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Gesellschaft: Helsinki kocht

Vor zehn Jahren verspottete Berlusconi die finnische Küche – heute setzt Helsinki kulinarische Trends. Und die ganze Stadt macht mit: Beim Restauranttag darf dort jeder Bürger Küchenchef spielen

Kaum hatte Sara Nymalm ihr Restaurant im Zentrum Helsinkis eröffnet, da musste sie es auch schon wieder schließen. Um 16.30 Uhr begrüßte sie die ersten Gäste im „Smakbitar“, eine Stunde später gingen ihr die Zutaten aus. Mit 60 Besuchern hatte die 29-Jährige an diesem spätsommerlichen Sonntag gerechnet, doch es wurden deutlich mehr. Wer zu spät auftauchte, bekam höchstens noch einen kleinen Happen.

Die Gäste – Studenten, junge Familien, aber auch arrivierte Genießer – nahmen es gelassen. Und das lag nicht nur an den Preisen: Wo im teuren Finnland bekommt man schon ein kleines Abendessen für zwei Euro, und ein Bier für drei? Es lag vor allem daran, dass das „Smakbitar“ („Kostproben“, ein schwedisches Wort) Teil einer besonderen Aktion war – und streng genommen gar kein Lokal.

Wie 180 andere finnische Hobbyköche hatte Sara Nymalm im Internet jeden, der wollte, für den 21. August zum Essen eingeladen. Sie, die als Kellnerin und Küchenkraft arbeitet, wurde so für einen Tag zur Restaurantbesitzerin. Andere empfingen Gäste im Park oder im Büro, Nymalm lud ins eigene Apartment. Dort, im neunten Stock eines 70er Jahre-Wohnblocks unweit des Hauptbahnhofs, verkaufte sie selbst zubereitete Gerichte, die von ihren Reisen inspiriert waren: scharf gewürzte amerikanisch-kubanische Burger, vietnamesische Sommerrollen, gefüllt mit Tofu, und italienische Kartoffelpizza mit Rosmarin und Ziegenkäse. Die Gäste konnten auf dem Balkon oder im Wohnzimmer Platz nehmen. Im Hintergund spielte der speziell zusammengestellte „Smakbitar“-Soundtrack, mit Musik von den Stones bis zu den Fleet Foxes, und während Nymalm in ihrer viel zu kleinen Küche wirbelte, servierte eine Freundin die Speisen. Das schmutzige Geschirr in der Spüle türmte sich später bis unter die Decke.

Und warum all die Mühe? „Weil es Spaß macht“, sagt Sara Nymalm, die ihre blonden Haare zum Zopf gebunden trägt, und lächelt. „Die Atmosphäre war toll: Die Leute haben gemeinsam das Essen genossen und sind ins Gespräch gekommen. Es war ein Fest auf das Kochen und aufs Leben.“

Dieses in seiner Form einzigartige Fest, das bisher vor allem in Helsinki stattfindet, heißt „Ravintolapäivä“: „Restaurant- tag“. Am 21. Mai hatte die Aktion Premiere, am kommenden Samstag, den 19. November, wird sie zum dritten Mal stattfinden. Die Idee stammt von Olli Sirén, einem 27-jährigen Studenten, der dem „Ravintolapäivä“ auch ein Logo und eine Website (ravintolapaiva.com) gegeben hat. Dort oder auf Facebook kann jeder ein eigenes Lokal anmelden; welche Speisen man dann anbietet und wie viel man dafür fordert, bleibt einem selbst überlassen. Sirén und ein paar Mitstreiter bestimmen nur das Datum des Restauranttags, tragen die Informationen zusammen und entwerfen einen Flyer mit der Liste aller „Pop up“-Restaurants. Geld nehmen sie dafür nicht, sie betreiben das Projekt aus Spaß – und ein wenig auch, um gegen die bürokratischen Hürden zu protestieren, die man in ihrer Heimat überwinden muss, bevor man ein Lokal eröffnen darf.

In Finnland wächst die Begeisterung für den Restauranttag stetig, selbst Helsinkis Bürgermeister lobte die Aktion, obwohl der Verkauf von Speisen ohne Lizenz natürlich illegal ist. Die Pop-up-Lokale im August waren eine Mischung aus ambitionierter Küche und fröhlichen bis verrückten Amateurveranstaltungen. Mit dem „Le Frog“ machte ein Mann ein französisches Restaurant unter freiem Himmel, direkt am Meer auf, das „American Heart Attack“ bot fetthaltige Speisen, die aus einem Apartment im zweiten Stock abgeseilt wurden, anderswo konnte man japanisch essen, Waffeln, Burritos oder finnisch-vegetarische Gerichte kaufen.

Weit über 10 000 Besucher zählten die Lokale insgesamt, in 30 Städten. Sogar Hobbyköche in Großbritannien, Bulgarien und Slowenien waren dabei. Vielleicht verbreitet sich die Idee ja weltweit, die Hoffnungen der Organisatoren ruhen da auch auf Deutschland und speziell auf Berlin. Der Traum: Eines Tages startet der Restauranttag in Japan, setzt sich in Frankreich fort und endet in den USA.

Dass sich ausgerechnet Helsinki mal anschicken würde, kulinarische Trends zu setzen, hätte bis vor kurzem kaum einer für möglich gehalten. Noch vor zehn Jahren zog Silvio Berlusconi den Zorn der Finnen auf sich, als er behauptete, diese wüssten nicht mal, was Prosciutto ist. Jacques Chirac nannte die finnische Küche gar die schlechteste der Welt. Doch die Zeiten, in denen es in Helsinki wenige gute Restaurants und in den Läden nur die Massenprodukte der Lebensmittelkonzerne gab, sind lange vorbei. Sonst hätte Tyler Brûlés Magazin „Monocle“ (siehe Interview S1) die 600 000-Einwohner-Metropole dieses Jahr auch nicht zur lebenswertesten Stadt der Welt gekürt.

Wie in anderen nordischen Ländern geht der Trend zu hochwertigen, naturbelassenen und frischen Zutaten aus der Region – im Falle Finnlands sind das vor allem Beeren, Pilze, Kräuter, Wild und Fisch. Ein Vorreiter war das Helsinkier Restaurant „Juuri“ („Wurzel“), das mit seinen „Sapas“ die finnische Version der Tapas erfand: kleine, sorgfältig zubereitete Appetithappen, zum Beispiel Muschelsuppe, Krautwickel, marinierte Rote Bete mit Dillbrot, Entenleberpastete mit Vanillesirup oder Wurst mit Wodka-Senf.

Die Protagonisten des Wandels – egal, ob die Besitzer des „Juuri“ oder die Initiatoren des Restauranttags – sind fast alle zwischen 20 und 40 Jahre alt. Eine ganze Generation hat das gute Leben für sich entdeckt. Entsprechend jung ist die Koch- und Restaurantszene in Helsinki.

Der Mann, der die Esskultur in der Stadt ganz offiziell nach vorne bringen soll, ist auch erst 34, fühlt sich an manchen Tagen aber schon alt, „verglichen mit den anderen Leuten, die hier etwas auf die Beine stellen“. Am Tag unseres Treffens kommt Ville Relander gerade von einer Fernsehaufzeichnung, nebenher ist er Juror in einer Kochshow. Relander hat kurze blonde Haare, er trägt ein dunkelblaues Sakko mit Einstecktuch und eine modische Tasche über seiner rechten Schulter. Seit Anfang des Jahres hat er einen Job, den es so kein zweites Mal geben dürfte: Die Stadt Helsinki hat ihn als Manager für ihre „Esskultur Strategie“ eingestellt. Letztere muss man wohl zumindest teilweise als Antwort auf Berlusconi und Chirac verstehen.

Davor hat Relander in der Gastronomie und für Hotels gearbeitet, oft im Ausland, wo er sich mit Vorliebe durch Restaurants und Märkte fraß. Er zeigt sein Büro: eine Nische mit Schreibtisch und Pressholzregal, die so gar nicht zu ihm passen will. Der Raum befindet sich in einem Klinkergebäude auf dem alten Großmarkt im Osten Helsinkis. Die Kantine hier, sagt Relander, sehe aus „als käme sie direkt aus einem dieser depressiven Kaurismäki-Filme“: „It is a bit trendy by accident.“

Die Stadt will das raue, charaktervolle Großmarktgelände zum Herz ihrer Esskultur-Kampagne machen. In einem Schlachthaus aus den 30ern entsteht gerade eine große Showküche. Sie soll fertig sein, wenn Helsinki nächstes Jahr „World Design Capital“ wird. Vielleicht gibt es hier auch bald eine kulinarische Bibliothek und einen Bauernmarkt. An der Decke im ersten Stock hängen noch die Haken, an denen einst Schweinehälften rotierten. „Wäre ein schöner Platz für ein Steakhaus, oder?“, sagt Relander und lacht. Seine Aufgabe, erzählt er, bestünde vor allem in Führungen wie dieser, darin, der Kampagne ein Gesicht zu geben. Er muss sich aber auch um Handfestes kümmern: Bis 2015 soll das Essen in Kitas zur Hälfte aus Bioprodukten bestehen und das in Schulen zumindest besser werden.

Vom Restauranttag ist Relander begeistert, klar. „Alle sprechen davon“, sagt er. Beim letzten Mal gehörte er leider zu denen, die spät dran waren und kein Essen mehr bekamen. Und doch hat sich der Besuch im Pop-up-Lokal eines Freundes für ihn gelohnt. Dort gab es nämlich nicht nur einen DJ, das eigenwilligen Konzept beinhaltete auch eine Massage für jeden Gast.

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