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Panorama: „Aufschrei“, sortiert

Wegen des großen Echos auf Twitter geht der Überblick verloren. Aktivistinnen wollen die Tweets auswerten.

Von Anna Sauerbrey

Berlin - Das Laderädchen am Ende der Twitter-Timeline dreht sich. Man scrollt und scrollt und das soziale Netzwerk befördert fleißig immer weitere Beiträge in die lange Liste der Twitter-Einträge unter dem Stichwort „Aufschrei“. Vor etwas mehr als drei Wochen hat eine Gruppe von Frauen begonnen, auf diese Weise Erfahrungen mit Sexismus zu sammeln. Schon einen Tag später ist es praktisch unmöglich, zu den Anfängen der Debatte zurückzukehren. Die ersten Beiträge sind verschüttet unter der Flut der Wortmeldungen, und obwohl jeder einzelne Tweet nicht mehr als 140 Zeichen lang ist, kommt in der Masse doch so viel zusammen, dass eine Recherche in älteren Beiträgen praktisch nicht möglich ist. Rund 15 000 Tweets wurden allein zwischen dem 25. und 31. Januar verschickt. Die Debatte wurde unter ihrem Erfolg begraben.

Twitter ist das Medium für den Augenblick. Eine Suchfunktion, die es ermöglichen würde, Beiträge aus einem bestimmten Zeitraum später noch einmal nachzulesen, gibt es nicht. Für politische Aktionen oder gesellschaftliche Debatten ist das Netzwerk deswegen Fluch und Segen. Einerseits erlaubt Twitter die schnelle Koordination und ein rasantes Wachstum. Andererseits ist eine nachhaltige Debatte schwierig, denn ein Bezug auf ältere Beiträge ist kaum möglich. Im Fall von „Aufschrei“ wurde das besonders deutlich, da die ursprüngliche Idee, unter dem Stichwort Erfahrungen mit Sexismus zu sammeln, schnell verdrängt wurde von einer Diskussion darüber, ob eine Debatte über Sexismus überhaupt nötig ist. Diejenigen, die den „Aufschrei“ initiiert und begleitet haben, überlegen deshalb nun, wie sich der Erfolg und die Ergebnisse festhalten lassen.

Dabei hilft wiederum das Netz. Um dem Twitter-Fluch der Flüchtigkeit zu entkommen, werden die Erfahrungen inzwischen auf der Seite „Alltagssexismus.de“ gesammelt. Lena Schimmel will aber auch die Tweets retten. Dazu hat sie eine Software geschrieben. Schimmel ist Informatikerin. „Green Mobile Innovations“ heißt die Braunschweiger Software-Firma, die sie mitgegründet hat. Zu ihrer eigentlichen Arbeit – Apps entwickeln – ist sie allerdings in den Wochen seit „Aufschrei“ kaum noch gekommen. Als Unternehmerin denkt Lena Schimmel in Arbeitsstunden. Sie rechnet vor, dass sie rund 30 bis 40 Stunden gebraucht hat, um das Programm zu schreiben und mindestens noch einmal 100 Stunden für die Koordination.

Über das Netz hat sich eine Gruppe von etwa 30 Interessierten zusammengefunden, die am Sammeln und Auswerten der Tweets mitarbeiten wollen: Wissenschaftlerinnen, die an Diplom- oder Doktorarbeiten zum Thema Sexismus sitzen, Künstler und andere Informatiker. Bei Schimmel laufen die Fäden zusammen. Die wenigsten der Beteiligten kennt sie persönlich. Die Gruppe koordiniert sich über Google-Groups und arbeitet über Cloud-Software an gemeinsamen Dokumenten – mit allen Vor- und Nachteilen, die diese Art der Zusammenarbeit mit sich bringt.

Immerhin, inzwischen funktioniert das automatische Erfassen der Tweets gut und ein Entscheidungsbaum zum Kategorisieren der von den Frauen geschilderten Situationen wurde entwickelt: Was für eine Art von Vorfall war es, geht es um Benachteiligung im beruflichen Kontext, um eine Tätlichkeit, um einen verbalen Angriff? Wie war das Verhältnis zwischen den Tätern und den Betroffenen? Wo ist das passiert? Acht Din-A4-Seiten lang ist die Liste mit den Kategorien. Um alle 15 000 Tweets aus den ersten Tagen zu ordnen, braucht es etwa 160 Arbeitstunden, rechnet Schimmel. Auch dabei soll deshalb die „Crowd“ im Netz helfen.

Nicht, dass es nicht schon viele empirische Arbeiten zum Thema gäbe. Gerd Bohner, Psychologieprofessor in Bielefeld, hat gemeinsam mit zwei wissenschaftlichen Mitarbeitern Anfang Februar in Reaktion auf „Aufschrei“ einen Literaturüberblick dazu ins Netz gestellt. Keine Frage, die Verbreitung des Sexismus, seine Formen und der Umgang der Frauen damit sind schon recht gut erforscht. „Es gibt genügend Statistiken“, sagt auch Anna-Katharina Meßmer. Früher hat sie für die SPD gearbeitet, heute promoviert sie an der LMU München in Soziologie. „Aber das Projekt von Lena Schimmel ist trotzdem großartig. Es hilft, die Statistiken mit konkreten Situationen anzureichern.“

Meßmer weist allerdings darauf hin, dass das Material wahrscheinlich nur einen kleinen Ausschnitt des Phänomens zeige. Es bildet die Erfahrungen einer ganz bestimmten Gruppe ab, nämlich derjenigen Frauen, die auf Twitter aktiv sind, von denen viele vermutlich höher gebildet und im Schnitt recht jung sind. Auch die Erfahrungen zum Beispiel von Migrantinnen oder von lesbischen Frauen, so der erste, wenn auch noch unsystematische Eindruck von Meßmer, bleiben ausgespart.

Die verzerrende Wirkung, wenn eine bestimmte Gruppe zu Wort kommt, kann erheblich sein. Das zeigt auch eine Umfrage zur Sexismus-Debatte des Instituts Sinus. Die Marktforscher haben ihr Milieu-Modell auf die Umfragedaten angewandt. Das Ergebnis ist wenig überraschend: Die Wahrnehmung, ob Sexismus ein gesellschaftliches Problem darstellt, variiert mit der politischen Präferenz (Grünen-Wähler bewerten das Problem als gravierender als FDP-Wähler), mit dem Alter und mit dem Geschlecht.

Auch Meßmer plant eine wissenschaftliche Auseinandersetzung mit dem Thema. Gleichzeitig gehört sie selbst zu der kleinen Gruppe von Frauen, die „Aufschrei“ auf Twitter initiiert und auch durch die erste Nacht begleitet haben, ebenso wie Anne Wizorek, die Berlinerin, die der Aktion in der Jauch-Sendung zum Thema ein Gesicht gab, und Nicole von Horst, die in Frankfurt am Main lebt und als Erste von ihren Erfahrungen auf Twitter berichtete. Drei „Netzfeministinnen“, die sich aus dem Netz kannten, aber vor dem „Aufschrei“ persönlich nie begegnet waren. Erst die Jauch-Sendung führte sie zusammen, Anne Wizorek vor der Kamera, Nicole von Horst und Anna-Katharina Meßmer im Publikum. Damit, wie in den klassischen Medien debattiert wurde, ist keine von ihnen glücklich. „Das war zum Teil Stammtischniveau“, sagt Meßmer. Nun überlegen sie, wie sie die Aktion dennoch außerhalb des Netzes verstetigen könnten. Vielleicht ein Buch? Einige Verlage haben schon angefragt. Es gebe Ideen, aber noch nichts Konkretes, sagt Meßmer.

Wizorek, als Fernsehgesicht die Bekannteste unter den dreien, ist ebenfalls drei Wochen nach dem Höhepunkt der Tweets noch stark mit dem Aufschrei befasst. Zeit für ein Gespräch habe sie deshalb nicht, schreibt sie per E-Mail. Auf Twitter kann man verfolgen, was sie so alles beschäftigt. Am Donnerstag zum Beispiel mistete sie Hass-Mails aus ihrem Posteingang aus – natürlich nicht, ohne sie vorher zu veröffentlichen. „Die Frauenbewegung ist ja ganz nett, wenn sie denn im Bett stattfindet“, ist da zu lesen und: „Hi Süße, wie wärs mit ’nem Fuffi für ’nen Fick?“

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