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Gesundheit: Am liebsten Erstsemester

Sie werben in Kleinanzeigen der Stadtmagazine "tip" und "zitty" und in esoterischen Anzeigenblättern.An den Informationsbrettern der Unis hängen Werbezettel mit Angeboten zu Psychogruppen.

Sie werben in Kleinanzeigen der Stadtmagazine "tip" und "zitty" und in esoterischen Anzeigenblättern.An den Informationsbrettern der Unis hängen Werbezettel mit Angeboten zu Psychogruppen.In Mensaschlangen und sogar in den Uni-Cafés sprechen sie Studenten an.Am liebsten Erstsemester, die noch wenig Kontakte in der Stadt haben und orientierungslos sind.Sie, das sind sogenannte Sekten und Psychogruppen."Oft ist nicht auf den ersten Blick klar, daß es sich um religiöse Gruppen handelt.Zum Beispiel, wenn die Gruppen als Studienhilfe auftreten", sagt Hartmut Zinser, Professor am Religionswissenschaftlichen Institut an der Freien Universität (FU) und ein Kenner der "Szene"."Manchmal geben sie sich erst nach mehreren Treffen als solche zu erkennen."

Insgesamt sei der Erfolg der Anwerber an den Universitäten zwar nicht groß, "es klappt nur bei jedem zehnten", sagt Zinser.Und die "Durchlaufquote" sei in vielen Gruppen hoch, da viele Leute nach mehreren Einzelsitzungen häufig wieder abspringen.Trotzdem könne die Situation kritisch werden, wenn sich die Bindungen zu einer solchen Gruppe verfestigen.Zinser schätzt, daß 600 von rund 44 000 FU-Studenten Mitglieder "solcher Gruppen" sind.Insgesamt sind nach seinen Angaben etwa 60 Gruppen in Berlin konstant präsent.Wie sich die Mitgliedschaft in Gruppen entwickeln kann, beschreibt der Experte so: "Meistens fängt es mit der Zerstörung der sozialen Kontakte an.Häufig müssen Mitglieder ihr Geld an die Gruppe abtreten.Im schlimmsten Falle werden sie durch massiven Druck und Beeinflussung zu psychiatrischen Fällen - bis hin zur Einweisung in die Psychiatrie."

Mit solchen Einzelschicksalen hat Markus Wende oft zu tun.Der Student der Religionswissenschaften beschäftigt sich nach eigenen Angaben seit mittlerweile zehn Jahren mit Sekten.An der FU berät er ehrenamtlich Sektenopfer und deren Angehörige.Wie schnell man in eine Gruppe reinrutschen kann, veranschaulicht er an einem Fallbeispiel: Eine Biologiestudentin wohnt in einem Haus, in dem auch Mitglieder der "Gemeinde Jesu Christi Berlin e.V." als W G leben.Man lädt sie mehrmals zum Kaffee ein, nach ein paar Wochen läßt sie sich taufen, dann soll sie ihr Studium aufgeben, um in Rumänien zu missionieren.Als sie einen relativ unbekannten Mann - ebenfalls Mitglied der Vereinigung - heiraten soll, wird ihr Unbehagen so groß, daß es ihrer Schwester gelingt, sie zu einem Beratungsgespräch mit Markus Wende zu bewegen."Die einzige Chance, jemanden da wieder rauszuholen besteht nur, wenn die Person selbst an der Gruppe zweifelt", sagt Wende.Betroffenen rät er deshalb: "Sobald Zweifel an einer Gruppe bestehen, sollte man sofort eine Beratungsstelle anrufen und sich erkundigen, was dahintersteckt."

Thomas Gandow, Sektenbeauftragter der evangelischen Kirche, hält die Warnung vor Sekten und Psychogruppen ebenfalls für berechtigt.Gruppen wie Scientology bezeichnet er als knallharte Unternehmen: "Die verfolgen zwei Ziele.Geld zu bekommen und neue Arbeitskräfte, wie bei einer Armee zu rekrutieren." Als Köder dienten Managerseminare, die eigentlich keine sind.

Wer aus einer Gruppe aussteigen will, muß keine Racheakte von Gruppenmitgliedern befürchten.Dieser Ansicht ist jedenfalls die Sektenbeauftragte des Senats, Anne-Kathrein Rühle."Die Gruppen haben nur Angst, wenn Leute in die Öffentlichkeit gehen".Der Ausstieg falle mehr aus psychischen Gründen schwer.Probleme bereite den Aussteigern nämlich vor allem, "aus einer geschlossenen Welt in eine offene Welt zu treten", sagt sie.

Nach ihrer Einschätzung ist nicht jede Gruppe "konfliktträchtig".Unter diesem Begriff faßt sie Kriterien wie Bewußtseinskontrolle, Bezugskontrolle, Informationskontrolle und Alltagskontrolle zusammen."Wenn diese Kriterien in einer Vielzahl auftreten und ins Extreme verzerrt werden, dann ist das für uns konfliktträchtig und muß beobachtet werden." Warum sie nur ungern Gruppen beim Namen nennt, hat seinen Grund: "Informationen kommen sonst verkürzt rüber.Es hat außerdem keinen Sinn, vielleicht fünf Gruppen aufzuzählen, denn Gefahren können von jeder Gruppe ausgehen.Es hängt immer von jedem selbst ab, wie er den Einfluß der Gruppe verkraftet."

Im Rahmen vom "Forum Religion und Gesellschaft" veranstaltet das Religionswissenschaftliche Institut der FU in Zusammenarbeit mit dem Referat für Weiterbildung in diesem Semester eine Veranstaltungsreihe.Diese beschäftigt sich mit der aktuellen Einschätzung von Sekten, Psychogruppen und Esoterik.Die nächste Veranstaltung findet am 9.Dezember, 18 Uhr 30 mit Referent Bernd Steinmetz zu "Rechtliche Probleme mit neuen religiösen Gemeinschaften" statt.Ort: Hörsaal des Religionswissenschaftlichen Instituts, Altensteinstraße 40.Informationen über weitere Veranstaltungen gibt es unter der Rufnummer 838 40 89.

Beratungs- und Informationsstellen für Aussteiger

Der Berliner Senat informiert im Internet: www.sensjs.berlin.de , Stichwort "Familie".Sektenbeauftragte Anne-Kathrein Rühle ist täglich unter 90 26 55 74 zwischen 9 und 11 Uhr zu erreichen.

Markus Wende berät Sektenopfer nach telefonischer Absprache.Anfragen beim Asta unter 839 09 10 (Fax 831 45 36) oder schriftlich: Kibitzweg 23, 14195 Berlin.

Die Evangelische Zentralstelle für Weltanschauungsfragen ist eine wissenschaftliche Studien- und Beratungsstelle.Diplompsychologe Michael Utsch berät.Auguststraße 80, 10117 Berlin, Telefon 283 95 211.

Die Selbsthilfegruppe "Interim" für Aussteiger trifft sich jeden 1.und 3.Sonntag im Monat, Anmeldung unter 651 45 99.

Der Sektenbeauftragte der evangelischen Kirche Thomas Gandow, Telefon 815 70 40, berät und versendet Informationsschriften wie "Der Berliner Dialog".Im Internet: www.religio.de

Der katholische Beauftragte für Sekten Klaus Funke berät unter 39 73 22 00, 39 89 87/0 oder -42.

Den Bericht der Enquete-Kommission des Deutschen Bundestags gibt es kostenlos unter 02 28 / 16 274 53.kaw

KATJA WINCKLER

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