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Ihr Vater war hier Apotheker, ihr Großvater auch: Sabine Göhr-Rosenthal.

© Kitty Kleist-Heinrich

Gentrifizierung in Berlin: Eine Neuköllner Apotheke muss schließen - nach mehr als 100 Jahren

Sabine Göhr-Rosenthals Apotheke in Neukölln wurde gegründet, da gab es den Kaiser noch. Dann kam ein Brief – und mit ihm das jähe Ende einer Familiengeschichte.

Aufgeregt. Angespannt. So viele Gedanken. So viele Gefühle. Einen Kaffee – mehr kriegt sie an diesem Morgen nicht runter. Im Auto, auf der Fahrt von Lankwitz rauf nach Neukölln, wird ihr klar: „Das ist das letzte Mal, dass du diesen Weg nimmst. Nach heute wird dein Leben ein anderes sein.“ Im nächsten Gedanken schimpft sie mit sich: „Sei nicht so dramatisch. Du bist nichts weiter als eine kleine Apothekenleiterin.“ Aber dann denkt sie an die Kunden, die sich in den letzten Wochen von ihr verabschiedet haben, an die Blumen und Tränen: „Vielleicht habe ich ja doch etwas bewegt.“

Dr. Sabine Göhr-Rosenthal ist Apothekerin in Berlin, ihr Vater war hier Apotheker, ihr Großvater auch und an diesem Tag macht sie Schluss. Einmal noch das Licht anmachen. Einmal noch die Tür aufschließen. Einmal noch die Kunden beraten. Die eine alte Frau mit dem Schilddrüsenkrebs. Die andere alte Frau, deren Mann gerade stirbt. Der junge Mann mit dem entzündeten Zahnfleisch.

Kunden, die seit 20, 30 Jahren in diese eine Apotheke kommen. Einmal noch sagen: „Wenn Sie so lange schon Kopfschmerzen haben, müssen Sie mal was anderes machen, als Aspirin schlucken. Das liegt tiefer.“ Einmal noch spüren, wie es ist, zu helfen und gebraucht zu werden. Doch anscheinend braucht es jemanden wie Dr. Sabine Göhr-Rosenthal nicht mehr.

„Gerne wäre ich hiergeblieben. Auf der Karl-Marx-Straße in Neukölln. In diesem bunten, multikulturellen Durcheinander. Mit meiner deutschen Art.“ In diesen Sätzen steckt Schmerz. Schmerz darüber, dass sie, ihre alte Apotheke, ihre Familiengeschichte hier keinen Platz mehr haben sollen. Beständigkeit. Vertrauen. Dass man sich kennt. Dass man nach der Familie fragen kann. Dass man um die Krankheit und den Hintergrund weiß und nicht erst im Computer nachschauen muss. Das geht auch im rauen Neukölln

Nicht gleichgültig sein. Für sie bedeutet das, sich auch mit den Heroin-Abhängigen zu unterhalten. Jeden Tag kommen sie und kaufen sich Spritzen. Die Apotheke nimmt 25 Cent für den Zwei-Milliliter-Zylinder plus 25 Cent für die Kanüle. „Ich brauche das nicht. Es stört auch das Geschäft. Die Kunden fühlen sich unwohl. Die Junkies drängeln und werden unhöflich, wenn sie Druck haben.

Aber besser, ich verkaufe ihnen die Spritzen, als wenn sie gebrauchte nehmen“, erklärt Göhr-Rosenthal sich. Und wenn sie Zeit hat, fragt sie sie nach dem „Warum“ und hört sich ihre Lebensgeschichten an.

Alt gegen neu

Eine Apotheke macht zu. Doch warum? Und ist das überhaupt schlimm? Ist doch nur eine von 19.880 in Deutschland. Und eine Ecke weiter gibt’s ja schon die nächste. Will man diese Fragen beantworten, merkt man, dass es hier um viel mehr geht als um das Ende eines kleinen Einzelhandelsbetriebs. Es geht um alt gegen neu, um fressen oder gefressen werden, um flächendeckende und offenkundig unausweichliche Mieterhöhungen, um Gesundheitspolitik und das Füreinander-Dasein.

All das lässt sich verhandeln in dieser kleinen Apotheke mit ihren 56 Quadratmetern Ladenfläche, zwischen Hustensaft, Aspirin, Schwangerschaftstests und Fieberthermometern. Ein Winzling im Vergleich zu den Discounter-Apotheken oder den Online-Versand-Apotheken aus dem Ausland, die mit Prozenten, Sparsets und Erotikartikeln locken.

Wo beginnen? Am Ende oder am Anfang? Das Ende ist ein Schreiben des neuen Vermieters. Ein Geschäftsmann. Einer, der in den letzten Jahren mehrere Häuser bei Zwangsversteigerungen gekauft hat. Einer, über den man nicht viel Gutes hört. Datum des Schreibens: 7. Dezember 2016. Darin die höfliche Anrede, ein paar Floskeln, dann die Mieterhöhung. Zweieinhalbmal mehr. Tausende Euro mehr. Plus drei Prozent höhere Staffelmiete pro Jahr.

Ob kleine Geschäfte, Lokale oder soziale Einrichtungen, wer die teuren Mieten nicht zahlen kann, ist raus. Zack und weg. Es wird schon jemanden geben, der sich das leisten kann. „Das kann ich nicht tragen, das wirft die Apotheke nicht ab. All das andere habe ich wegstecken können. Doch das war für mich der Schlusspunkt“, sagt die Apothekerin. Sie erinnert sich an den Schock, als sie den Brief aufmachte. Wie sie an ihre Kunden, ihre Mitarbeiter dachte, an ihren Vater und Großvater, die alles aufgebaut hatten. Sie antwortete der neuen Hausverwaltung und erklärte ihre Situation und appellierte, dass hier einfach nicht mehr zu holen ist, dass das ein Qualitätsgeschäft ist, etwas Solides, das bleiben würde. Eine Antwort blieb aus. Monatelang.

Der Anfang liegt um 1900. Eine Apotheke macht auf. Am Hohenzollern-Platz in Rixdorf. Es gab noch einen Kaiser und das Aspirin wurde gerade erfunden. Salben, Säfte, Medikamente, alles mussten die Apotheker selber machen. Die Zutaten lagerten in großen, schweren Flaschen. Messen. Rühren. Abfüllen. Dabei entstanden auch eigene Kreationen: „Bittere Tropfen“ gegen verdorbenen Magen.

Überall große, alte Zinnfiguren

1945 ausgebombt, als Notapotheke wieder aufgemacht. Zu dieser Zeit kam der Großvater mit seiner Familie nach Berlin, als Flüchtling aus Schlesien. Er pachtete die Apotheke, zog mit ihr einen Steinwurf weiter in die Karl-Marx-Straße. Hier beginnt sie: die Familiengeschichte. Das Erbe. Die Beständigkeit. Ein Geschäft, in der Hand einer Familie, seit 70 Jahren an einem Ort. Alles Dinge, die in Berlin immer seltener werden. Eine Stadt, in der sich ein Drittel der Bevölkerung in den vergangenen 20 Jahren ausgetauscht hat.

Hier beginnt die Geschichte von Sabine Göhr-Rosenthal. Ihr Vater kommt aus der Kriegsgefangenschaft zurück. Studiert. Übernimmt und wird mit 30 Jahren jüngster Apothekenleiter Berlins. Nach der Schule geht sie zu ihm ins Geschäft, beobachtet, wie er im Labor mischt und prüft. Wie er hinter dem Tresen steht und die Kunden berät. War beeindruckt. Es waren treue Kunden und treue Angestellte. Wie eine große Familie. „Das hat mich geprägt“, sagt sie.

Geht man heute durch diese Apotheke, schaut man auf die alten Fotos, aufgereiht zu einer Zeitreise, bis zurück, als noch Pferdekutschen fuhren. Überall stehen große, alte Zinnfiguren, die der Vater gesammelt hat. Überall diese Hinweise auf die Vergangenheit, auf die Wurzeln dieser Apotheke, die seit dem Tod des Vaters zu Sabine Göhr-Rosenthals Apotheke geworden ist.

Ein Mann betritt den Laden. Halblange Haare. Brille. Rundlich. Bertram Weise, ein Neuköllner Künstler, Scherenschnitt ist seine Spezialität. Seit sechs Jahren kommt er hierher, vertraut der Apothekerin, mag ihre Herzlichkeit, die Beratung. Dass sie nun gehen muss, macht ihn nachdenklich. Er wohnt nur ein paar Häuser weiter. Sein Atelier musste er schon einer Edelsanierung wegen verlassen. Für seine Wohnung befürchtet er das Schlimmste. „Ich schaue mich um. Aber im Umland.“

Eine Frau. Sie bringt Blumen und einen Kuchen. Schilddrüsenkrebs hat sie. Ein letztes Mal Medikamente abholen. Fühlt sich hier wohl, angenommen und aufgehoben. Sabine Göhr-Rosenthal begleitet sie noch zur Tür, gibt ihr letzte Ratschläge: „Immer in Bewegung bleiben. Sie haben schon so viel geschafft. Nicht aufgeben.“

„Wo soll ich denn hin, wenn Sie zumachen?“

Eine alte Frau erklimmt die zwei Stufen. Sabine Göhr-Rosenthal kommt ihr entgegen, hakt sich unter und führt sie zu einem Stuhl. Ein Rezept. 7,80 Euro. „Alles gut?“, fragt die Apothekerin. „Alles in Butter, Frau Luther“, antwortet die Frau. Dann erzählt sie. Dass sie gerade viel ins Krankenhaus muss. Dass sie eine Freundin hat, die sie begleitet, der sie aber 100 Euro pro Besuch bezahlt. „Das ist doch keine Freundin. So viel Geld. Das geht doch nicht.“ – „Ach, die hat doch so wenig. Da gebe ich ihr gerne was.“ Seit 40 Jahren kommt die Frau in diese Apotheke. „Wo soll ich denn hin, wenn Sie zumachen?“, fragt sie noch.

So geht das Stunde um Stunde. Leute kommen, verabschieden sich, bringen Kuchen und Blumen, schreiben in das Gästebuch. Immer wieder sagt Sabine Göhr-Rosenthal dieselben Sätze: „Das ist mir nicht leichtgefallen. Aber nun geht es nicht mehr. Die Miete. Nein, eine neue Apotheke mache ich nicht mehr auf. Machen Sie sich um mich keine Sorgen. Ich sortiere mich und schaue nach vorne.“

Geht nicht, gibt’s eigentlich nicht, sagt sie. Pharmaziestudium, zehn Jahre bei Schering in der Forschung gearbeitet. Doktortitel. 17 Jahre eine Apotheke geleitet. Fünf Angestellte. War Vize-Präsidentin der Apothekerkammer Berlin. Eigentlich war es immer sie, die bestimmt hat, in welche Richtung ihr Leben geht.

Doch manchmal gibt es Situationen, da kann man nichts machen. Da ist man ein kleines mittelständisches Unternehmen im Kampf gegen alle. Erst flohen die Fachärzte aus der Karl-Marx-Straße. In anderen Bezirken kann man mehr Geld verdienen. Ein Frauenarzt zum Beispiel. Als der wegging, gab es kaum noch Rezepte für die Antibabypille. Dann wechselte ein Hautarzt den Bezirk. Es hörte gar nicht mehr auf. Noch heute ist Neukölln mit Fachärzten unterversorgt.

Noch etwas verändert sich. Kunden lassen sich beraten und gehen wieder, um alles erst mal online zu überprüfen oder gleich online zu bestellen. Oder sie fragen automatisch nach dem billigeren Produkt. „Dieses Misstrauen verletzt mich. Mein Ratschlag wird in die Profitgier-Ecke gestellt. Klar bin ich auch eine Geschäftsfrau. Aber ich würde niemandem etwas aufschwatzen.

Mein Votum: Medikamente können nur eine Krücke sein. Der Grund für viele Krankheiten liegt tiefer. Je weniger Medikamente, desto besser“, sagt Sabine Göhr-Rosenthal.

Wer wird sich Berlin noch leisten können?

Mit ihren Sorgen ist sie nicht alleine. Immer mehr Apotheken leben von ihrer Substanz. Auf dem Land, in der Stadt, es sind vor allem die Kleinen, die nicht mehr mithalten können. Für sie kann jede kleine Erschütterung das Aus bedeuten. Mit seinen aktuell 19.880 Apotheken hat Deutschland 1239 weniger als noch zur Jahrtausendwende.

In Berlin gibt es 854 Apotheken. 27 weniger als 2012 bei einem gleichzeitigen Bevölkerungswachstum von mehr als 200.000 Menschen. 40 Prozent der deutschen Apotheken werden in den nächsten Jahren schließen, das sei „mittelfristig wahrscheinlich“, wie es in einem noch unveröffentlichten Gutachten des Bundeswirtschaftsministeriums heißt. Schon jetzt kämpfen 13 Prozent der Apotheker ums Überleben. Sie kommen, so Gutachten, auf einen Unternehmensgewinn von unter 30.000 Euro. Vor Steuern. Der Gewinn der großen Apotheken liegt dagegen bei jährlich mehr als 149.000 Euro.

Nicht nur für die Apothekerin ist heute Schluss. Auch für die Angestellten. Fünf sind es. Eine von ihnen ist Rabia Eris, 34 Jahre alt. Vor Jahren suchte sie einen Praktikumsplatz für ihre Ausbildung. 60 Bewerbungen. Aber keiner wollte sie. „Manche haben es mir ganz offen gesagt: Sie sind kompetent, aber Ihr Kopftuch geht nicht“, erzählt sie. Doch Göhr-Rosenthal hat ihre Zeugnisse gesehen, war von ihrem Können überzeugt. Auch eine Apothekerin aus Syrien hilft aus. Nun stehen die sechs Frauen noch einmal zusammen, umarmen sich, nur noch wenige Minuten, dann ist Schluss.

Göhr-Rosenthal tritt vor die Apotheke, sieht auf die Dauerbaustelle, die da seit sieben Jahren auf der Karl-Marx-Straße wütet. Dreck, Lärm, keine Parkplätze, keine Möglichkeit, die Straße zu überqueren: „Das sind 30 Prozent meines Umsatzes, die dadurch weggefallen sind.“ Facharztmangel, Online-Handel, Baustelle. All das hätte sie aufgefangen. Mit Kraft, mit Anstrengung, mit ihrer Art. Doch dann kam der neue Vermieter, mit ihm die neue Miete und das war’s.

Dies ist eine Geschichte über eine kleine Apotheke, die schließen muss. Es ist aber auch eine Geschichte über ein Berlin, das dabei ist, sich gegen seine Bewohner zu richten. Hier an der Karl-Marx-Straße trifft es die Alten, Kranken und Schwachen. Es trifft inzwischen auch den Mittelstand. Wer wird sich Berlin noch leisten können? Und wie wird dieses Berlin dann aussehen?

Es ist 19.30 Uhr. Die Tür gleitet zu. Der letzte Kunde ist raus. Der 30. November 2017 war der Tag, an dem eine Apotheke wie die von Sabine Göhr-Rosenthal nicht mehr gebraucht wurde. Hinter der Glastür winkt sie noch einmal zum Abschied.

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