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Zwei Prozent ihres Umsatzes erwirtschaftet die Berliner Charité mit der Behandlung ausländischer Patienten.

© IMAGO

Geschäft mit internationalen Patienten: Letzte Rettung Deutschland

Sie hat Glück gehabt: Als die zweijährige Alisa schwer erkrankte, brachte sie ihre Familie aus Russland zur Berliner Charité. Dort konnte ihr geholfen werden. Und sie hat noch einmal Glück gehabt. Weil sie nicht – wie andere – von Ärzten und Vermittlern ausgenutzt wurde, die sich am Krankentourismus bereichern.

Die zweijährige Alisa schrie vor Schmerzen, als ihre Mutter sie Anfang Januar in die Charité brachte. Ihr Gesicht war aufgedunsen, auch ihre Organe waren angeschwollen. Schon seit dem Spätsommer ging es dem russischen Mädchen schlecht. Die Ärzte in Moskau hatten eine schwere Nierendysfunktion diagnostiziert. Helfen konnten sie nicht, sie fanden nicht die richtigen Medikamente. Stattdessen rieten sie der Mutter, in ein deutsches Krankenhaus zu gehen.

An der Charité wussten die Ärzte Rat. Jetzt fliegen Mutter und Tochter bald wieder nach Hause. Das Kind hat keine Schmerzen mehr und kann – erst einmal – ein normales Leben führen.

Die Geschichte von Alisa hat ein Happy End. Doch an mehreren Stellen hätte sie anders verlaufen – und böse enden – können.

Denn Deutschland ist nicht nur ein Land mit hervorragender medizinischer Versorgung, ein Paradies für schwer kranke Patienten aus Ländern wie Russland oder Libyen, wo Geräte und Methoden oft veraltet sind und Ärzte fehlen. Deutschland ist auch ein Land, in dem das Geschäft mit internationalen Patienten nicht genau geregelt ist und noch weniger kontrolliert wird. Wo Patienten aus dem Ausland manchmal einen Albtraum erleben können, weil sogenannte Betreuer, aber auch Ärzte die Verzweiflung der Kranken ausnutzen. Wo manche Kliniken illegalerweise Provisionen für die Vermittlung zahlen und diese auf die Rechnung der Patienten aufschlagen. Wo mancher Betreuer und mancher Arzt viel zu hohe Honorare kassiert.

Eine Milliarde Euro Umsatz pro Jahr

Das Geschäft mit internationalen Patienten floriert weltweit. Hunderttausende Menschen lassen sich jedes Jahr fern von ihren Heimatländern behandeln. In Deutschland machen Kliniken und niedergelassene Ärzte mit dem Medizintourismus etwa eine Milliarde Euro Umsatz pro Jahr, so die Zahlen des statistischen Bundesamts aus dem Jahr 2011. Fast 83 000 ausländische Patienten wurden in der Bundesrepublik stationär behandelt, etwa 123 000 ambulant. In Berlin suchten im vergangenen Jahr fast 10 000 ausländische Patienten Hilfe.

Die meisten davon kommen wie Alisa aus Russland. Etwa 6000 wurden im Jahr 2011 stationär in deutschen Kliniken aufgenommen. Der russische Generalkonsul in Deutschland prognostiziert, dass die Zahl der russischen Patienten in den nächsten Jahren noch massiv steigen wird. In Meinungsumfragen geben zwei Drittel der Russen an, sie seien mit der medizinischen Versorgung in ihrem Land unzufrieden.

Alisas Mutter Daria vertraute dem russischen Gesundheitssystem. Bis die Tochter krank wurde. Die kleine Familie verbrachte gerade ein paar Urlaubstage an der bulgarischen Schwarzmeerküste, als das Mädchen eines Morgens nicht mehr aufhörte zu weinen. Es atmete schwer, hatte hohes Fieber, übergab sich. Sofort setzte sich die Mutter mit dem Mädchen in ein Flugzeug nach Moskau. Eigentlich wohnt die Familie im Nordosten Sibiriens. Doch da wollten sie ihre Kleine nicht behandeln lassen, die Ausstattung in den dortigen Kliniken schien ihr veraltet.

Alisas Vater verdient viel Geld im Erdölgeschäft, an finanziellen Mitteln mangelte es der Familie nicht. Als der Arzt Daria von den guten Behandlungsmöglichkeiten in Deutschland erzählte, gab sie in die Suchmaske von Google die Begriffe „Nierenspezialist“ und „Deutschland“ ein. In der Ergebnisliste tauchten hunderte Webseiten von Vermittlungsagenturen auf.

„Ich war überfordert und verzweifelt. Ich wollte alles tun, um meiner Tochter zu helfen. Aber ich traute keiner dieser Vermittlungsagenturen“, erzählt Daria. Sie sitzt in der Cafeteria der Nierenklinik am Virchow-Klinikum der Charité und erzählt von ihrer Suche. Auf den Knien der schmalen, blassen Frau tobt die pausbäckige Alisa.

Auch Timoschenko ließ sich an der Charité behandeln

Daria fragte den behandelnden Arzt in der Moskauer Klinik, ob er ein Krankenhaus in Deutschland empfehlen könnte. Er nannte den Namen einer Privatklinik in Baden-Württemberg. Darias Mann rief einen deutschen Geschäftspartner an, der herausfand, dass es sich bei der Empfehlung um ein normales Krankenhaus ohne Nierenspezialisten handelte. Am nächsten Tag schickte der deutsche Bekannte einen Link, der zur Seite von Charité International führte. Daria war sofort begeistert. Sie wusste, dass sich auch die früheren russischen Präsidenten Michail Gorbatschow und Boris Jelzin und kürzlich auch Julia Timoschenko an der Charité behandeln ließen.

Die internationale Abteilung der Universitätsklinik wurde im Jahr 2000 gegründet. Seitdem sind die ausländischen Patienten eine zusätzliche Einnahmequelle der Charité, denn sie werden außerhalb des Krankenkassenbudgets abgerechnet. Bei der Gründung arbeitete in der Abteilung ein Mitarbeiter. Heute sind es 20, vier Kollegen kommen in diesem Jahr dazu. Etwa zwei Prozent des Umsatzes des Krankenhauses erwirtschaftet Charité International heute. Mit dem Geld hat der Klinikkonzern zum Beispiel neue medizinische Geräte bezahlt oder Malerarbeiten, Dinge, die aus dem normalen Budget nicht finanziert werden konnten.

„Die Charité braucht das Geld der internationalen Patienten dringend“, sagt Falk Erzgräber, der Leiter von Charité International. „Und wir sind auf die Patientenvermittler angewiesen.“ Auf jene Menschen, die in den vergangenen Monaten in Verruf geraten sind, weil einige von ihnen sich am Leiden von Schwerkranken bereichern. Nur etwa die Hälfte der internationalen Patienten an der Charité wendet sich direkt an das Krankenhaus. Erzgräber erklärt: „Wir wissen natürlich, dass manche Agenten das Geschäft mit ausländischen Patienten ausnutzen. Ich habe es von Anfang an als meine Aufgabe gesehen, das zu verhindern.“

Erzgräber sitzt im grauen Anzug im nüchternen Verhandlungszimmer von Charité International. In einem Großraumbüro gleich um die Ecke telefonieren etwa zehn meist junge Frauen vor Bildschirmen auf Deutsch, Englisch, Arabisch und Russisch. Die Atmosphäre erinnert eher an ein Callcenter denn an ein Krankenhaus. Tatsächlich ist Charité International in einem eleganten Bürogebäude an der Chausseestraße untergebracht und nicht in der Charité. Erzgräber ist auch kein Arzt, sondern BWLer. Die Vermittlungsagenturen nennt er „Servicepartner“.

"Wir wollen kein Geschäft um jeden Preis", sagt der Arzt

„Unsere Servicepartner rechnen nie direkt mit den Patienten ab. Alle Rechnungen und Kostenvoranschläge werden von uns ausgestellt.“ Die Rechnung des Vermittlers taucht in der Charité-Rechnung auf, aufgeschlüsselt. „Die Zusammenarbeit mit den Vermittlern gestaltet sich so wie die mit den Sanitätshäusern, die uns Schienen und Krücken verkaufen. Ganz transparent.“

Provisionen zahle die Charité natürlich keine. „Wir wollen kein Geschäft um jeden Preis.“ Erzgräber berichtet, dass er jeden zweiten Tag eine Mail von einem Vermittler oder einer Agentur erhalte. Er schreibe dann jedes Mal zurück, dass Charité International keine Provision bezahle und alle Rechnungen für die Patienten ausschließlich über die Internationale Abteilung laufen. „Die Hälfte meldet sich danach nie wieder. Die andere Hälfte ist seriös.“ Derzeit arbeitet Erzgräber mit etwa hundert Vermittlern zusammen – nach seinen Regeln.

„Dass keine Provision bezahlt wird und dass die Abrechnung der Vermittler über das Krankenhaus läuft, ist schon mal gut. Aber Möglichkeiten für Betrug gibt es trotzdem noch“, sagt Jens Juszczak, Health-Marketing-Dozent an der Hochschule Bonn-Rhein-Sieg und Experte für Medizintourismus. „Zum Beispiel können die behandelnden Ärzte bei internationalen Patienten viel zu hohe Summen abrechnen – der Patient kann das nicht einschätzen.“

Offiziell müssen ausländische Patienten wie Privatpatienten abgerechnet werden. Die Preise für bestimmte Behandlungen sind in der Gebührenordnung für Ärzte festgelegt. Wenn eine Behandlung aber besonders kompliziert ist, kann sich der Preis erhöhen, höchstens allerdings um den 3,5-fachen Satz. Nur in absoluten Ausnahmefällen und nur, wenn der Patient zugestimmt hat, darf der Preis noch einmal erhöht werden.

Es sind jedoch in Deutschland Fälle von ausländischen Patienten bekannt geworden, bei denen der Arzt den Behandlungspreis um den 13-fachen Satz erhöht hat, ohne die Patienten einzuweihen. Jens Juszczak fordert deshalb, dass das Gesundheitsministerium einen Faktor für ausländische Patienten festlegt. „Nur mit festen Regeln kann Missbrauch verhindert werden.“

10 000 Euro für die Behandlung ihrer Tochter

Falk Erzgräber erklärt, Charité International würde bei der Abrechnung stets die Gebührenordnung für Ärzte berücksichtigen. „Und je nach Aufwand der Behandlung erhöhen wir den Preis um einen bestimmten Faktor.“

Daria hat 10 000 Euro für die Behandlung ihrer Tochter bezahlt. Eine Woche wurde das Mädchen stationär behandelt. Zweieinhalb Monate lang untersuchte es dann ein bis zwei Mal in der Woche der Chefarzt. Ein Sprecher des Verbands der Privaten Krankenversicherung sagt, 10 000 Euro könnten dabei gut zusammenkommen. Die Rechnung will die Charité nicht zeigen, „wegen der vertraulichen Patientendaten“.

Daria und Alisa haben Falk Erzgräber nie kennengelernt. Als Daria sich per Mail an die Klinik wandte, verwies eine der russischsprachigen Damen im Großraumbüro sie sofort an Olga Kormann, Dolmetscherin, Patientenbetreuerin und Vermittlerin. Die Charité beschäftigt keine eigenen Dolmetscher und Betreuer, vermittelt immer an seine Servicepartner weiter.

Olga Kormann, 39, ist nicht zufällig in das Betreuergeschäft hineingerutscht. Sie hat nicht, wie die allermeisten Vermittler, zuerst einem ausländischen Bekannten durch das deutsche Krankenhausdickicht geholfen und dann weitere Anfragen von Bekannten des Bekannten bekommen und dann das Geschäft gewittert. Kormann hat sich systematisch auf die Aufgabe vorbereitet. Nach dem Germanistikstudium in Kaliningrad studierte sie an der Humboldt-Universität Simultandolmetschen. Danach beschloss sie, sich auf Medizindolmetschen zu spezialisieren und begann eine Ausbildung zur Krankenschwester an der Charité. Schließlich bewarb sie sich bei einer Agentur, die russische Patienten an deutsche Krankenhäuser vermittelte. Eineinhalb Jahre arbeitete sie dort. Vor einem Jahr hatte sie einen so großen Kundenkreis, dass sie sich selbstständig machte. „Es war wie ein Schneeball, der den Berg hinunterrollt und immer größer wird“, sagt die dunkelblonde, zurückhaltende, sehr freundliche Frau. Heute muss sie das Diensttelefon ausschalten, um ruhig schlafen zu können.

Olga Kormann hat auch eine eigene Webseite auf Russisch, aber kein Patient hat sie bisher über die Seite gefunden. Alle kamen über Empfehlungen oder über die Charité.

Auf Wunsch bucht sie auch den Flug

Im Fall von Daria hat Olga Kormann nur als Dolmetscherin gearbeitet, außerdem hat sie die Visa organisiert. Kormann bucht auf Wunsch aber auch den Flug, bei ambulanter Behandlung das Hotel, organisiert die Taxifahrten, sie führt, wenn gewünscht, durch die Stadt. Es passiert oft, dass die Patienten sie irgendwann als Teil der Familie sehen. Sie hat schon viele Einladungen bekommen. „Ich würde nicht mehr glücklich werden, wenn ich diese Menschen enttäuschte“, sagt sie. Sie würde einem Patienten nie empfehlen, sich schon in Russland für eine stationären Aufenthalt zu entscheiden. Dann werden nämlich sofort die gesamten Behandlungskosten fällig. „Ich rate meinen Kunden immer, sich die Charité erst mal als ambulante Patienten anzuschauen und sich für die stationäre Behandlung zu entscheiden, wenn sie sich wohlfühlen – und wenn es die Ärzte hier für nötig halten.“

Sie sagt auch: „Ich bin froh, dass die Charité direkt mit den Patienten abrechnet. Mit so hohen Summen will ich gar nichts zu tun haben.“ Kormann arbeitet ausschließlich mit der Charité, es sei denn, der Patient legt Wert darauf, an einer anderen Klinik behandelt zu werden, zum Beispiel am deutschen Herzzentrum. Provision für eine Vermittlung hat sie nie bekommen, sagt sie.

Nur einmal in den zweieinhalb Jahren als Patientenbetreuerin hat Olga Kormann eine russische Patientin kennengelernt, die in Deutschland betrogen wurde. Die Frau war schwer krebskrank, russische Ärzte hatten ihr gesagt, sie könnten nichts mehr für sie tun. Noch in Moskau überwies sie 10 000 Euro an einen Vermittler, der das Geld nie an das Krankenhaus schickte. Als sie verzweifelt in der Klinik stand und niemand je von ihr gehört hatte, empfahl ihr dort jemand Olga Kormann.

Dieser Text erschien auf der Dritten Seite.

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