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Gesundheit: Schlechte Diagnose für die Reformuniversität

Witten-Herdecke ist für patientenorientiertes Medizinstudium bekannt. Jetzt gibt es Kritik am Niveau

„Natürlich gibt es Hochschulen, die größer und reicher sind“, so die Mediziner der Uni Witten-Herdecke in ihrer Selbstdarstellung, „aber nirgendwo sonst kommen so viele Menschen zusammen, die für einen gemeinsamen Traum brennen: Das Gesundheitswesen kann und muss anders werden.“

Nach dem jüngsten Votum des Wissenschaftsrates droht abruptes Erwachen aus dem Traum. Das Gremium sieht für die nordrhein-westfälische Privat-Uni nur zwei Möglichkeiten: „Entweder entwickelt sie für die Humanmedizin eine grundlegende Neukonzeption, oder aber sie stellt sie vollständig ein.“

Die Uni als solche bekam bei dieser Gelegenheit vom Wissenschaftsrat, dessen Empfehlung die Landesregierung Ende 2003 erbeten hatte, für drei Jahre ihre Akkreditierung. Die Bachelor- und Master-Studiengänge waren schon zuvor akkreditiert worden. Für die Bio- und Wirtschaftswissenschaften erntete die kleine Hochschule an der Ruhr sogar besonderes Lob.

Die Kritik an der Medizin kommt für die Öffentlichkeit überraschend, gilt die mit über 300 Studenten weitaus größte Fakultät doch als das Herzstück der 1982 gegründeten und maßgeblich von Mediziner und Ministerbruder Konrad Schily geprägten Privat-Universität. Medizinstudium in Witten-Herdecke, das stand für eine Alternative im Herzen der Schulmedizin selbst. Es stand für Praxisnähe schon vom ersten Semester an, aber auch für ethische Reflexion des Handelns dank des für alle verbindlichen „Studium fundamentale“.

Auch der Wissenschaftsrat würdigt jetzt die „Anstöße zur Neuorientierung des Studiums der Humanmedizin“. Es seien Elemente in die Medizinerausbildung eingeführt worden, „für die man dankbar sein muss“, sagte der Vorsitzende des Wissenschaftsrates Karl Max Einhäupl, Professor für Neurologie an der HU Berlin, Universitätsklinikum Charité, dem Tagesspiegel.

Allerdings, so moniert der Wissenschaftsrat, gebe es „erhebliche inhaltliche und strukturelle Schwächen in Lehre und Forschung“. Eine „auch nur annähernde Gleichwertigkeit mit anderen universitätsmedizinischen Einrichtungen“ sei nicht gegeben. Der weitaus größte Teil der Professoren, die diese sicherstellen sollen, arbeitet in den elf im Umkreis von 70 Kilometern verstreuten Kliniken, die mit der Uni kooperieren.

Unter diesen Professoren ist auch Radiologie-Lehrstuhl-Inhaber Dietrich Grönemeyer, der zugleich in Bochum sein Institut für Mikrotherapie betreibt. Auf Betreiben des Wissenschaftsrates, der sie 1991 und 1996 evaluierte, hatte die Uni die Zahl der kooperierenden Krankenhäuser in den letzten Jahren schon von 18 auf elf reduziert.

Sie unter einen Hut zu bringen, scheint trotzdem nicht einfach. Die in unterschiedlicher privater Trägerschaft verwalteten Kliniken kooperierten „weder untereinander noch mit der Uni“, kritisiert der Bericht. Die Zersplitterung lasse das Entstehen von Forschungsschwerpunkten nicht zu. Einhäupl bezeichnet die Forschungsleistungen als „nahezu unsichtbar“, Witten-Herdeckes Mediziner publizierten kaum in angesehenen internationalen Fachzeitschriften, die Menge der eingeworbenen Drittmittel sei verschwindend gering.

Der Bericht vermisst ausreichende Wechselwirkungen mit den vom Wissenschaftsrat gelobten Biowissenschaften, „was in erster Linie an der besonderen Lehrorientierung der Fakultät für Medizin und weniger an der Fakultät für Biowissenschaften und ihren medizinnahen Forschungsthemen liegt“.

Zur „besonderen Lehrorientierung“, mit der Witten-Herdecke im deutschsprachigen Raum in den 80er Jahren eine Vorreiterfunktion erfüllte, gehört der frühe Kontakt mit Patienten, die Arbeit in Kleingruppen und das „problemorientierte Lernen“.

„In der Zeit, in der Witten-Herdecke in der Lehre mit Innovationen enorm gepunktet hat, konnte man in anderer Hinsicht ein Auge zudrücken“, sagt Einhäupl. Elemente des Modellstudiengangs, der seit nunmehr 22 Jahren entwickelt wird, finden sich aber inzwischen auch in Reformstudiengängen großer, staatlicher Universitäten.

„Sämtliche Modellstudiengänge fußen auf unserem Beispiel, das wir immer weiter verfeinert haben“, sagt Uni-Pressesprecher Olaf Kaltenborn. Einige Elemente wurden zudem in die seit Oktober 2003 gültige Ärztliche Approbationsordnung aufgenommen. Die neue Ordnung erhöht aber zugleich die Anforderungen, die an die angehenden Ärzte gestellt werden. Der Wissenschaftsrat fürchtet nun, die Mediziner aus Witten-Herdecke hätten „keine überzeugenden Vorstellungen zur inhaltlichen wie personellen Bewältigung des deutlich erweiterten Lehr- und Lernspektrums“.

Die Studenten erhielten ein Viertel weniger Unterrichtsstunden als anderswo. Vor allem „reduzierte naturwissenschaftliche Ausbildung“ wird moniert. Als „völlig übertrieben und an den Haaren herbeigezogen“, bezeichnet Klaus Landfried, ehemaliger Präsident der Hochschulrektorenkonferenz und seit März Mitglied des Direktoriums der Wittener Uni, diese Kritik in der „Westfälischen Rundschau“. Die naturwissenschaftlichen Grundlagen würden den Studenten im Wittener Konzept teilweise direkt in der Praxis vermittelt, argumentiert auch Kaltenborn. Wichtigster Garant für die praktische Umsetzung dieses Konzepts sind die beteiligten Krankenhäuser mit ihren insgesamt 3000 Betten, an erster Stelle das Helios-Klinikum in Wuppertal, dazu kommen 100 kooperierende Hausarztpraxen. „Ihnen allen fehlt das Personal für die Lehre, von der Forschung ganz zu schweigen“, kritisiert Einhäupl. Die Kliniken zahlten sogar dafür, dass sie das „Label Uniklinik“ nutzen könnten.

Einhäupl fürchtet, die Ausbildung könne leiden, wenn die enge Verbindung der Lehre zur Forschung und ihrer Methodik fehle. „Ärzte müssen heute die Kompetenz haben, neue Verfahren kritisch zu bewerten.“ Im Kern geht es um die Frage, ob an dieser einzigen Medizinischen Fakultät einer privaten Uni in Deutschland die universitären Standards noch erfüllt werden.

Trotz dieser Bedenken dürfen sich auch im kommenden Semester 42 anfänger in Witten für das Medizinstudium einschreiben, nachdem der neue Wissenschaftsminister von NRW, Andreas Pinkwart (FDP), für die Neueinschreibung noch einmal grünes Licht gegeben hat.

„Im Interesse der über 1000 Bewerber ist das eine gute Entscheidung, sagte Uni-Präsident Wolfgang Glatthaar am Donnerstag bei einer Pressekonferenz. Zudem versprach er „tragfähige und zukunftsweisende Antworten“ auf die Empfehlungen des Wissenschaftsrates. Vor allem im Bereich der Forschung wolle man deutliche Anstrengungen machen, präzisierte Kaltenborn.

Die Kritik an angeblichen hohen Abbrecherquoten und schlechten Prüfungsergebnissen könne man dagegen nicht nachvollziehen, da sie auf der falschen Interpretation von Zahlen beruhe. Auch Einhäupl gesteht zu, dass die Qualität der Lehre prinzipiell „extrem schwer“ zu evaluieren sei. „Man kann aber zumindest feststellen, dass sich das erklärte Markenzeichen der Uni, die besonders gute Lehre, nicht in Noten ausdrückt.“

Im Unterschied zu den staatlichen Unis nimmt Witten-Herdecke nicht am zentralen Verfahren zur Studienplatzvergabe teil, sondern wählt seine Bewerber selber aus. Das Medizinstudium kostet 25000 Euro, die einkommensabhängig auch später zurückgezahlt werden können. Alle Bewerber müssen zuvor mindestens ein halbes Jahr Pflegepraktikum im Krankenhaus absolviert haben.

Viel länger als ein halbes Jahr darf es nicht dauern, bis eine Neukonzeption vorliegt – sonst dürfen sich im nächsten Jahr keine Erstsemester einschreiben, wie das Ministerium androhte. Dass der Andrang groß und die Uni in Rankings regelmäßig weit oben zu finden ist, ist für den Wissenschaftsrat nicht unbedingt ein Maßstab: „Wir sind schließlich als Wissenschafts- und nicht als Wellnessrat tätig“, sagt Einhäupl. Und er präzisiert: „Wir haben nicht behauptet, dass an der Uni Witten-Herdecke schlechtere Medizin betrieben würde. Wir hatten uns mit der Frage zu beschäftigen, ob das im Rahmen einer Universität geschieht.“

Adelheid Müller-Lissner

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