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Peru: Absturz im Urwald

Eine deutsche Biologin flog als Kind über Peru. In 3000 Meter Höhe krachte es, sie fiel in ihrem Sitz zur Erde - und überlebte.

Berlin - Plötzlich ist sie allein in der Luft. Eben noch saß Juliane Koepcke neben ihrer Mutter im Flugzeug, auf dem Weg zu ihrem Vater. Weihnachten sollten alle zusammen sein, es ist Heiligabend 1971. Doch der Linienflug von Lima zur Forschungsstation des Vaters mitten im Urwald kommt nie an, die viermotorige Turbopropmaschine stürzt ab. Die damals 17-Jährige überlebt – als Einzige. Es ist eine Geschichte, die an das Flugzeugunglück Anfang der Woche erinnert, bei dem ein 14-jähriges Mädchen einen Airbus-Absturz vor den Komoren als Einzige überlebte. „Ein Wunder“, sagen die Ärzte. Wie bei Juliane Koepcke.

Eigentlich wollten sie einen Tag vorher fliegen, am 23. Dezember. „Ich wollte aber nicht den Abschlussball verpassen in meiner Schule, also haben wir den Flug verschoben“, sagt Juliane Koepcke. Sie mussten mit einer anderen Gesellschaft fliegen, Lansa, die keinen guten Ruf hatte. „Wir wussten das, hatten aber keine Wahl.“ 30 Minuten geht alles gut. Dann gibt es Turbulenzen, „der Himmel war auf einmal total schwarz“, erinnert sich die heute 54-Jährige. Ihre Mutter ist sehr nervös. Als Juliane Koepcke aus dem Fenster schaut, sieht sie einen Blitzeinschlag. Ein Motor an der rechten Tragfläche steht in Flammen. Dann geht alles ganz schnell. Sie sitzt angeschnallt im hinteren Teil der Maschine, ihre Sitzbank bricht raus. Das Flugzeug stürzt ab, aus 3000 Metern Höhe. „Ich hörte noch ein irrsinniges Brausen, als ich durch die Luft geradewegs auf den peruanischen Urwald zuflog“. Dann Stille. Sie verliert das Bewusstsein.

Als sie erwacht, sitzt sie auf ihrem Platz in der Dreiersitzreihe 19, Platz F. Doch das Flugzeug vom Typ „Electra“ ist in mehrere Teile zerbrochen. Um sie herum Wrackteile. „Der Absturz war gegen Mittag, am nächsten Tag bin ich wieder zu mir gekommen, es war neun Uhr“, sagt Koepcke. Ihre Uhr funktioniert noch. Ihr ist schwindelig, eine starke Gehirnerschütterung. Nach einigen Stunden geht es ihr besser, sie kriecht durch das Unterholz, findet eine in den Boden gerammte Sitzreihe mit drei Toten darin. Ihre Mutter ist nicht dabei. „Ich habe nach Hilfe und meiner Mutter gerufen, niemand war dort“.

Als sie wieder gehen kann, macht sie sich auf den Weg, um Hilfe zu suchen. Sie kennt den peruanischen Dschungel. Juliane Koepcke wurde in Peru geboren, ihre Eltern waren bekannte Zoologen, die den Dschungel erforschten. „Mein Vater brachte mir bei, wie ich mich im Urwald verhalten muss.“ Sie ist sich sicher, sie hätte ohne dieses Wissen nicht überlebt. Zehn Tage kämpft sie sich durch den Regenwald. Ihr Vater sagte, sie müsse einen Bach suchen und ihm folgen, wenn sie sich einmal verlaufen sollte. Er würde sie zu einem größeren Fluss führen, wo sie Menschen findet. „Nahe der Absturzstelle habe ich eine Wasserstelle gefunden und bin ihr gefolgt“, sagt sie. Trotz des gebrochenen Schlüsselbeins und einer Schnittwunde in der Wade geht sie unermüdlich weiter. Zu essen hat sie kaum etwas, nur eine Tüte Bonbons, die sie gefunden hatte. „Am schlimmsten war die Einsamkeit“, sagt die promovierte Biologin. Vor dem Wald hat sie keine Angst. Zuerst hört sie noch den Fluglärm der Suchmaschinen über ihr, doch nach einigen Tagen wurde es still. „Da wusste ich, die haben mich aufgegeben. Wenn ich überleben wollte, musste ich weitergehen.“

Sie ist mittlerweile sehr geschwächt. In ihrer Wunde im Bein haben sich Maden von Stechfliegen eingenistet. Auf ihrem Weg ruft Juliane Koepcke immer wieder um Hilfe, in der Hoffnung, doch noch Überlebende zu entdecken. Ihr Weg geht weiter, sie ist die ganze Zeit am Wasser geblieben, wo Krokodile, Piranhas und giftige Stechrochen lauern. „Aber ich wusste, wie die Tiere sich verhalten, ich hatte keine Angst. Auch weil ich wusste, dass Krokodile keine Menschen angreifen.“ Nachts kauert sie sich immer mit dem Rücken an einen Baum, obwohl sie nicht wirklich fürchtet, von einem Tier angefallen zu werden. Der nächtliche Regen und die Ungewissheit machen ihr mehr zu schaffen.

„Irgendwann habe ich mich nur noch im Wasser treiben lassen“, erzählt sie. Nach jeder Flussbiegung hofft sie auf Menschen. Die wilden Vögel klingen wie Hühner, die die Einheimischen halten. Doch da ist niemand. „Ich wurde immer antriebsloser, desillusionierter.“ Aufgegeben hat sie trotzdem nicht. Plötzlich geschieht das Unfassbare: Sie entdeckt ein Boot. Inzwischen ist sie am Ende ihrer Kräfte. Eigentlich wollte sie nur den Regen in der Holzhütte abwarten, die sie beim Boot entdeckt. Doch sie kann nicht mehr weiter, der Nahrungsmangel macht sie apathisch. Dann hört sie Stimmen.

Ihre Rettung sind Einheimische, denen sie auf Spanisch alles erzählt. Später erfährt sie, dass die Forschungsstation ihres Vaters nur 50 Kilometer von ihrer Absturzstelle entfernt war. Aber sie traute sich nicht, in den Dschungel zu gehen und den Wasserweg zu verlassen. Auch wegen ihrer Sehkraft. „Ich war kurzsichtig und meine Brille war kaputt.“

Ihre Ärzte können später nicht glauben, dass sie die zehn Tage überlebt hat. Sie hatte einen Kreuzbandriss im Knie, mit dem man normalerweise keinen Schritt mehr tun kann. „Davon habe ich nichts gemerkt, nur von meinem gebrochenen Schlüsselbein.“ Juliane Koepcke hat noch heute Nachwirkungen von den Verletzungen. Doch das seien alles Kleinigkeiten im Vergleich zu dem, was die anderen durchleiden mussten, die es nicht geschafft hätten.

Trotz ihrer Erlebnisse ist Juliane Koepcke wieder in Flugzeuge gestiegen. Sie flog eigentlich immer gern, war sehr interessiert an der Technik. Mit ihrem Vater unternimmt sie den ersten Flug nach dem Absturz. Die gleiche Strecke, auf der sie fast gestorben wäre. Auch heute fliegt sie immer wieder nach Peru und zur Forschungsstation. Inzwischen lebt sie in München, arbeitet in einer zoologischen Bibliothek. Seit 1972 ist sie in Deutschland, hier fühlt sie sich zu Hause. „Aber Peru ist meine Heimat, dort bin ich aufgewachsen, ich war die meiste Zeit im Regenwald.“ Wenn nur das Fliegen nicht wäre, sagt sie und lacht.

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