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Update

Polizei stürmt Wohnung: Opfer der Geiselnahme werden am Donnerstag obduziert

Eine Obduktion der Opfer soll neue Erkenntnisse zum Geiseldrama in Karlsruhe bringen. Ein 53-Jähriger hatte am Mittwoch bei einer Zwangsräumung vier Menschen und sich selbst getötet. Die Tat war offenbar geplant.

Nach dem blutigen Geiseldrama in Karlsruhe werden die Opfer am Donnerstag obduziert. Die Ermittler erhoffen sich davon Einzelheiten zum Tathergang. Die Polizei erhofft sich unter anderem Aufschluss darüber, wann die Lebensgefährtin des Täters getötet wurde. Auch untersucht sie die Wohnung weiter auf kriminaltechnische Spuren und will herausfinden, woher der Mann die Waffen hatte.

Aus Wut über eine Zwangsräumung erschoss ein Geiselnehmer am Mittwoch in Karlsruhe vier Menschen und sich selbst. Seine Lebensgefährtin und er sollten aus der gemeinsam genutzten Wohnung ausziehen. Der 53-Jährige ermordete den Gerichtsvollzieher, einen Schlüsseldienstmann, den neuen Wohnungseigentümer und auch seine Freundin. Nur ein Sozialarbeiter kam lebend davon.

Vertreter von Stadt und Polizei Karlsruhe informierten am Nachmittag auf einer Pressekonferenz über die Geschehnisse. „Es war eine regelrechte Hinrichtung“, sagte der Chef der Karlsruher Staatsanwaltschaft, Gunter Spitz. Der getötete Gerichtsvollzieher ist demnach 47 Jahre alt und Familienvater. Außerdem starb ein Schlosser, ein 33-Jähriger aus dem Raum Karlsruhe. Er hinterlässt eine schwangere Frau und kleine Kinder. Auch ein 49-Jähriger, der neue Eigentümer der Wohnung, wurde erschossen, er hinterlässt eine Lebensgefährtin.

Die Polizei geht davon aus, dass der Täter die Geiselnahme und Ermordung seiner Opfer von Anfang an geplant hatte. Der 53-Jährige hatte sich ein ganzes Waffenarsenal sowie Fesselwerkzeug bereitgelegt. Die Polizei fand ein Schrotgewehr, ein Gewehr mit langem Magazin, zwei Pistolen und eine Übungshandgranate bei ihm. Zudem habe der Täter über reichlich Munition verfügt. Damit hätte er sich eine lange Schießerei mit dem Sonderkommando liefern können, sagte ein Sprecher. Woher der Mann die Waffen hatte, ist noch unklar. Bei den Karlsruher Behörden waren sie nach Auskunft der Polizei nicht registriert. Der Deutsche Jagdschutzverband (DJV) teilte mit, dass der mutmaßliche Täter kein Jäger war: Er war weder bei der Waffen- noch bei der Jagdbehörde in Frankreich oder Deutschland gemeldet und besaß keinen Europäischen Feuerwaffenpass, hieß es in einer Mitteilung. Demnach handelt es sich wahrscheinlich um illegalen Waffenbesitz.

Video: Mehrfachmord in Karlsruhe war wohl geplant

Die bevorstehende Zwangsräumung habe seine „persönliche Existenz ins Wanken gebracht“, sagte ein Ermittler. Der Arbeitslose lebte mit seiner Lebensgefährtin in der Wohnung, zeitweise aber auch im Elsass. Er war französischer Staatsangehöriger. Die Frau war Eigentümerin der Wohnung, war aber mit den Zahlungen an die Hausgemeinschaft in Rückstand. Im April dieses Jahres wurde die Wohnung zwangsversteigert. Offenbar hielt sich der Täter auch regelmäßig in der Wohnung oder lebte sogar dort, sein Name stand am Klingelschild. Der neue Eigentümer wollte die Wohnung nun wegen Eigenbedarfs räumen lassen.

Die Tat spielte sich nach bisherigen Erkenntnissen so ab: Um acht Uhr morgens klingelte der Gerichtsvollzieher, begleitet vom Mitarbeiter einer Schlüsselfirma und auch einem Sozialarbeiter - eine Maßnahme der Stadt Karlsruhe, um den Geräumten Hilfe anzubieten. Vor dem Haus stand schon der Möbelwagen. Der 53-Jährige ließ das Team in die Wohnung. Dann nahm er die drei Männer als Geiseln, ebenso den neuen Wohnungseigentümer, der kurz danach in die Wohnung kam. Er zwang den Schlüsseldienst-Mitarbeiter, die anderen zu fesseln. Anschließend wollte der Täter den Schlüsseldienst-Mitarbeiter fesseln. Als dieser versuchte, dem Mann die Waffe zu entreißen, streckte ihn der Geiselnehmer mit mehreren Schüssen nieder und ließ ihn schwer verletzt liegen.

Erst später fanden die Beamten die Lebensgefährtin des Täters

Für den Zeitraum der nächsten Stunde ist bekannt, was sich in der Wohnung abspielte: Immer wieder verließ der Geiselnehmer das Wohnzimmer mit den gefesselten Geiseln, ging in die Küche, holte sich Bier, kehrte zurück Schließlich gestattete er dem Sozialarbeiter die Flucht. Dieser rief sofort die Polizei. Was danach in der Wohnung geschah, ist unklar, noch während der Sozialarbeiter durchs Treppenhaus floh, hörte er weitere Schüsse. Den ersten Notruf setzte er um 8:55 Uhr ab. Alle anschließenden Versuche, Kontakt zu dem Geiselnehmer aufzunehmen, blieben erfolglos. Nach knapp drei Stunden stürmte ein Einsatzkommando die Wohnung, weil Brandgeruch heraus drang. Der Geiselnehmer hatte den Teppich in Brand gesetzt.

Doch in der von Qualm erfüllten 3-Zimmer-Wohnung fanden die Beamten nur noch Tote: Der Täter hatte zwei der gefesselten Geiseln mit Kopfschüssen getötet und sich mit dem Schrotgewehr in den Kopf geschossen. Auch der Schlüsseldienst-Mitarbeiter war seinen Verletzungen erlegen.

Erst später fanden die Beamten die 55 Jahre alte Lebensgefährtin des Täters: Sie lag in ihrem Bett, mit einem aufgesetzten Brustschuss getötet. „Wir stehen alle noch unter dem furchtbaren Eindruck dieses schrecklichen Geschehens“, sagte Polizeipräsidentin Hildegard Gerecke. „Der Gerichtsvollzieher konnte mit dem schlimmen Verlauf zu keinem Zeitpunkt rechnen“, sagte Oberstaatsanwalt Spitz. Offenbar verübte der Täter im Jahr 2003 einen Ladendiebstahl und trug dabei ein Messer bei sich. Einschlägig als Gewalttäter war er aber nicht in Erscheinung getreten.

Video: Tote bei Geiselnahme in Karlsruhe

Unklar ist, ob die Lebensgefährtin des Täters zu Beginn der Geiselnahme bereits tot war. Der Sozialarbeiter, der flüchten konnte, berichtet, der Täter habe gesagt, seine Lebensgefährtin liege krank im Schlafzimmer. Er, der Sozialarbeiter, habe die Frau aber weder gesehen noch gehört, möglicherweise war sie also zu diesem Zeitpunkt bereits tot. Vielleicht wird dies durch die Obduktionen der Opfer geklärt werden können, sicher ist das aber nicht.

Die Polizei fand nach dem Notruf des Sozialarbeiters eine höchst unübersichtliche Einsatzlage vor. Der Zeuge berichtete auch davon, der Täter verfüge über eine Handgranate. Einige Stunden später sei klar gewesen, dass aus der Wohnung Brandgeruch drang, berichtet die Polizei. Deshalb habe man sich zum Zugriff entschieden, unter Inkaufnahme von Gefahr für die Beamten. In der Wohnung habe es starke Rauchentwicklung gegeben, 22 Beamte hätten deshalb später vorsorglich auf Symptome einer Rauchgasvergiftung untersucht werden müssen, seien aber wohlauf. Der Geiselnehmer hatte den Teppich in Brand gesetzt, als seine Opfer bereits tot waren.

Die Beamten fanden in der Wohnung zunächst vier Tote, später die tote Frau. Sie lag, erschossen durch einen aufgesetzten Brustschuss, im Schlafzimmer. Der Täter richtete sich durch einen Kopfschuss selbst. Er wurde 53 Jahre alt, seine Lebensgefährtin 55 Jahre.

Zu Beginn der Pressekonferenz sagte Polizeipräsidentin Hildegard Gerecke, es habe eine "sehr sehr schwierige, hochkomplexe Einsatzlage" mit "vielen Zielkonflikten" gegeben. Trotz der schrecklichen Ereignisse habe es eine hochprofessionelle Einsatzleitung gegeben, die Beamten hätten Gefahren auf sich genommen. Gerecke dankt allen Einsatzkräften und sagte, im Vordergrund stehe das Mitgefühl mit allen Angehörigen, "vor allem der Unbeteiligten". Es sei dafür gesorgt, dass die Angehörigen bestmöglich versorgt würden.

Gerichtsvollzieherbund fordert stärkere Unterstützung der Beamten

Der Deutsche Gerichtsvollzieherbund (DGVB) mahnte mittlerweile eine stärkere Unterstützung der Beamten an. Zwar könne bei Zwangsräumungen nicht ständig Polizeischutz gestellt werden, sagte der DGVB-Bundesvorsitzende Walter Gietmann am Mittwoch. Doch gerade bei solchen Vollstreckungen entwickelten sich immer wieder gefährliche Situationen. „Man trifft auf gewisse Aggressionen bei den Schuldnern“, und diese hätten in den vergangenen Jahren zugenommen. Mit Blick auf die Geschehnisse in Karlsruhe müsse nach Wegen für einen besseren Schutz der oftmals als „Alleinkämpfer“ ausziehenden Gerichtsvollzieher gesucht werden.

Zu dem Thema, unter welchen Umständen die Polizei Zwangsräumungen begleitet, äußerten sich die Beamten bei der Pressekonferenz ebenfalls. Es heißt, die Bluttat sei in keiner Weise absehbar gewesen. Die Polizei stehe immer bereit, Zwangsräumungen zu begleiten, dafür habe es aber in diesem Fall keinen Anlass gegeben, und deshalb sei auch keine Unterstützung der Beamten angefordert worden. Dass Sozialarbeiter Zwangsräumungen begleiteten, sei üblich, um die Betroffenen zu unterstützen und ihnen Perspektiven zu eröffnen. In diesem Fall sei geplant gewesen, die Lebensgefährtin des Täters zunächst in einem Frauenhaus unterzubringen.

Heinz Fenrich, Oberbürgermeister von Karlsruhe, sagte bei der Pressekonferenz, er sei nicht nur betroffen, sondern "entsetzt" über die Ereignisse. Man habe am Morgen einen "Verwaltungsstab", eine Einrichtung für Krisenfälle, aktiviert. Die Zusammenarbeit mit der Polizei sei hervorragend gewesen. Den Beamten dankte Fenrich für ihren Einsatz. Man müsse nun nachdenken, wo es möglicherweise Verbesserungen geben müsse. Den Worten Fenrichs zufolge ist ein Sommerfest abgesagt worden, das morgen im Rahmen der Wohnungslosenhilfe gemeinsam mit Sozialarbeitern gefeiert werden sollte.

Der baden-württembergische Justizminister Rainer Stickelberger (SPD) zeigte sich in einer ersten Reaktion auf die Geschehnisse „zutiefst erschüttert“ über die Geschehnisse. „Meine Anteilnahme gilt den Familien und den Angehörigen aller Opfer dieser unbegreiflichen Tat“, erklärte Stickelberger. „Wir müssen alles daran setzen, das schreckliche Verbrechen schnellstmöglich aufzuklären.“ Der baden-württembergische Ministerpräsident Winfried Kretschmann (Grüne) sagte: „Die schreckliche Tat in Karlsruhe hat mich zutiefst erschüttert.“ In Gedanken sei er bei den Opfern. Sein tiefes Mitgefühl gelte ihren Angehörigen. „Ganz Baden-Württemberg trauert mit ihnen.“

Die Geiselnahme ereignete sich in einem Mehrfamilienhaus in der Karlsruher Nordstadt. Der Tatort wurde in einem Umkreis von 400 bis 500 Metern abgesperrt. Die Polizei räumte mehrere Wohnhäuser, eine Schule und einen Kindergarten. Bei dem Kanalweg in der Karlsruher Nordstadt handelt es sich um eine große breite Straße in einem ehemaligen Wohnviertel der US-Armee. Die Nordstadt, erst 1996 nach dem Umbau der Kasernen entstanden, ist eine beliebte Wohngegend für Familien. Aus den Soldatenquartieren sind bezahlbare Wohnungen im Grünen entstanden.

Die Beamten räumten drei Wohnblocks in der unmittelbaren Nachbarschaft. Ein Gymnasium wurde zugeschlossen, Kinder und Lehrer wurden aufgefordert, die Räume nicht zu verlassen. Währenddessen bezog das Spezialeinsatzkommando Position. Die Männer waren maskiert, zum Teil mit Helm und Schild geschützt. Über dem Gelände kreiste in großer Höhe ein Hubschrauber, nur leise war sein Rotor zu hören. In Seitenstraßen gingen etliche Rettungsfahrzeuge in Position.

(mit dpa/AFP/dapd)

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