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Lager in Dolo Ado: Die Rettungsstation

Not, Tod, Verzweiflung. 15 000 Menschen aus Somalia haben sich ins Lager beim äthiopischen Dolo Ado geflüchtet. Neben dem Hunger haben sie noch einen zweiten Feind: die Al-Shabab-Milizen.

Die Hoffnung in Dolo Ado ist mindestens so groß, wie dieser Flecken Erde normalerweise vergessen ist. Hierher, an die äthiopische Grenze in das Dreieck zu Kenia und Somalia, führt nicht einmal eine richtige Straße. Addis Abeba, die Hauptstadt, ist 1000 Kilometer entfernt, von dort dauert es anderthalb Tage oder länger noch, um hierher zu kommen, 14 Stunden davon über unbefestigte Schotterpisten und Baustellen. Dolo Ado hat nur sandige Pisten, bei Wind sind in den roten Wolken Fußgänger kaum zu erkennen. Die Stadt hat nur wenige gemauerte Gebäude, die meisten Familien wohnen in Häusern aus Buschwerk, das nach und nach mit Lehm befestigt wurde, oder in kugeligen Nomadenhütten, den Akal.

Und doch ist Dolo Ado für so viele Menschen zum Ziel ihrer Wünsche geworden – 115 000 Somalier haben sich hierher aufgemacht, weil sie keinen anderen Weg mehr sahen zu überleben. Mehrere Regenzeiten sind ausgeblieben, für das letzte Vieh hatten sie kein Futter mehr. Sie hoffen auf Essen, Unterkunft, Sicherheit. Schon seit einigen Monaten kommen immer mehr Menschen über die Grenze, aber im Juli waren es plötzlich jeden Tag 2000. Darauf war der Ort nicht vorbereitet, die Vereinten Nationen sprechen von der größten Hungerkatastrophe seit 60 Jahren in der Region. Die Welle der Verzweiflung brach über Dolo Ado herein.

Die Verzweifelten sind ungewöhnlich ruhig. 15000 Menschen leben derzeit im sogenannten Transitcenter, das für 1500 Flüchtlinge vorgesehen ist. Doch außer dem Husten und Wimmern der Kleinsten ist in dem überfüllten Lager nicht viel zu hören. Eigentlich sollen sie hier nur ein paar Tage bleiben, aber das neue Lager, das gerade eingerichtet wird, ist noch nicht fertig. Anfang der Woche sollen nun schwere Maschinen kommen.

Halema Mussel ist eine der wenigen Alten, die es bis hierher geschafft haben. Ihr hageres Gesicht ist von einem Gebirge von Falten überzogen. Erschöpft hockt die gut 80-Jährige auf einer Plane am Boden, lehnt ihren mit einem zerlöcherten braunen Tuch bedeckten Kopf müde an die Schulter ihrer blinden, kaum jüngeren Nachbarin. Sie hofft, ein Laken und eine Matte zu bekommen, sie hat nichts aus Shagolow in Somalia mitgenommen. Es war eine Flucht, denn Shagolow liegt im Gebiet der islamistischen Al-Shabab-Milizen.

Ali Yakab hat die beiden Alten hergebracht. „Die ersten 50 Kilometer sind wir bei Nacht zu Fuß gegangen“, erzählt der 53-Jährige. Die Alten haben sie in einem Schubkarren transportiert. „Die Al Shabab haben uns nicht erlaubt zu gehen“, sagt er. Aber als das letzte Vieh gestorben war und sie merkten, dass sie von den Al Shabab nichts bekommen würden, sind sie trotzdem los. „Sie wollten, dass wir dort sterben“, sagt Ali Yakab.

Lange haben sie ausgeharrt und auf Regen gewartet, denn sie hatten eine kleine Farm. Vor einem Jahr dann hätten die Al Shabab angefangen, den Zehnten von allem Eigentum einzutreiben. „Wenn du zehn Ziegen hattest, haben sie eine genommen.“ Zuvor sei die Sache mit den Al Shabab für sie „nur politisch“ gewesen, sie hätten versucht, ihre Religion durchzusetzen, vor allem bei den Jüngeren. „Aber im vergangenen Jahr haben sie sehr unreligiös angefangen, uns zu unterdrücken.“ Und das, obwohl die Situation wegen des Hungers immer schlechter wurde.

Ali Yakab und die Seinen haben sich ihre Entscheidung lange überlegt. Denn sie wird eine für immer sein, glaubt er. „Wir sind jetzt ein Ziel für die Al Shabab, wir sind markiert. Wenn wir zurückgehen, bringen sie uns um.“ Dass das Al-Shabab-Regime abgelöst werden könnte, daran glaubt er nicht mehr. Von anderen im Camp hat er gehört, dass internationale Hilfe jetzt auch nach Somalia kommen soll. Für sie hätte das aber nichts geändert, sagt er. „Warum sollten sie die Hilfe nicht auch stehlen, wenn sie uns unser Vieh nehmen?“, fragt er und verscheucht eine Fliege aus seinem Gesicht.

Bisher kamen meist Frauen, Ali Yakab ist einer der wenigen Männer, die seit einigen Tagen eintreffen. Es gibt viele Gerüchte, warum bisher fast 90 Prozent der Flüchtlinge unter 18 waren und kaum erwachsene Männer. Eines davon heißt, Al Shabab lasse die Männer nicht gehen. Ali Yakab sagt, sie versuchten vor allem die ganz jungen zu erwischen, denn die könnten sie noch beeinflussen.

Lesen Sie mehr im zweiten Teil.

Habiba Osman, Mutter von neun Kindern, nennt einen weiteren Grund. Sie sei mit sieben Kindern als „Pionierin“ aufgebrochen, um die Lage zu erkunden, nicht die ganze Familie solle ins Desaster laufen. An ihrer Brust unter dem ausgeblichenen weinroten Umhang nuckelt ihre sechs Monate alte Tochter, sie schwitzt, das Köpfchen sinkt immer wieder zurück. Sie hat Fieber, die Tabletten, die sie in der Krankenstation bekommen hat, kann sie nicht schlucken, jetzt will die Mutter nach Sirup fragen.

Habiba Osman will ihrem Mann eine Information schicken, er werde dann mit den beiden anderen Kindern nachkommen. Sie wird beten und natürlich mit Beginn des Ramadan fasten, damit ihre Wünsche erhört werden. „Selbst wenn wir sterben – natürlich fasten wir“, sagte die 35-Jährige mit fester Stimme. Das kranke Kind natürlich nicht.

Und dann ist da noch etwas. Sie hätten nicht für alle den Transport bezahlen können, sagt sie. Habiba Osman kommt aus dem Gürtel jenseits der Grenze, den die Übergangsregierung kontrolliere. Dort haben längst Geschäftemacher ihre Chance ergriffen. Auch Ali Yakab und die beiden Alten mussten umgerechnet zwei Euro pro Person zahlen, damit sie „wie die Hühner“ auf einem Truck mit 120 anderen Leuten wenigstens ein Stück Richtung Dolo Ado mitgenommen wurden.

Tadele Geneti, Vizechef des äthiopischen Flüchtlingswerks Arra, ist ein zuvorkommender 40-Jähriger in braun-bunter Tunika und Khakihose. Sieben Jahre war er in Russland, seit 20 Jahren ist er bei Arra. Er nennt die Flüchtlinge nicht Flüchtlinge, sondern „silence seekers“, Ruhe Suchende. „Wir haben Informationen, dass Al Shabab zwischendurch die Straßen sperren und auf Leute schießen“, berichtet er auf der Veranda seines Büros. Das könne auch ein Grund sein, warum seit einigen Tagen die Zahl der Ankommenden zurückgehe. Vielleicht gebe es auch einen Zusammenhang mit dem Ramadan, da bleibe man lieber zu Hause. Danach aber werde die Zahl wohl wieder steigen. Die äthiopische Regierung hat schon weiteres Land zur Verfügung gestellt, um noch ein neues Lager bauen zu können.

Dass das bald nötig sein wird, glauben sie auch beim Flüchtlingswerk der Vereinten Nationen, UNHCR. Die Mitarbeiter versuchen, die seit gut drei Wochen auch hier anlaufende internationale Hilfe zu koordinieren. Wie ein Häuptling sitzt Jo Hegenauer in einer halbhoch mit Schilfmatten verkleideten Rundhütte im weiß-blau abgeschirmten Bereich auf dem Compound. Kühlschrank, Computer und Satellitentelefon, ein großer Besprechungstisch – das ist im Moment seine Kommandozentrale. Hier versucht der Amerikaner mit weißem Schopf, Drei-Tage-Bart und Pilotensonnenbrille, die Fäden in der Hand zu halten und die Hilfe zu kanalisieren.

Hegenauer ist ein alter Fahrensmann der Flüchtlingshilfe, mehrere Jahre war er regelmäßig auch zum Notfalltraining beim Technischen Hilfswerk in Stuttgart. Ihn haben sie gerade aus dem Kosovo abgezogen, die Dimension der Not hier in Afrika vergleichen sie mit den Katastrophen in Haiti nach dem Erdbeben und Pakistan nach der Flut. Seine Mitarbeiter haben höchsten Respekt vor dem effizienten und freundlich auftretenden Mann, der ständig am Telefon hängt und die verschiedenen Interessen unter einen Hut zu bringen versucht. Es läuft recht gut, auch wenn manches wegen der mühseligen Kommunikation etwas länger dauere, ist zu hören. Mancher wünschte sich natürlich, dass es schneller voranginge. Doch sie haben sich hier ein Sprichwort zu eigen gemacht: Ein Ei lernt langsam laufen.

Der Compound platzt bereits aus allen Nähten, die Mitarbeiter schlafen zum Teil in Zelten im Hof. Diese Woche wird ein paar Kilometer weiter ein komplett neuer Bürokomplex aufgebaut. Das UNHCR stellt sich offenbar darauf ein, dass diese Mission länger dauern wird. 25 internationale Mitarbeiter hat Jo Hegenauer inzwischen einfliegen lassen. Gar nicht so einfach, denn bis Sonntag gab es nur zwei Flüge pro Woche von Addis nach Dolo, in jedem Zwölfsitzer finden sieben Personen Platz – die kurze Landebahn lässt nicht mehr Gewicht zu. Ab Montag gibt es eine tägliche Verbindung. Mit dem Auto herzukommen, das, finden sie, „ist ein Killer“.

Die ersten Äthiopier sind schon irritiert. So viele internationale Helfer seien wirklich nicht nötig, schimpft ein äthiopischer Wasserbauingenieur. „Wenn sie helfen wollen, sollen sie das über uns tun.“ Immerhin, Wasser gibt es in der Nähe der Flüchtlingscamps. Das ist wichtig fürs Überleben und Zusammenleben von so vielen Menschen auf engstem Raum.

Die Organisation wird noch ein hartes Stück Arbeit haben. Das merken sie gerade im Transitcenter. Am Rande des Camps haben sie Toiletten gebaut, doch die Wellblechtüren hängen schon schief in den Angeln, manche fehlen bereits. Die meisten Flüchtlinge sind gar keine Toiletten gewohnt, sie verrichten ihre Notdurft im Freien – auch mitten im Lager oder in den Verschlägen, die eigentlich als Dusche dienen sollen. Ein Horror für alle, die sich auch um die Gesundheit kümmern. Dieses Thema könne man aber erst in den festen Camps ansprechen, meint Giuseppe D’Andrea, Feld-Koordinator der Ärzte ohne Grenzen. Der Italiener betreut zum ersten Mal ein Flüchtlingslager. „Es ist“, sagt er, „als rede man mit einem Fluss.“ Denn hier im Transitcenter wechseln die Patienten ständig, weil täglich neue Menschen ankommen.

Dort will jetzt auch der schmale Isaak mit seinem Sohn hingehen. Er sitzt auf einem alten Reissack ganz in der Ecke in einem der als Unterkunft dienenden großen Lagerzelte, zwei gelbe Wasserkanister sind seine Habe. Seine Frau sei an Tuberkulose gestorben, übersetzt ein Nachbar. Isaak ist stumm. Eng an ihn geschmiegt, wimmert ein Würmchen von Kind. Es ist ein Junge, er sei drei Jahre alt, sagt der Vater. Er sieht aus wie ein Baby. Hinter Vaters Rücken lugt scheu sein zweiter Sohn hervor. Er heißt auch Isaak, wie der Vater.

Lesen Sie mehr im dritten Teil.

Eigentlich sollte es den Menschen hier im Transitcenter immer besser gehen. Denn alle bekommen auf ihre Essenskarte jeden Tag zweimal gekochten Reis, und viele sind schon zwei Wochen im Lager, essen also regelmäßig. In langen Schlangen warten die Menschen vor dem Ausgabezelt. Wer aus der Reihe tanzt, wird harsch von Ordnern zurechtgewiesen. Hinter dem Zelt kochen Mitarbeiter einer einheimischen Hilfsorganisation in riesigen Töpfen unter freiem Himmel – täglich etwa 26 000 Essen.

Wer mehr haben will, dem bieten clevere Händler aus Dolo Ado am Rande des Camps ihre Dienste an. Maismehl für Porridge, den sie mit Joghurtmilch oder Tomatensauce essen können, und Zucker gehen besonders gut, erzählt eine kräftige Händlerin zwischen ihren Getreidesäcken. Die Familie der 17-jährigen Nurto Muhammed hat sich eine rasch aus Dornensträuchern und Plastikplanen zusammengezimmerte Hütte gebaut. Hier verkaufen sie nun Waschpulver, Mangos, Spaghetti und Sauce. „Wir bleiben auch, wenn die Flüchtlinge in die Camps umziehen“, sagt Nurto, während sie ihre drei Monate alte Tochter stillt. Sie hat Geschmack gefunden am Geschäft. Später will sie an Nomaden verkaufen.

Im Restaurant Awda kann man auch sehen, wie die Geschäfte mit der Hilfe beginnen zu blühen. Hier sitzen viele junge Männer, sie haben als Fahrer und Mitarbeiter bei Hilfsorganisationen angeheuert. Deren Jobangebote sind auf Papier an die Wand des Lokals geklebt. Und zu denen, die Arbeit gefunden haben, gesellen sich sichtbar auch schon käufliche Frauen. Hinten im Hof gibt es Zimmer. Sie erinnern eher an Verschläge, aber Unterkünfte sind in Dolo Ado rar.

Trotz des vergleichsweise reichhaltigen Essensangebots im Transitcenter steigt seit einigen Tagen die Zahl der Kinder, die nicht mehr ambulant mit Spezialnahrung aufgepäppelt werden können. Sie werden dann ins lokale Krankenhaus geschickt. Auch das soll im Zuge der Hilfe ausgebaut werden. Denn es ist nie gut, nur für Flüchtlinge zu sorgen, auch für die einheimische Bevölkerung muss etwas bleiben, wenn alle wieder gehen.

Im Krankenhaus kümmern sich Arra und Ärzte ohne Grenzen um die Schwächsten. „Seit drei Tagen kommen schlagartig mehr Patienten“, sagt der Chef der Krankenschwestern, Abi Abdi. Der 28-Jährige steht erschöpft in der Sonne. In mehreren Zelten und einem grün gestrichenen Gebäude betreuen sie hier 63 Kinder unter fünf Jahren. In den ersten Tagen werden sie mit einer Nasensonde ernährt. Wuchtig kleben die weißen Pflaster zur Befestigung der Kanülen auf den kleinen schwarzen Köpfen. Dahira Adan liegt mit hochgereckten Armen in ihrem Bett, ihre Mutter Isha hat sich offensichtlich die besten Sachen angezogen, um ihre Tochter ins Krankenhaus zu begleiten. Sie wacht über die Krankenakte, hin- und hergerissen, denn sieben weitere Kinder warten im Transitcenter. Dahira ist zwei, sie atmet schwer, die herausstehenden Rippen heben und senken sich angestrengt. Ein Pfleger entfernt die Pflaster, das kleine Bündel hat sich schon so weit erholt, dass es nun mit kalorienreichem Spezialbrei gefüttert werden kann. Eine Woche wird Dahira noch im Krankenhaus bleiben müssen.

Draußen vor der Tür entsteht ein kleiner Tumult. Ein junger Mann hat ein Mädchen gebracht. Drei ist sie, hat über 40 Grad Fieber, hockt, eine Wasserflasche im Arm, reglos am Boden. Ihre Mutter, stellt sich heraus, hat gerade ein weiteres Kind geboren, ist viel zu schwach, um sich nun noch um die Dreijährige zu kümmern. Eigentlich gönnen die Somalier ihren Wöchnerinnen 40 Tage Ruhezeit. Der junge Mann ist der Cousin, aufgeregt lässt er sich zu der Mutter bringen. Jemand muss bei dem anderen Kind bleiben. Er könne das auf keinen Fall machen, sagt er, hier seien ja nur Frauen bei den Kindern. Ein Männerhaus aber gibt es nicht. Ein Pfleger legt den Arm um ihn, geht ein paar Schritte. Dann schicken sie ihn los, im Camp jemand anderen zu suchen, der bei der Kleinen in dem viel zu großen grünen T-Shirt im Hospital bleiben kann.

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