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Gesundheit: Eingehüllt in Fürsorge

Um die Kultur der Palliativmedizin zu verbessern, haben sich 20 Berliner Pflegeheime zu einem Netzwerk zusammengeschlossen Unsere Autorin hat eines von ihnen besucht – und erfahren, wie viel auch dann noch zu tun ist, wenn nichts mehr zu machen ist.

Sie sind diejenigen, die noch mal davongekommen sind. Deren Altersgenossen ganz jung im Zweiten Weltkrieg ihr Leben verloren haben. Die in den Jahrzehnten danach in Ost wie West Aufbauarbeit geleistet, Frieden und etwas Wohlstand genossen und in Berlin auch alle Etappen von Teilung und Wiedervereinigung miterlebt haben. Nun leben sie meist schon seit Jahren im verdienten Ruhestand. Die Menschen, die das Seniorenpflegeheim „Domicil“ in der Residenzstraße am idyllischen Schäfersee in Reinickendorf bewohnen, sind Kriegsgeneration. „Doch sie haben die Chance, bewusst alt zu werden und friedlich zu sterben“, sagt Katrin Sieg. Die 34-Jährige leitet eine Einrichtung, die mit dem Wort „Pflegeheim“ nur unzureichend beschrieben wäre. Obwohl hier fast nur Ältere und Hochbetagte einziehen, die pflegebedürftig sind.

„Gestorben wird in allen Heimen. Es macht allerdings einen Unterschied, ob wir das auch thematisieren und uns der Herausforderung stellen“, sagt Katrin Sieg. Genau das hat sich ihre Einrichtung, die seit fünf Jahren besteht, vorgenommen. Im Sommer 2011 hat sie sich dem Netzwerk Palliative Geriatrie angeschlossen, dem in Berlin 20 Einrichtungen angehören. Dieser Zusammenschluss, den die Robert Bosch Stiftung fördert, wird wiederum vom „Kompetenzzentrum Palliative Geriatrie“ organisiert und moderiert. Im März dieses Jahres hat das Zentrum 305 Berliner Pflegeheime aufgerufen, sich am Netzwerk zu beteiligen. Knapp zehn Prozent haben reagiert, 20 wurden zur Mitarbeit ausgewählt. Sie haben unterschiedliche Träger und verteilen sich über das gesamte Stadtgebiet. Zusammengenommen leben in diesen 20 Heimen rund 3000 alte Menschen, 1500 Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter arbeiten dort. Wer an dem Netzwerk teilnimmt, verpflichtet sich zur Weiterentwicklung des eigenen Konzepts und der Organisationsstrukturen. „Ziel ist die differenzierte und nachhaltige Umsetzung von Hospizkultur und Palliative Care in Berliner Pflegeheimen“, heißt es in einem programmatischen Text.

Palliativ: Das Wort suggeriert Klarheit und Wärme, beides strahlt Katrin Sieg im Gespräch aus. In Medizin und Pflege hat sich der Begriff eingebürgert, er bezeichnet die Behandlung und Betreuung von Patienten, deren Krankheiten nicht mehr geheilt werden können. Für das also, was Pflegekräfte und Ärzte tun, wenn in einem bestimmten und sehr eingeschränkten Sinn „nichts mehr zu machen“ ist. Das können durchaus anspruchsvolle Anwendungen modernster medizinischer Methoden sein – allerdings nicht im Dienst der Heilung, sondern der Linderung und Erleichterung. „Pallium“ ist das lateinische Wort für den wärmenden Mantel, den man einem Menschen umlegen kann. „Wenn nichts mehr zu machen ist, ist noch viel zu tun“ heißt denn auch der schöne Titel eines 2007 im Verlag Lambertus erschienenen Sammelbandes zum Thema „Wie alte Menschen würdig sterben können“.

Wie zum Beispiel die krebskranke Dorothea Kaiser (Name geändert), die seit drei Monaten im Domicil-Pflegeheim lebt. Der Sozialarbeiter ihrer Klinik hat sie hierher vermittelt, sie kam zusammen mit ihrem Mann. Der „Mantel“ der palliativen Betreuung wärmt im Bedarfsfall nämlich auch die erschöpften oder ratlosen Angehörigen und vermittelt ihnen Sicherheit. Die 70-Jährige mit der unheilbaren Krebserkrankung ist eine der Juniorinnen der Einrichtung. Der typische Bewohner ist eine Bewohnerin, hat die 80 schon überschritten, leidet an mehreren Grunderkrankungen und an einer leichten oder schwereren Demenz.

Kein Zweifel: Das ist die letzte Phase des Lebens. Doch auch sie gehört dazu. „Wir möchten möglichst viel Wohlbefinden verschaffen, wenigstens für bestimmte Augenblicke“, sagt Tino Knauer, der sich zusammen mit seiner Kollegin Ulrike Voßberg die Leitung des Pflegedienstes teilt. Wohlbefinden verschaffen Angebote wie Gymnastik im Sitzen, Singrunden, Handarbeiten oder weihnachtliches Basteln, Kartenspielen, eine Philosophierunde, Feste oder eine elektrische Eisenbahn. Schön ist auch, dass Betreuungsassistenten Spaziergänge an den nahen See oder in die Einkaufsstraßen ermöglichen. „Es gibt auch Bewohner, die solche Angebote nicht annehmen und sich lieber ganz in ihr Zimmer zurückziehen. Auch das ist in Ordnung, wenn es freiwillig geschieht“, sagt Ulrike Voßberg.

Und es gibt, zweitens, den endgültigen Rückzug, den der Tod bedeutet. „Zur Kultur unserer Einrichtung gehört, über dieses Thema offen und möglichst angstfrei zu sprechen“, sagt Katrin Sieg. Dass einer oder eine von ihnen verstorben ist, wird den Bewohnern des Domicil deshalb nicht verschwiegen. Kein Hinausschleichen mit dem Sarg durch die Hintertür. „Der Mensch kommt durch die Vordertür zu uns ins Haus, und er möchte es auch durch die Vordertür verlassen“, so Sieg. Im Durchschnitt haben die Bewohner dann zweieinhalb Jahre hier gelebt. Eine kurze Zeit, weit kürzer als noch vor einigen Jahren in Pflegeheimen üblich. Viele wurden vorher schon jahrelang ambulant zu Hause betreut, waren zeitweise in einer Tagesklinik untergebracht. Vier von fünf Pflegebedürftigen, die im Haus leben, sterben auch hier.

Hat der Betroffene in einer Patientenverfügung, gegenüber den Angehörigen oder dem Hausarzt erklärt, welche Behandlung er sich in einem lebensbedrohlichen Zustand wünscht? Darüber, aber auch über vermeintlich Banaleres wie das Wohlbefinden kann man nicht oft genug miteinander reden, meint Katrin Sieg. Miteinander Reden gehört fest zum Konzept: Einen Monat nach dem Einzug wird mit jedem Bewohner ein ausführliches Gespräch geführt, einmal alle drei Monate mit den Angehörigen.

Die Mitarbeiter brauchen zudem auch selbst untereinander reichlich Gelegenheit zum Austausch. In Gesprächskreisen unterhalten sie sich nicht zuletzt darüber, wie es ihnen selbst bei der Arbeit mit schwierigen Pflegebedürftigen, mit Todkranken und Sterbenden geht. „Da können wir dann auch heikle Fragen stellen wie: Warum bin ich gerade so aggressiv geworden? Darf ich überhaupt so fühlen?“, erzählt Tino Knauer. Eines wird schnell klar: Der Mantel der Palliativbetreuung ist kein Mantel des Schweigens.

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