Noten, kam mit meinen Lehrern ausgezeichnet zurecht“, sagt er. „Aber ich merkte, dass die neuen Kommandanten einer anderen Hierarchie gehorchten.“ Sie hätten die Schüler in Gruppen eingeteilt. Getrennt nach Schülern, die sie mochten und solchen, die sie loswerden wollten.

Sein einziges Vergehen sei gewesen, dass er sich ein Buch aus der schuleigenen Bibliothek ausgeliehen hatte. Bei den neuen Kommandeuren galt er seither als säkular, nicht geeignet für die islamistische Gülen-Bewegung. Er machte trotzdem seinen Abschluss, doch sie hätten alles daran gesetzt, ihn von der Schule zu schmeißen. Mehmet Koç verstand nur nicht, warum. „Damals“, sagt er, „wusste ich noch nicht, wer die Gülenisten waren.“

Die Gülen-Bewegung gibt es seit 45 Jahren. Doch ihre Macht konnte sie mithilfe Erdogans vor allem in den vergangenen zehn Jahren ausbauen.

Fethullah Gülen, mittlerweile 75, floh Ende der neunziger Jahre ins Exil nach Pennsylvania, um einer möglichen Anklage türkischer Staatsanwälte zu entkommen. Sie beschuldigten ihn, einen islamistischen Umsturz in der Türkei vorzubereiten. Von Amerika aus leitet er eine Bewegung von Millionen von Anhängern, die in mehr als 140 Ländern in aller Welt – auch in Deutschland – Schulen, Krankenhäuser, Hilfsorganisationen, Medienunternehmen und sogar eine Bank betreiben.

Nach dem Wahlsieg der AKP 2002 gingen Erdogan und der islamistische Prediger eine gut funktionierende Zweckgemeinschaft ein: Gülen sorgte für Wählerstimmen, im Gegenzug schützte Erdogan das ständig wachsende Netzwerk des Klerikers im türkischen Staatsapparat. Doch als sich Erdogan ein Jahr später im Zentrum eines Korruptionsskandals wiederfand, für den er Gülen verantwortlich machte, schlug die Freundschaft in offene Feindschaft um.

"Sie haben Teile der Armee hinter sich - und wollen diese Macht nun nutzen"

Mehmet Koç sagt, der Putschversuch habe ihn nicht überrascht. „Als ich die Panzer auf die Straße rollen sah, am Abend des 15. Juli, habe ich sofort gedacht: Dahinter stecken die Gülenisten. Sie haben große Teile der Armee in der Hand und wollen von ihrer Macht jetzt Gebrauch machen.“

Seit jener Freitagnacht hat die türkische Regierung mit einer gnadenlosen „Säuberungsaktion“ staatlicher Institutionen begonnen. Zehntausende Militärs, Polizeibeamte, Richter, Staatsanwälte, Lehrer und andere Staatsdiener, denen eine Verbindung zur Gülen-Bewegung vorgeworfen wird, wurden verhaftet oder entlassen. Tausende Schulen, Medienunternehmen und andere private Firmen wurden per Dekret geschlossen. Dutzende Journalisten befinden sich in Untersuchungshaft, auch ihnen wird Beihilfe zum Putsch vorgeworfen.

Die Gülenisten hatten sich tatsächlich überall im Staatsapparat festgesetzt – und zahllose Karrieren zerstört. Auch seine: Tamer Akgökçe, seit 30 Jahren als Richter in Istanbul tätig und Vorstandsmitglied der Richter- und Staatsanwaltschaftsgewerkschaft YARSAV. Akgökçe, ein ernsthafter Mann um die 50, sitzt in einem unscheinbaren Restaurant in Kadiköy, im asiatischen Teil der Stadt, und ist stolz darauf, dass er sich nicht einmal zu einem Kaffee einladen lässt – er sei absolut unbestechlich.

Große Probleme mit der Unabhängigkeit von Richtern und Staatsanwälten, die hätte es auch schon immer gegeben. Aber so schlimm wie jüngster Zeit? Akgökçe, der betont, nur im Namen der Gewerkschaft und nicht für sich selbst zu sprechen, sagt: „Das Justizsystem in der Türkei ist außer Betrieb. Die Gülenisten haben es fast vollkommen zerstört, und jetzt versetzt ihm die Regierung den Todesstoß.“

Er weiß, was es heißt, der Gülen-Bewegung im Weg zu sein. Trotz seiner Erfahrung sitzt er immer noch einem minderen Strafgericht vor. Akgökçe sagt, dass er damit noch Glück habe. „Viele Richter und Staatsanwälte, die ihnen im Weg waren, wurden aufgrund erfundener Disziplinarstrafen entlassen oder an entfernte Orte strafversetzt. Daran sind Ehen und Familien zerbrochen.“ Und niemand unternahm etwas. Im Gegenteil. „Die Gülenisten haben den Justizapparat mit der Hilfe und vollen Unterstützung der AKP-Regierung übernommen“, sagt Akgökçe.

Das Plan ging zunächst für beide auf. „Mit Hilfe der Gülenisten in den hohen Gerichten konnte die AKP alle Gesetze und Gesetzesreformen verabschieden, die sie wollten und brauchten.“ Und politische Gegner mundtot machen. Die „Säuberungen“, die nun unter Erdogan angeordnet wurden, verfolgen offenbar das gleiche Ziel. Laut der türkischen Cumhuriyet wurden seit dem 15. Juli insgesamt 2331 Richter und Staatsanwälte verhaftet.

Sein Handy klingelt. Er spricht leise, nickt ein paar Mal, legt wieder auf. „Sie haben eine Kollegin, eine Richterin, gerade aus der Untersuchungshaft entlassen“, sagt er zufrieden. „Ihr Mann sitzt noch im Gefängnis, aber beide haben nie mit Gülen sympathisiert. Es ist unglaublich. Sie machen jetzt genau das, was die Gülen-Bewegung jahrelang mit ihren Gegnern gemacht hat.“ Ungesetzlich sei das, vielfach gebe es keinerlei Beweise und die meisten angeblichen Putschisten seien nicht einmal Anhänger Gülens.

„Was wir hier beobachten, ist der Kampf zweier Gruppen um die Macht im Land, und keine von beiden schert sich um Recht und Gesetz.“ Die Hoffnung auf eine demokratischere Türkei hat der Richter verloren. Selbst Akgökçes Gewerkschaft YARSAV, die sich jahrelang gegen die Gülenisten engagierte, wurde per Dekret von der Regierung jetzt einfach geschlossen. „Die Regierung mag uns nicht und hat die Gelegenheit beim Schopfe gefasst“, sagt Akgökçe. Gewerkschaftsmitglieder und Unterstützer protestierten, doch ohne Erfolg. Aufgrund des Ausnahmezustands in der Türkei sind alle Beschlüsse der Regierung von Berufung ausgeschlossen.

AKP, Kemalisten, Kurden und Nationalisten sind gleichermaßen gegen Gülen

Fetullah Gülen selbst weist die Putschvorwürfe entrüstet zurück. Überhaupt sehen viele Politiker westlicher Regierungen die Anschuldigungen aus Ankara gegen den Prediger skeptisch, fordern Beweise für seine Schuld. In der Türkei wiederum herrscht Frustration darüber, dass sich die Verbündeten im Ausland so hartnäckig weigern, die Bedrohung durch die Gülen-Bewegung ernst zu nehmen – nicht nur bei der AKP. Linke, Kemalisten, Kurden und Nationalisten werfen Gülen schon lange unlautere Machenschaften vor, und nur wenige zweifeln daran, dass der Prediger zumindest als Komplize hinter dem Putschversuch steckt. Laut neuerer Umfragen sind mehr als zwei Drittel der Türken von seiner Schuld überzeugt.

In der Türkei ist der Einfluss der Gülen-Bewegung vor allem in der Justiz und bei den Sicherheitsbehörden schon lange bekannt. Doch so lange Erdogan und Gülen noch enge Partner waren, wurde jeder Versuch, die Gefahr öffentlich zu machen, sofort bestraft. Der Journalist Ahmet Eak saß deswegen mehr als ein Jahr im Gefängnis, und sein Buch über den Einfluss der Bewegung innerhalb der türkischen Polizei wurde 2011 konfisziert. Eak, Mitte 40 und eine Koryphäe des investigativen Journalismus, hat sich schon lange mit der Gülen-Bewegung beschäftigt. Das hätte er jetzt alles schon so oft erzählt, sagt er lächelnd. Aber gut, er kann es auch noch einmal erklären.

Im August hat sich Erdogan nun zum ersten Mal öffentlich dafür entschuldigt, die Absichten der Gülenisten nicht rechtzeitig erkannt zu haben. „Ich bin enttäuscht, dass das wahre Gesicht dieser Verräter nicht früher entlarvt wurde“, sagte er während einer Sitzung des religiösen Rates in Ankara.

"Gülen und Erdogan müssen gemeinsam vor Gericht gestellt werden"

Ahmet Eak ist das nicht genug. „Was wir jetzt brauchen, sind keine Entschuldigungen, sondern eine ehrliche Aufarbeitung.“ Unabhängige Gerichte müssten die Untersuchungen leiten, fordert er. „Und ich bin der Meinung, dass Fethullah Gülen und Recep Tayyip Erdogan gemeinsam für die Gründung und Leitung einer kriminellen Organisation vor Gericht gestellt werden müssen.“

Seit Erdogan und Gülen zu Feinden geworden sind, sieht auch Mehmet Koç eine Chance für Wiedergutmachung. Von den 470 Kadetten, die damals mit ihm zusammen an der Militärakademie ihr Studium begannen, waren am Ende der 42-tägigen Orientierungsphase nur noch 250 übrig. Seine Mutter habe geweint, als sie Koç wiedergesehen habe, so abgemagert und verstört.

Einige seiner Freunde, sagt Koç, würden noch immer psychotherapeutisch behandelt, er selbst leide an Albträumen.

Die Entscheidung, dem Druck der Gülenisten nachzugeben, hatte auch Folgen für seine Familie. Wer das vom Staat finanzierte Studium vor der Qualifizierung zum Offizier abbricht, muss hohe Strafen zahlen. „Mein Vater war ein einfacher Arbeiter, er musste sein Auto verkaufen, und hat die geforderten 56.000 Lira über Jahre abbezahlt.“ Das entspricht fast 17 000 Euro. „Manche Familien wurden so von den Gülenisten in den Ruin getrieben, andere überwarfen sich für immer mit ihren Kindern“, sagt Koç.

Er und andere Kadetten gründeten deshalb 2009 einen Verein, der denjenigen, die damals aus ihren Schulen gemobbt wurden, doch noch eine Offizierslaufbahn ermöglichen will. Heute ist Koç nicht nur sauer auf die Gülenisten, sondern auch auf die Regierung: „Sie sollten sich nicht nur entschuldigen, sondern Entschädigung zahlen und diejenigen, die wollen, an die Akademie zurückkehren lassen.“

Mehmet Koç hat sichtlich Mühe, ruhig zu bleiben. „Die Armeeführung, das Parlament, sie alle haben ihre Augen vor dem Problem verschlossen“, sagt er und seine Stimme zittert für einen Moment ganz leicht. „Sie haben unsere Bitten und Warnungen ignoriert.“

Bis es zu spät war.

Constanze Letsch

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