zum Hauptinhalt
Die Menschen in Donezk versuchen, zur Normalität zurückzukehren.

© AFP

Krise in der Ukraine: Ein Krieg in der Sackgasse

Es scheint, als sei der Krieg in der Ukraine auf halben Weg angehalten. Russland macht keine Anstalten, die selbsterklärten Volksrepubliken im Osten anzugliedern. Kiew streicht Renten und Gehälter. Die Menschen sind verunsichert – doch nicht ohne Hoffnung.

Mal ist es ein dunkles Grollen, mal rummst es derart, dass im Zentrum der Stadt die Fensterscheiben erzittern. Doch in Donezk, tief im Osten der Ukraine, haben sich die meisten an die Geräuschkulisse des Krieges gewöhnt. Seit Monaten bekämpfen sich Separatisten und die ukrainische Armee am Flughafen der Stadt. Meist warten sie bis zum Einbruch der Dunkelheit, dann beschießen sie sich stundenlang mit Haubitzen, mit Granatwerfern, Panzern und einfachen Kalaschnikows. Der Flughafen liegt längst in Trümmern.

Es scheint, als sei der Krieg im Osten der Ukraine in eine Sackgasse geraten, angehalten auf halbem Weg. Der Kampf um die Überreste des Flughafens ist symptomatisch für die Lage des Donbass. Die drei Millionen Bewohner der Region leben in einer Art Schwebezustand. Die Volksrepubliken Donezk und Lugansk haben sich von der Ukraine losgesagt – aber Russland macht keine Anstalten, die Gebiete anzugliedern. Kiew hingegen beschwört die Einheit des Landes. Doch auf Anordnung von Präsident Petro Poroschenko werden in den von den Separatisten kontrollierten Gebieten keine Renten mehr ausgezahlt, das Gleiche gilt für die Gehälter von Ärzten oder Lehrern. Staatliche Einrichtungen werden geschlossen, genauso wie die Filialen der letzten ukrainischen Bank. Offiziell gelten diese Anordnungen seit dem 1. Dezember. Faktisch aber hat Kiew bereits vor Wochen begonnen, sie durchzusetzen. Allein die Versorgung mit Gas und Strom wurde nicht gekappt. Das hätte tatsächlich zu einer Katastrophe geführt: In Donezk sinken die Temperaturen jetzt schon deutlich unter Null.

"Es ist sehr leicht, uns abzuwürgen"

Fragt man jedoch Boris Litwinow, einen der führenden Separatisten, dann steht die Donezker Volksrepublik nach einer revolutionären Phase nun kurz davor, ein funktionsfähiger Staat zu werden. „Die Maschine läuft jetzt“, sagt Litwinow und lächelt. Im Anzug sitzt der 60-Jährige im achten Stock der ehemaligen Gebietsverwaltung, nun „Sitz der Regierung“. An seinem Revers – ein Anstecker der „Donezker Volksrepublik“ (DNR). Derzeit bereitet Litwinow Kommunalwahlen vor, die spätestens im April stattfinden sollen. Stolz berichtet er davon, wie die Republik nach und nach internationale Anerkennung finde und nennt zwei separatistische Regionen in Georgien. Südossetien habe die DNR schon anerkannt, bald könnte Abchasien folgen. „Der abchasische Premierminister war gerade bei uns“, sagt er, „mit zwei Lastwagen voll Mandarinen.“ Doch Litwinow versteht auch die Schwere des Schlages, den Kiew ihnen versetzt hat.

„Es ist sehr leicht, uns abzuwürgen“, sagt er. In den Händen dreht er eine Sanduhr, immer rechtzeitig, bevor der Sand ganz aus dem einen Behälter in den anderen gerieselt ist. „Sie versuchen unseren Menschen den Gedanken aufzuzwingen: Wärt ihr nicht in den Krieg gezogen, dann hättet ihr jetzt Speck und Brot“, erklärt er. „Und viele werden sich am Kopf kratzen und sagen: hm, stimmt vielleicht.“

Die Wirtschaft der Region ist angeschlagen

Sehr schnell muss die Republik nun ein funktionierendes Finanzsystem aufbauen, nur dann kann sie effektiv Steuern einnehmen, um dann Gehälter und Pensionen zu bezahlen. Litwinow plädiert sogar für die Einführung einer eigenen Währung. Er ist überzeugt, dass die Republik mit ihren Kohlegruben, mit Stahl- und Chemiewerken alleine lebensfähig ist.

Tatsächlich ist es den Separatisten gelungen, eine eigene Verwaltung aufzubauen, viele Geschäftsleute haben sich neu registriert, bald sollen die ersten Steuern zahlen. Doch eine vom „Spiegel“ veröffentlichte Analyse aus dem Kreml zeigt, dass das Rückgrat der dem Ruhrgebiet ähnlichen Region angeknackst ist: Die Industrieproduktion allein im Gebiet Donezk ist um 59 Prozent im Vergleich zum Vorjahr gesunken. Sämtliche Chemiefabriken der Region stehen still, ebenso 69 von 93 Kohleminen.

Für die Separatisten führen alle Wege nach Moskau

Ohne Moskau können die Volksrepubliken Donezk und Lugansk kurz- und mittelfristig nicht überleben. „Wir haben zwei zinsfreie Kredite aus Russland bekommen, jeweils etwa 250 bis 300 Millionen Griwna“, sagt Litwinow. Zum aktuellen Kurs sind das je etwa 15 Millionen Euro, Peanuts angesichts der knapp zwei Millionen Menschen, die allein in der Donezker Volksrepublik leben. Neben der Unterstützung mit Kriegsgerät liefert Russland über die letzten Monate auch technische Hilfe für den Wiederaufbau und medizinische Güter. Der Chefarzt eines großen Krankenhauses erklärt, 90 Prozent seiner Lieferungen stammten aus Russland. Es gibt zwar vorsichtige Verhandlungen mit Kiew über Kohlelieferungen – die Ukraine muss ihre Heizkraftwerke befeuern – doch ansonsten führen für Litwinow und die anderen Separatisten derzeit alle Wege nach Moskau.

Im Vergleich zum August, als Hunderttausende die Stadt verlassen hatten und die Geschosse schon bis ins Zentrum flogen, gibt es in Donezk nun den Versuch, zu einer gewissen Normalität zurückzukehren. Nur in den Vierteln, die direkt an den Flughafen angrenzen, schlagen noch immer Granaten ein, gehen Häuser in Flammen auf und sterben fast täglich Menschen. Im Rest der Stadt fahren Straßenbahnen und Busse, Menschen eilen zur Arbeit, gehen einkaufen. Einzig ein Nachtleben gibt es wegen der Ausgangssperre ab 22 Uhr praktisch nicht mehr.

Wut auf den ukrainischen Präsidenten

Kämpfer in Tarnuniformen, mit Kalaschnikows und Panzerfäusten sieht man auf der Straße kaum noch, stattdessen fahren nun markierte Polizeiautos der Volksrepublik durch die Stadt. Für die Menschen ist das alltägliche Leben tatsächlich ordentlicher und sicherer geworden. Gekappter Lieferungen aus Kiew zum Trotz – die Menschen in Donezk denken noch nicht daran, sich zu sorgen. Sie haben die schweren Kämpfe des Sommers hinter sich, ihre Wohnungen sind warm, sie warten. Denn kann es noch schlimmer werden, als es ohnehin schon war?

Vor einer Filiale der Oschtschadbank, der letzten ukrainischen Bank, die lange noch funktionierte, stehen vor wenigen Tagen Männer und Frauen Schlange. Regelmäßig sammeln sich hier ab sechs Uhr früh insbesondere Rentner in der Kälte, um doch noch etwas Geld abzuheben – wenn der Bankautomat gefüllt wird. Die meisten sind stinksauer auf den ukrainischen Präsidenten. „Wir haben doch zwanzig Jahre in die Rentenkasse eingezahlt. Das Geld ist unseres“, schimpft eine alte Dame mit Pelzmütze. Ein älterer Mann gibt zu bedenken, dass man aber schließlich für die Unabhängigkeit der Volksrepubliken gestimmt habe. Daraufhin schauen die anderen etwas unschlüssig. Daran, dass viele beim Referendum im Mai mit der Hoffnung abgestimmt hatten, dass Russland nach der Krim auch sie „angliedern“ werde, erinnert man sich jetzt ungern. „Aber Kiew behauptet doch, dass wir weiter ukrainische Staatsbürger sind“, wirft die Dame schließlich ein. So geht das hin und her, zwischendurch tritt immer wieder jemand an den Bankautomaten und überprüft seinen Kontostand. Nur – an das Geld ranzukommen, ist unmöglich.

Der Geldautomat bleibt leer

Nina, 77 Jahre alt, trägt sich als Nummer 134 in eine Warteliste der Bank ein, die doch sinnlos ist, weil der Geldautomat auch an diesem Tag wieder leer bleiben wird. „Ich habe mit meinem Mann Geld für unser Begräbnis gespart, und das liegt bei uns zu Hause“, sagt sie, die ihr Leben lang als Ökonomistin in einem Bergwerk von Donezk gearbeitet hat. „Das brauchen wir jetzt erst mal auf, und dann sehen wir weiter.“ Dann eilt sie nach Hause. Sie ist durchgefroren und muss sich zudem um ihren Mann kümmern, ein Pflegefall.

Menschenschlange vor einer Bank in Donezk.
Menschenschlange vor einer Bank in Donezk.

© Moritz Gathmann

Menschen wie Nina und ihren Mann hat Enrique Menendez zu Dutzenden auf seinem Handy, „die traurigste Bildergalerie, die man sich vorstellen kann“. Menendez betreibt eine Hilfsorganisation, er bringt Lebensmittel und Medikamente – die er wiederum von einer tschechischen Organisation erhält – in die Wohnungen von Invaliden. Und er macht Bilder von ihnen.

Die Schulen haben neue Lehrpläne, die Ukraine ist darin ein Nachbarland

Menendez, 31 Jahre alt, ist so etwas wie die „vernünftige Stimme des Donbass“. Dem jungen Geschäftsmann – sein Großvater war Spanier, daher der Name – gehörte vor dem Krieg eine Firma für Internetmarketing mit zehn Angestellten. Die ist pleite. Nun wird Menendez in Kiewer Talkshows zugeschaltet, wenn man eine Sicht „von innen“ wünscht, aus den besetzten Gebieten. Noch im März organisierte er Demonstrationen für eine einige Ukraine, bis heute hängt eine ukrainische Flagge an seiner Wohnungstür. Und bis heute glaubt er daran, dass ein Verbleib des Ostens in der Ukraine möglich ist, etwa in Form einer autonomen Republik. Dazu müsste Kiew jedoch Verhandlungsbereitschaft zeigen.

„Die Kiewer Darstellung, dass es in der politischen Führung hier nur Terroristen und Banditen gebe, ist eine Lüge“, sagt er. Menendez hat sich schwer zerstritten mit ehemaligen Donezker Aktivisten, die nun von Kiew aus die Lage im Osten kommentieren. Um zu erklären, warum, hebt er seine Hand hoch über den Kopf. „Die dort beurteilen alles vom politischen Level aus.“ Auf dieser Ebene etwa gilt der Konflikt im Osten der Ukraine nur als Instrument Moskaus, um die Ukraine zu erpressen. Dann senkt Menendez seine Hand auf Augenhöhe und sagt: „Ich beurteile es von dem Niveau aus, auf dem dir die Menschen hier in die Augen schauen.“

Trotz Drohungen: die Schulen sind geöffnet

Ihr habt die Separatisten gewählt, warum sollen wir euch noch Geld geben? Das hört er aus Kiew. Aus Donezk heißt seine Antwort: „Zum Teufel, das hier ist unsere Heimat, wir wollen nicht von hier weg.“ Und dass die Alten nun die Quittung dafür bekommen, dass sie für die Abspaltung gestimmt haben? „Die Alten sind nicht schuld, wenn sie sich irren.“ Aber wenn Kiew so weitermache wie jetzt, verliere es den „Kampf um die Herzen und die Köpfe.“

Die meisten hier haben diesen Wahlkampfauftritt von Poroschenko im Oktober gesehen – im russischen Fernsehen natürlich, weil es hier kein anderes mehr gibt, und die Botschaft haben sie verstanden: „Wir werden Arbeit haben – und sie nicht“, sagte er. „Wir werden Renten haben – und sie nicht. Unsere Kinder werden in die Schulen und Kindergärten gehen – und bei ihnen werden sie in den Kellern sitzen. Und so gewinnen wir diesen Krieg.“

Aber trotz der Kämpfe und einer offenen Drohung des ukrainischen Bildungsministers haben die Schulen in den Volksrepubliken in diesem Schuljahr geöffnet, wenn auch erst zum 1. Oktober, mit einem Monat Verspätung. Von den 420 Schülern des vergangenen Jahres seien 275 zum Schulbeginn wieder da gewesen, erzählt Alla Welitschko, eine strenge Endfünfzigerin, die eine der besseren Donezker Schulen im Zentrum der Stadt leitet. Hinzu kommen etwa 70 Schüler, deren Schulen direkt in der Gefahrenzone am Stadtrand liegen. Auch die allermeisten Lehrer seien ihr treu geblieben, erzählt Welitschko.

Das letzte Gehalt kam im August

Auf dem Flur hört man das Läuten eines Glöckchens: Heute ist mal wieder der Strom ausgefallen, weil nachts eine wichtige Stromleitung am Stadtrand bei den Kämpfen zerstört wurde. Dann wird die Pause eben „von Hand“ eingeläutet. Ansonsten gilt: „Wir machen Unterricht, wir arbeiten“, sagt Welitschko überzeugt.

Über Politik möchte sie nicht sprechen. „Wir führen jetzt das aus, was die städtische Bildungsverwaltung uns vorschreibt", erklärt sie mit einem dünnen Lächeln. Dazu gehört etwa ein neuer Lehrplan. In der ohnehin russischsprachigen Schule wird nun einige Stunden weniger Ukrainisch gelehrt. In Geografie wird die Ukraine nun wie ein Nachbarland behandelt. Und auch in Geschichte hat sich der Lehrplan geändert.

Mit zusammengefalteten Händen sitzt Welitschko in einer grauen Strickjacke an ihrem Schreibtisch, hinter ihr an der Wand hängen noch ukrainische Urkunden. Gehälter aus Kiew bekamen sie und ihre Lehrer zum letzten Mal im August, im Oktober gab es dann zum ersten Mal ein paar tausend Griwna von der Volksrepublik. Für die nächsten Tage haben die Behörden die ersten „richtigen“ Gehälter angekündigt. Ihr bleibt nur: zu warten.

Dieser Text erschien auf der Dritten Seite.

Zur Startseite