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Reise: Hier ticken sie anders

In der Schleiregion in Schleswig ist die Zeit scheinbar stehen geblieben. Begegnung mit norddeutscher Bedächtigkeit

Urige Ferienhäuschen mit spitzen Giebeln säumen die „Uferpromenade“ von Missunde. Na ja, eigentlich ist es ein besserer Feldweg, der sich irgendwann zwischen Wald und Wasser verliert. Hier wispert das Schilf geheimnisvoll, an staksigen Holzstegen schaukeln im aufkommenden Wind ein paar eher schlichte Boote. Schickimicki ist eben nicht hier oben in Deutschland. Die stählernen Schoten klackern unablässig an die Masten und manche Ferienhausgäste machen sich eben per Boot zum Einkaufen auf. So ist das hier, denn die Uhren ticken ganz gemütlich an der Schlei, diesem rund 40 Kilometer ins Landesinnere ragenden Wasserarm der Ostsee, der bis vor die Tore der Stadt Schleswig reicht.

In Missunde treten die Ufer der Schlei am engsten zusammen. Ein günstiger Standort also für die kleine Fähre, die von einem Stahlseil geführt, die kurze Strecke hin und her tuckert, neben Autos auch Radlern den langen Weg über Schleswig erspart, wenn sie von der Schwansener Seite nach Angeln hinüber wollen.

Um es gleich klarzustellen: Die Schlei wird von Tourismuswerbern gern „Ostseefjord“ genannt. Geologisch gesehen, ist sie jedoch weder Fjord noch Förde, sondern eher eine Schmelzwasserrinne aus der jüngsten Eiszeit. Doch die Wissenschaft mag sich da immer noch nicht so ganz festlegen.

Es ist einfacher zu sagen, was die Schlei nicht ist: Mit ihrer Tiefe von höchstens drei Metern fällt sie als Schifffahrtsweg für den Handel aus. Lange vorbei sind die Zeiten, als flache Boote mit Gütern durch die Schlei nach Haithabu, eine der umtriebigsten Handelsstädte im frühmittelalterlichen Nordeuropa, fuhren. Allerdings, noch heute bestimmen „Wikinger“ das Leben am Ort: ein lebendiges Museum zeigt eindrucksvoll den Alltag der Nordmänner.

„Die Schlei ist ja eigentlich kein Geheimtipp mehr“, sagt die junge Verkäuferin in der Bäckerei von Brodersby, als sie Brötchen für die heutige Radeletappe über den Tresen reicht. „Die Menschen kommen, um die gute Luft zu genießen, manche angeln auch – Plötzen, Brassen und Barsche. Und Kinder wollen natürlich baden. Doch die meisten Urlauber machen Radtouren bei uns.“

Das klingt ein bisschen altbacken und nach der Zeit, als man Zimmer noch an „Fremde“ statt an Feriengäste vermietete. Haben die Schleidörfer womöglich touristische Trends mit viel Rummel und Animation verschlafen? Es hat fast den Anschein.

Eingebettet zwischen sanfte Hügel, wo braune Kühe grasen, zieht die Schlei bisweilen eigenwillig gekrümmt ihren Weg vom Meer ins Landesinnere. Einer der zahlreichen Radwege führt über die Dörfer, zum Beispiel nach Ulsnis. Hier soll es ein Dorfmuseum geben, mit historischen Einrichtungsgegenständen und Kleidungsstücken, wie sie für die Region typisch waren. „Bis zum nächsten Hof, hinter dem Misthaufen rechts um die Hausecke“, lautet die Auskunft im Dorf für die suchende Radlerin. So einfach geht das, hier weiß jeder über fast alles Bescheid. Fast alles. Denn, ach je, das Museum ist nur an Sonn- und Feiertagen geöffnet.

Der Tourismus hat die Dörfer an der Schlei also bislang wahrlich nicht überrollt. So gestalten sich manche Dinge, wie etwa der Museumsbesuch, zäh. Doch das hat eben auch seinen Charme. Statt durch kalkulierte Geschäftigkeit möglichst viele Urlauber zufriedenzustellen, lässt man die Dinge eher treiben. Hinweisschilder für die Touristen? Unnötig, die können doch fragen.

Dass die Uhren an der Schlei anders ticken, ist auch in Kius zu sehen. Dort wohnt Uhrmacher Willi Tüxen. Von weither bringen ihm Kunden ihre alten, zum Teil antiken Zeitmesser zur Reparatur. In seiner Werkstatt tickt es lebhaft in den verschiedensten Tonlagen – eilfertig rasselnd oder mit dunklen schweren Schlägen. Der 51-Jährige mochte nicht mit der Familientradition brechen, die acht Generationen zurückreicht. Angeln war schließlich einst eine Hochburg der Uhrmacher. „Seit 1830 haben wir hier in Kius unseren Standort – aber nach mir wird wohl kaum jemand das Geschäft übernehmen.“ Da macht sich Tüxen keine Illusionen.

Kurz hinter Kius trennt sich die Radroute von der Straße, und es geht beschaulich durch eine Allee, über Wiesenpfade ganz in der Nähe des Wassers. Die Zahl der Radfahrer nimmt fast schlagartig zu. Na, alle auf dem Deekelsen-Törn? Knapp zehn Kilometer hinter Kius liegt nämlich der denkmalgeschützte Lindauhof aus dem 16. Jahrhundert: Durch die grüne Doppeltür dort geht „Der Landarzt“ ein und aus, Hauptfigur der gleichnamigen ZDF-Serie – und das Fernsehdorf wurde Deekelsen getauft. Tatsächlich jedoch verteilt sich das fiktive Deekelsen auf eine ganze Reihe verschiedener Drehorte zwischen Kappeln und Süderbrarup.

Stop! In Lindaunis wird soeben, wie immer 15 Minuten vor der vollen Stunde, die Klappbrücke hochgezogen. Über der Uferböschung spitzen die Masten der Segelboote, die nun freie Fahrt haben – Zeit also für einen „Klönschnack“ mit einem Düsseldorfer Radlerpaar, das hier regelmäßig unterwegs ist. „Die Brücke ist eine Stahlkonstruktion aus den 30er Jahren, doch die wollen sie abreißen und durch eine neue Klappbrücke wie in Kappeln ersetzen“, weiß der Mann. Offenbar ist örtlichen Politikern das etwas antiquierte Bauwerk ein Dorn im Auge. Ein Nadelöhr in Zeiten des flotten Verkehrs, heißt es. Hallo? Das wuchtige Monstrum, das sich vor uns gegen den Himmel reckt, soll verschwinden? Dabei passt es doch so gut zur Schlei, wo die norddeutsche Bedächtigkeit zelebriert wird. Schade wär’s.

Und die Düsseldorfer geben noch einen Tipp zur „schönsten Route an der Schlei“: über die Hügel nach Sieseby, dem vielleicht schönsten Dorf der Region, wo den Häusern Reetdachmützen fast bis über die Fenster gestülpt wurden.

Den ohnehin spärlichen Autoverkehr lässt man rasch irgendwo im Dorf zurück, die nächsten fünf Kilometer bis Winnemark geht es – immer auf Tuchfühlung mit der Schlei – ein Teilstück den Wikinger-Friesen-Weg entlang, der Schleswig-Holsteins Meere miteinander verbindet. Stattliche Adelsgüter und historische Herrenhäuser, noch heute zumeist im Eigentum alteingesessener Familien, säumen den Weg.

Wer es etwas munterer mag, sollte das „Landarzt“-Städtchen Kappeln nicht verpassen. Im ansehnlichsten Schmuckstück des Städtchens haben sich Tourist-Information samt standesamtlichem Trauzimmer eingerichtet: in der restaurierten Holländermühle „Amanda“ aus dem 19. Jahrhundert. Erstaunlich: Die Hälfte der Paare, die sich trauen, sind Urlauber.

Staunen dürfen die Besucher auch angesichts einer weiteren Besonderheit von Kappeln: Nahe der Klappbrücke befinden sich die einzigen noch funktionstüchtigen Heringszäune ganz Europas, eine verblüffend einfache Fanganlage wie im 15. Jahrhundert. Heringe schwärmen von der Ostsee in die Schlei und geraten dann in den reusenartigen Flechtzaun, an dessen Ende sich ein Fangnetz befindet.

Außerdem ein Muss in Kappeln: der Museumshafen. Schon vergessen geglaubte Schiffstypenbezeichnungen wie „Galeasse“ oder „Schoner“ tauchen hier auf. Übrigens – das Betreten der Steganlage ist ausdrücklich erwünscht und die Skipper der Museumshafenflotte geben gern Auskunft. Und zu fragen haben die Besucher an der Schlei ja schon gelernt.

Angelika Wilke

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