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Gesundheit: Alles nur eingeredet

Manche traumatischen Erlebnisse werden erst vom Therapeuten in die Erinnerung eingepflanzt – Kritiker meinen: Wirklichen Missbrauch vergisst man nicht

Wieder hat ein Kind angegeben, von Popstar Michael Jackson sexuell missbraucht worden zu sein. Der Zwölfjährige sprach, wie berichtet, mit seinem Psychotherapeuten ausführlich darüber. In Amerika streiten Experten seit Jahren, ob und wie häufig Therapeuten ihren psychisch gestörten Patienten unbewusst folgendes Szenario suggerieren: Sie seien missbraucht worden, hätten das aber vergessen oder verdrängt und ein schweres psychisches Trauma, eine seelische Verletzung, davongetragen. Dies sei die Ursache aller Leiden.

Zufällig am selben Tag, an dem die Zeitungen voll waren von der Jackson-Affäre, befasste sich die Vortragsreihe des Psychiatriekongresses im Berliner ICC mit dieser Problematik. Sie ist für uns relativ neu. Noch vor kurzem hatten es Menschen mit seelischen Traumata schwer, in ihrem Leiden ernst genommen zu werden. Ein Psychotherapeut aus dem früheren Jugoslawien erinnerte daran, dass sogar psychisch schwer verletzte Folteropfer in das Land ihrer Qualen abgeschoben wurden – und teilweise noch werden.

Weil Ausländerbehörden, Verwaltungsgerichte und Gutachter in diesen Dingen zu wenige Kenntnisse und Erfahrungen haben, forderte der Ärztetag 2002, Standards für Gutachter zu entwickeln. Das ist geschehen, und in Berlin richtet man sich schon danach. Die Unterschätzung anhaltender Störungen nach manchmal lange zurückliegenden schweren seelischen Verletzungen scheint jetzt in eine Überschätzung umzuschlagen. In Amerika ist es schon lange so weit. Der Moderator der Berliner Vortragsreihe, der Psychiatrie-Chefarzt der Schlossparkklinik, Hans Stoffels, sieht eine Inflation seelischer Störungen, die alle auf traumatische Erlebnisse zurückgehen sollen.

Seit die „posttraumatische Belastungsstörung“ als Krankheit offiziell anerkannt ist, gelte alles Mögliche als seelisches Trauma, vom Verkehrsunfall bis zum Aufenthalt auf einer Intensivstation. Schon werde das Leiden als eine neue Volkskrankheit ausgerufen, von der sieben Prozent der Bevölkerung im Laufe des Lebens betroffen seien.

Traumatisierende Ereignisse im Kindesalter werden oft erst während einer Psychotherapie bewusst. Und dabei handelt es sich in der Regel um sexuellen Missbrauch. Typischerweise sind offenbar vor allem labile und leicht beeinflussbare Frauen betroffen, die nach vielen Jahren des Vergessens oder Verdrängens in Therapiesitzungen nach und nach an solche Erlebnisse erinnert werden. Aber wie verlässlich ist dieses Erinnern, und welchen Anteil haben unbewusst lenkende Therapeuten? Dies fragte Jutta Schneider (Meiringen/Schweiz), die bei Stoffels über das „Syndrom der falschen Erinnerungen“ promovierte.

Die falsche Erinnerung ist zwar kein anerkanntes Syndrom, aber in den USA gibt es bereits seit 1992 eine „False Memory Syndrom Foundation“, gegründet von Eltern, deren erwachsene Töchter sie verklagt hatten, weil sie als Kind in der Familie missbraucht worden seien. Die Eltern wiederum verklagten die Therapeuten wegen „Einpflanzung falscher Erinnerungen“.

Studien zeigten, dass Kindesmissbrauch vergessen und viel später wieder erinnert wird. Es stellte sich aber auch heraus, dass Erinnerung stark beeinflusst oder sogar erfunden werden kann, wenn Autoritäten wie Psychotherapeuten wiederholt suggestive Fragen stellen und die Patienten auffordern, sich das Bild des Geschehens zu vergegenwärtigen. Oder wenn jemand durch intensive Lektüre und Gespräche über die Symptome in einer Selbsthilfegruppe sich auf einen einzigen möglichen Grund für alle Störungen konzentriert: das Kindheitstrauma. Da sollten Therapeuten wachsam sein und nach den Gründen für eine „unbewusste Opfersehnsucht“ suchen, riet Jutta Schneider.

Umfassende Hilfe brauchen die Patienten auf jeden Fall. Thomas Simmich von der Dresdner Hochschulklinik für Psychotherapie und Psychosomatik, wies auf den vielfältigen, wenn auch nur vordergründigen „Krankheitsgewinn“ (von der Zuwendung bis zur Frührente) durch Fixierung auf die Opferrolle hin, auch wenn sie nur eine Wahnvorstellung ist. Aber ein Therapeut könne nicht wirklich helfen, wenn er sich diesen Erwartungen anpasse, statt Konflikte zu lösen und die Persönlichkeit zu stärken.

Manche Therapeuten halten es für bedeutungslos, ob die traumatischen Erlebnisse real oder fantasiert sind. „Wir arbeiten mit den Bildern im Kopf des Patienten“, zitierte Stoffels und kommentierte: „Damit lügt man sich aber in die Tasche.“ Andere Psychotherapeuten vertreten eine laienhafte Gedächtnistheorie, wonach sich Daten und Fakten wie von einer Festplatte unverändert abrufen lassen. Erinnern sei aber Ergebnis eines psychischen Prozesses, der die realen Fakten umarbeite und womöglich neu konstruiere – was auch Freud erst im Laufe seines Lebens erkannt habe.

Zumindest die Gutachter kommen an der Aufgabe nicht vorbei, den Wirklichkeitsgehalt des Erinnerns zu beurteilen. „Bei Kindesmissbrauch ist das besonders schwierig, weil es in aller Regel keine Zeugen gibt“, sagte Renate Volbert vom FU-Institut für Forensische Psychiatrie. Das Vergessen und Erinnern komme hierbei zwar vor, aber relativ selten. Denn extrem stressreiche Erlebnisse blieben wegen ihrer Intensität besonders gegenwärtig.

Fazit: Wenn die Erinnerung an ein früheres Trauma erst nach wiederholten Bemühungen hochkommt, wenn die Ereignisse in den ersten beiden Lebensjahren stattgefunden haben sollen, wenn im Laufe der Zeit immer mehr Erlebnisse berichtet werden oder wenn sie besonders bizarr und extrem sind: Dann handelt es sich vermutlich um Pseudoerinnerungen.

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