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Panorama: Im Angesicht der Schuld

Der mutmaßliche Mörder Julias verbrannte sich bis zur Unkenntlichkeit – ab Mittwoch steht er vor Gericht

Das Kind ist tot, der Mann, der es umgebracht hat, lebt noch soeben. Seine Haut ist verbrannt. Wenn er sein Bett verlässt, muss er in einem Spezialrollstuhl sitzen. Seine Beine werden durch eine Halterung in der Waagerechten gestützt, weil er die Knie nicht beugen kann. Sein Gesicht ist vernarbt, er hat monatelang im künstlichen Koma gelegen, ist abgemagert, nicht mehr wiederzuerkennen. In seinem Keller war Benzin explodiert. Vielleicht wollte er sich umbringen, vielleicht wollte er etwas verbrennen, das seine Schuld bewies. Er sagt nichts dazu, genauso wie er über die Tat schweigt, die er begangen haben muss; die Indizien sind erdrückend. Thorsten V., 34, ist angeklagt, die achtjährige Julia Hose aus dem hessischen Biebertal ermordet zu haben. Von Mittwoch an wird ihm vor dem Gießener Landgericht der Prozess gemacht.

Sommer 2001. Deutschland sucht nach verschwundenen Mädchen. Nach Peggy, Adelina, Julia. Kanzler Gerhard Schröder sagt, Kinderschänder müsse man wegsperren, und zwar für immer. Der Fall Julia beginnt am 29. Juni. Auf einem Spielplatz im hessischen Biebertal spritzen sich ein paar Kinder mit Wasserpistolen nass. Julia ist auch dabei. Sie will ihren Badeanzug und ihre Wasserpistole holen, deshalb geht sie nach Hause. Als sie zum Spielplatz zurückkommt, sind die anderen Kinder weg. Ein paar Zeugen sehen Julia dann noch in der Nähe, gegen 17 Uhr 30 verliert sich ihre Spur.

Eine Sonderkommission mit 70 Mann fahndet nach ihr, lässt Mülltonnen durchwühlen, in Kanälen suchen, in Regentonnen und stillgelegten Steinbrüchen. Eine Reiterstaffel durchstreift Wälder, Hubschrauber kreisen, allein die Feuerwehr ist mit fast 1000 Mann unterwegs. Eine solche Fahndung gab es noch nicht in der Geschichte der hessischen Polizei. Doch zunächst führt sie zu nichts. Insgesamt 4000 Hinweise gehen ein, „allein mit Wahrsagern könnte man ganze Ordner füllen“, erzählt Michael Pfendesack, der damals die Soko leitete.

Am 3. Juli kurz vor Mitternacht entdeckt ein Radfahrer, der sich in der Nacht den Kopf freistrampeln will, dass an der B 45 bei Niddatal, 50 Kilometer von Julias Wohnort entfernt, ein Holzstapel brennt; der Radler ruft die Polizei. Als das Feuer gelöscht ist, wird eine halb verbrannte Kinderleiche gefunden. Es ist die tote Julia.

Thorsten V. soll das Kind sexuell missbraucht haben oder das wenigstens versucht haben; ob der Missbrauch vollzogen wurde, konnte bei der Obduktion nicht mehr festgestellt werden. Anschließend, so die Anklage, habe V., um die Entdeckung der Tat zu verhindern, mit einem flächigen Gegenstand zwei wuchtige Schläge gegen Julias Kopf geführt, an denen das Kind gestorben sei. Die Leiche, noch mit Handschellen gefesselt, habe er verbrannt.

Auf die Spur von Thorsten V. – unauffällige Biografie, Buchhalter an der Gießener Universität, verheiratet, Vater einer wenige Monate alten Tochter – war die Polizei durch ein Radarfoto gekommen. Die Ermittler ließen sich alle Aufnahmen von Blitzgeräten aus der Nähe des Leichenfundorts kommen. Die Kiste mit den Radarfotos stand zunächst auf der Fensterbank im Gießener Polizeipräsidium, eine Woche lang. Die Soko war überlastet. Unzählige Hinweise waren eingegangen, mussten abgearbeitet werden. Michael Pfendesack wartete auf Verstärkung. Als die da war, griff er in die Kiste mit den Fotos und blätterte sie durch, da fiel ihm das Bild in die Hände mit einem Kennzeichen aus der Gegend, aus der Julia stammte. „FB – TV 61“, vielleicht steht „TV“ für „Tatverdächtiger“, hatte Pfendesack gescherzt. Er schickte seine Beamten zu dem Verdächtigen; warum er mitten in der Nacht in Niddatal unterwegs gewesen sei? Thorsten V. sagte aus, er habe sein Auto mal „freiblasen“ wollen.

V. ließ die Polizisten bereitwillig das Auto durchsuchen: ein dunkler Kombi, wie ihn Zeugen gesehen hatten; er war frisch geputzt und roch stark nach Zitrone. Für den Abend, an dem der Mord geschah, gab V. ein Alibi an: Er sei mit seiner Frau zu Hause gewesen. Als die Beamten die Mobiltelefon-Verbindungen von Thorsten V. und seiner Frau überprüften, stellten sie jedoch fest, dass die beiden an dem Abend telefoniert hatten.

Das war der Auslöser: Die Polizei wollte das Haus der Familie V. durchsuchen. Zwei Tage vor der geplanten Aktion lief jedoch im Polizeipräsidium die Meldung ein: „Brand im Haus V.“ Flammen schlugen aus dem Schornstein, Thorsten V. rannte brennend in den Vorgarten, löschte sich mit einem Gartenschlauch.

„Kein Monster zur Schau stellen“

Dass er der Täter war, schien nun sicher, und in einem Schrank im Keller schlugen Leichenspürhunde an. Doch der Verdächtige konnte nicht befragt werden. Er lag im Krankenhaus. Erst Monate später wurde die Vermutung von DNS-Analysen untermauert. Nun war klar, dass V. ein Paar Latexhandschuhe getragen hatte, das nicht weit von dem brennenden Holzstapel gefunden wurde. Daneben lag eine Schachtel Marlboro Lights, V.s Marke. Ein Stück vom Teppichboden aus dem Haus der V.s wies außerdem kleinste Blutspuren auf, die von Julia stammten.

Manche sagen, Thorsten V.s Verletzungen seien Strafe genug. Doch diese Strafe sieht das Gesetz nicht vor. Sein Mandant sei nicht verhandlungsfähig, hatte der Verteidiger zunächst argumentiert und angedeutet, es sei nicht human, einen Mann, der aussieht wie Thorsten V., der Öffentlichkeit vorzuführen. Die Richter wollten sich selbst ein Bild machen und besuchten V. in seiner Zelle im Krankenhaus der Justizvollzugsanstalt Kassel.

Ein Gutachter kam schließlich zu dem Schluss, dass Thorsten V. zwei bis drei Stunden am Tag in der Lage ist, an einer Gerichtsverhandlung teilzunehmen. Weil sie „kein Monster zur Schau stellen“ wollen, wie Oberstaatsanwalt Hübner sagt, sind Vorrichtungen geschaffen, damit der entstellte Angeklagte nicht den Haupteingang benutzen muss – zu seiner eigenen Sicherheit und um seine Würde zu wahren.

Thorsten V. selbst hat bisher jede Aussage verweigert. Nur mit Sat 1 hat er einmal gesprochen, kurz nach dem Mord und vor der Explosion im Keller. Die Reporter des Fernsehsenders machten in Julias Nachbarschaft eine Umfrage; Thorsten V. interviewten sie beim Straßefegen. V. sagte, wenn so etwas mit so kleinen Kindern passiere, stimme ihn das schon bedenklich. Er habe ja selbst ein kleines Kind.

Tanja Stelzer

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