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Im Schatten der Filmgeschichte. Szene aus dem entdeckten Film „The White Shadow“ von 1923, an dem Alfred Hitchcock mitwirkte. Foto: AFP PHOTO/HO/New Zealand Film Archive

© AFP

Panorama: Explosiver Fund

Von Alfred Hitchcock bis Fritz Lang – warum noch heute Filme aus der Frühzeit des Kinos entdeckt werden

Im Jahr 1993 wurde in einer Gartenhütte im neuseeländischen Hastings, die Tony Osborne von seinem Großvater geerbt hatte, ein Schatz entdeckt, bei dessen Bergung zwei Gefahren lauerten: Selbstzerstörung und Explosion. Es handelte sich um Hunderte Dosen Nitro-Filmrollen, Kopien von Spielfilmen vor allem aus der Stummfilmzeit, die der ehemalige Filmvorführer Jack Murtagh dort gehortet hatte. Das ging, weil Neuseeland am Ende der Auswertungskette lag: Wenn die Filmkopien dorthin kamen, hatten sie häufig bereits eine Welttournee hinter sich und waren nicht mehr im besten Zustand. So fragte niemand nach, wenn Jack Murtagh die Kopien nicht zurückschickte. Vielleicht war man sogar froh, sie los zu sein.

Dieser Tage nun vermeldete das neuseeländische Filmarchiv einen sensationellen Fund: Unter den Filmen befinden sich drei Rollen – etwa die Hälfte – eines bisher verschollen geglaubten Films namens „The White Shadow“ aus dem Jahr 1923, an dem Alfred Hitchcock maßgeblich beteiligt war. Der Meister des Suspense hatte 1925 seinen ersten eigenen Film inszeniert, zuvor aber fünfmal als Drehbuchautor, Szenenbildner und Regie-Assistent mit dem britischen Regisseur Graham Cutts zusammengearbeitet, bis der ihn nach zwei Jahren entließ. Das erwies sich für Hitchcock als Glücksfall, denn nun durfte er selbst Regie führen: Der Produzent Michael Balcon, der ebenfalls am Beginn seiner Karriere stand und einer der Großen des britischen Kinos werden sollte, hatte das Talent des damals 25-Jährigen erkannt und ließ ihn machen. Keiner der Filme, bei denen Hitchcock nicht selbst Regie führte, galt jedoch bisher als erhalten. Nun fragen sich Filmhistoriker aus aller Welt, ob man bereits in „The White Shadow“ Hitchcocks Handschrift entdecken kann.

Die Amerikanerin Betty Compson, die zu den besser verdienenden Filmstars der 1910er Jahre gehörte, spielte Zwillingsschwestern in „The White Shadow“, einem der bis in die 40er Jahre beliebten Doppelgänger-Dramen. Wie dieser Film tatsächlich ausgeht, wird man wohl erst erfahren, wenn die restlichen drei Rollen noch gefunden werden. Inzwischen arbeiten die Restauratoren im neuseeländischen Wellington mit dem hochempfindlichen Nitro-Filmmaterial, das in Deutschland zu den Sprengstoffen zählt, weil es sich bereits ab einer Umgebungstemperatur von etwa 38 Grad Celsius selbst entzünden kann. Dem gleichmäßig milden, neuseeländischen Meeresklima ist es zu verdanken, dass die Gartenhütte des Jack Murtagh – anders als Nitro-Filmlager in aller Welt – nie in Flammen aufgegangen ist. Nun können zunächst SchwarzWeiß-Duplikate vom Original hergestellt werden, und erst dann wird man sich auch um die Rekonstruktion der ursprünglichen Farbgebung bemühen. Denn zu jener Zeit wurden die Szenen je nach dramaturgisch beabsichtigter Stimmung eingefärbt: So stand Blau für Nacht und Geheimnis und Rot für Gefahr, Feuer und Liebe.

Schon vor drei Jahren – und das war der jüngste Anstoß für massives Medieninteresse an derlei uralten Pretiosen – war man in Argentinien auf einen für die Filmwelt mindestens ebenso aufregenden Fund gestoßen: eine Kopie von Fritz Langs 1927 uraufgeführtem Monumentalwerk „Metropolis“, die ein Privatsammler und Filmkritiker an den Nationalen Kunstfonds verkauft hatte, von wo aus sie wiederum ans Filmmuseum in Buenos Aires gelangte. Man ahnte dort zunächst nicht, dass es sich hierbei um die ursprüngliche Fassung des Klassikers handelte, der, soviel man wusste, nach der Berliner Premiere nur stark gekürzt in den internationalen Verleih gekommen war. Erst als man sich daran erinnerte, dass sich ein Filmvorführer vor Jahren über die ungewöhnliche Länge des Films gewundert hatte, untersuchte man die Kopie. Und tatsächlich handelte es sich um die Lang'sche Urfassung von „Metropolis“, die nun in Deutschland sorgfältig restauriert und auf der Berlinale 2010 präsentiert wurde. Fest steht, dass nur ein Bruchteil der internationalen Filmproduktion seit ihren Anfängen um die Jahrhundertwende überhaupt erhalten ist. Das liegt hauptsächlich daran, dass zumindest bis zur Gründung der ersten nationalen Filmarchive in den 50er Jahren Film nicht als schützenswertes Kulturgut galt. Etwas, von dem es kein eigentliches Original gab, etwas, für das nicht ein genialischer Schöpfer allein verantwortlich zeichnete, konnte nicht Kunst sein, trotz aller Diskurse, die seit den 20er Jahren um das damals noch sehr neue Medium geführt wurden. Erst seit die Regisseure der Nouvelle Vague in den 50er Jahren, die zuvor selber oft genug Filmkritiker gewesen waren, einer Reihe von Kollegen – darunter Alfred Hitchcock – eigene schöpferische Handschriften attestierte, wurde der Film endgültig zu den Künsten gezählt. Bis dahin aber wurden Lagerbestände von Produktionsfirmen einfach vernichtet, schmissen Verleiher und Kinobesitzer Filmkopien auf den Müll; andere fielen dem Zweiten Weltkrieg zum Opfer.

Eines aber dürfte gewiss sein: Weder Jack Murtagh in Neuseeland noch der argentinische Filmkritiker brachten die historischen Filmrollen wohl unter gänzlich legalen Umständen an sich. Hoffentlich aber gab und gibt es noch andere obsessive Filmsammler wie die beiden, deren Archive irgendwann an öffentliche Institutionen übergehen und dadurch gerettet werden. Ihnen allein ist es zu verdanken, dass manch verschollen geglaubter Film wiederentdeckt werden kann.

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