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Verwunschene Welt. Nur rund ein Zehntel der Fläche von La Gomera ist mit Urwald bedeckt. Längst haben die Insulaner seinen Wert für den Tourismus erkannt. Foto: vario images

© imagebroker / vario images

Reise: Zauber in Grün

Der Lorbeerwald auf der Kanareninsel La Gomera gehört zum Weltnaturerbe. Schmale Pfade – mit Meerblick – führen hindurch

Es riecht nach Moos und feuchtem Holz. Nur vereinzelt dringen Lichtstrahlen durch das tief hängende Wolkenmeer, durch Blattkronen und Nadeldickicht von Lorbeer- und Erdbeerbäumen, Myrten, Eschen und Zedern. Dort leben Fledermäuse, Tauben und wilde Kanarienvögel, im Unterholz tummeln sich Schnepfen, Skinke und Echsen. Schmale Pfade führen über weichen Waldboden, durch gebirgiges, immergrünes Gelände, vorbei an Baumstämmen, die von langhaarigem Moos ummantelt sind, vorbei an kniehohen Farnteppichen und dickem, verknotetem Wurzelwerk. Die Luft ist trüb und dampfig, doch niemals heiß. Der Blick reicht nicht weiter als ein paar Baumstämme.

Leicht könnte man sich verirren in diesem Zauberwald. Denn der Nationalpark rund um den Garajonay-Gipfel auf La Gomera wirkt verwunschen, unzugänglich, ganz und gar verwirrend. Doch das Wegenetz ist gut ausgeschildert und letztlich ist diese kanarische Wanderregion auch nicht sehr groß. Nur rund ein Zehntel der knapp 370 Quadratkilometer kleinen Insel ist noch von Urwald bewachsen. Am Waldrand oder in Lichtungen eröffnet sich immer wieder ein atemberaubender Blick auf den Berg Teide der Nachbarinsel Teneriffa. El Hierro, südwestlich gelegen, kann man nicht ausmachen. Seit Tagen grummelt es dort in der Erde, doch mit einem baldigen Vulkanausbruch ist nach letzten Analysen wohl nicht zu rechnen. „Für La Gomera besteht sowieso keine Gefahr“, heißt es auf der Insel.

Wer in dem Nationalpark und Unesco-Weltnaturerbe wandert, unternimmt nicht nur einen Ausflug in eine märchenhaft wirkende Welt, er macht auch eine Zeitreise. Der dichte, niedrige Wald ist ein lebendes Fossil, einer der wenigen verbliebenen Urwälder Europas. Er ist typisch für die atlantischen Regionen des gemäßigt subtropischen Klimas: Nicht nur auf den Kanaren, auch auf den Azoren und auf Madeira sind Laurisilva-Wälder gewachsen. Ewig feucht und ewig mild ist es dort. Dabei bietet La Gomera besonders günstige Bedingungen für diese Üppigkeit. Denn die Passatwinde des Südatlantiks treiben der Insel jeden Nachmittag von Norden Wolken mit feuchter Luft entgegen. Die bleiben an dem knapp 1500 Meter hohen Garajonay-Gipfel hängen, die Luft kühlt sich ab, zieht sich zusammen und setzt unendlich viele Wassertröpfchen frei: Gomeras bekannter „horizontaler Regen“. Der nährt nicht nur den Baumteppich in der Höhe, sondern die kreisrunde Insel insgesamt, ihre Schluchten und Kessel, ihre Hänge und Pässe.

Wie Zitronensaft in einer Presse suchen sich Sturzbäche, Wasserfälle und Rinnsale den Weg nach unten. Würden die Menschen das Wasser nicht kanalisieren und sammeln, strömte es tagtäglich ins Meer. Dieser Wasserkreislauf hält La Gomera seit rund zwei Millionen Jahren am Leben. Damals ist der Garajonay-Vulkan erloschen.

Den Passatwinden hat Teneriffas kleine Nachbarin also ihr beeindruckendes Millionen Jahre altes Naturrelikt zu verdanken. Und sie machen aus La Gomera die wasserreichste Insel des kanarischen Archipels.

Reich war das Eiland dennoch nie. Denn die stark zerfurchte Insel – sie wird auch „die Unzugängliche“ genannt – lässt sich nicht leicht bebauen. Treppenartig angelegte Terrassen durchziehen mancherorts die Hänge wie Falten. Lava hat die Erde auf diesen schmalen Feldern fruchtbar gemacht, doch Anbau und Ernte sind schwierig. Aufwendige Handarbeit, die wenig einbringt. Deshalb haben tausende von Gomeros in mehreren Auswanderungswellen ihre Heimat verlassen. Sie haben sich besonders in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts auf Teneriffa, in Venezuela oder auf Kuba verdingt. Doch seit ein paar Jahren kehren sie wieder zurück, den Passatwinden sei's gedankt.

Denn dass Wandern dem modernen Menschen ein Freizeitspaß ist, das kommt den rund 20 000 Einheimischen heute zugute. Sie leben neuerdings nicht mehr von Saat und Ernte am Steilhang, sondern vom Tourismus – vor allem vom Wandertourismus in ihrem Urwald. Denn Strände hat die steinige Schönheit nur wenige, und die sind von schwarzem, grobem Kiesel bedeckt. Wer es sich darauf gemütlich machen kann, ist entweder Fakir oder Hippie. Letztere haben La Gomera vor rund 40 Jahren entdeckt und bilden, neben den neuerdings gesichteten Wanderern, die erste Gruppe von Gomera-Fans.

Ganz im Sinne alternativer Aussteiger und ruhesuchender Naturliebhaber gestalten sich die Ferien auf La Gomera. Man kann sie sogar ganz ohne Auto organisieren, vorausgesetzt man liebt die Fahrten in hellgrünen Kleinbussen („Guaguas“) zwischen freundlich miteinander plaudernden Kleinbauern und Dörflern, die auf dem Markt des Hafenortes San Sebastián Kartoffeln und Tomaten verkaufen wollen oder dort einen Termin beim Facharzt haben. Gut ausgebaute Straßen, moderne Busse und erfahrene Fahrer machen diese Art der Inselerkundung zu einem entspannenden, fröhlichen Erlebnis.

Wer ein Auto mieten will, muss sich mit engen Kurven, starkem Gefälle und einer anderen Art der Distanzberechnung anfreunden. Gomerische Kilometer sind immer länger als jene im Rest von Europa: Hier braucht man für dreißig Kilometer gut und gerne eine Dreiviertelstunde.

Die Bushaltestellen der sieben Linien sind wanderfreundlich gesteckt: Viele Stopps liegen an strategisch passenden „Einstiegsstellen“ zum Urwald. Alles funktioniert wunderbar pünktlich. Die Busfahrer halten ihre Fahrpläne ein und sind auch beim Abholen an anderer Stelle verlässlich. Dieses öffentliche Busnetz wird von immer mehr Wanderern genutzt und ist Teil eines nachhaltigen Erschließungsplans, den die Gomeros befolgen. Sie befürworten verkehrsarme Straßen und den Ausbau von Wanderwegen, denn sie wissen, dass genau darin der Reiz ihrer Heimat liegt: Nur ein ungestörter Urwald ist ein richtiger Urwald.

Brigitte Kramer

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