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Theater in der ersten Reihe: Skandal um Erdogans kopftuchtragende Tochter

Die jüngste Tochter des türkischen Ministerpräsidenten Erdogan kaute Kaugummi in einer Vorstellung. Ein Schauspieler äffte sie angeblich nach – das hat Folgen.

Ein schöner Abend sollte es werden, doch es wurde ein Skandal. Als sich Sümeyye Erdogan, die jüngste Tochter des türkischen Ministerpräsidenten Recep Tayyip Erdogan, kürzlich zusammen mit einer Freundin das Theaterstück „Der junge Osman“ in Ankara anschauen wollte, bekam sie nur noch Karten für die erste Reihe. Und so nahm das Unglück seinen Lauf. Der Schauspieler Tolga Tuncer soll die 29jährige Premierstochter von der Bühne herab ungebührlich behandelt und beleidigt haben – alles nur wegen ihres islamischen Kopftuches, sagt Sümeyye Erdogan. Tuncer bestreitet das. Doch in der türkischen Kulturszene ist der Teufel los. Über Facebook verbreitete Sümeyye Erdogan ihre Sicht der Ereignisse am Staatstheater der Hauptstadt. Sie habe im Theater wie meistens einen Kaugummi im Mund gehabt, schrieb die junge Erdogan. Tuncer habe sie mit hochgezogenen Augenbrauen angeschaut, auf der Bühne das Kauen eines Kaugummis nachgeäfft und Andeutungen wegen ihres Kopftuches gemacht: Während einer Improvisation soll Tuncer auf Erdogan gezeigt und gesagt haben: „Was ist denn das?“ Sümeyye und ihre Freundin verließen darauf die Aufführung, mehr als hundert Polizeikadetten, die ebenfalls im Saal waren, schlossen sich laut Presseberichten an.

Seitdem ist in der türkischen Theaterwelt nichts mehr wie vorher. Das Staatstheater leitete ein Verfahren gegen Tuncer ein. Die regierungsnahe Presse berichtete, der Schauspieler habe schon häufiger Kopftuchfrauen im Publikum beleidigt. Der Schauspieler selbst weist alle Vorwürfe von sich. Bei fast 180 Aufführungen des Stücks habe es keine einzige Beschwerde gegeben, obwohl er stets mit Blicken und Gesten den Kontakt zum Publikum gesucht habe, erklärte er. Dass er es am Abend des 8. April mit der Tochter des Ministerpräsidenten zu tun hatte, will Tuncer erst später aus der Presse erfahren haben. Er habe niemanden beleidigen wollen.

Foto: AFP
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© AFP

Ob Tuncer nun wirklich eine Kopftuchfrau im Publikum verhöhnen wollte, oder ob es sich um ein Missverständnis handelte – der Streit zeigt das Ausmaß der Spannungen zwischen den traditionellen säkularistischen Eliten der Türkei und einer unter Erdogan erstarkten neuen Führungsschicht mit religiös-konservativer Identität. Das Theater und die Oper waren bisher Orte, an denen die türkischen Säkularisten unter sich waren. Sie betrachten sich selbst als westlich orientiert und blicken auf fromme Anatolier wie die Erdogans mit Verachtung herab.

Aber die Anatolier werden immer selbstbewusster. Sümeyye Erdogan, die in den USA Politikwissenschaften studierte und als Beraterin ihres Vaters arbeitet, ist eine typische Repräsentantin dieser neuen Elite, jung, gescheit und fromm. Auch im Theater tauchen diese Vertreter der neuen Türkei inzwischen auf, mitunter eben auch mit Kaugummi im Mund.

Für die Säkularisten ist Fräulein Erdogans Kaugummi ein weiterer Beweis dafür, dass die ungehobelten Anatolier keine Manieren haben. Immerhin habe die Tochter des Premiers ihren Kaugummi nicht auf die Bühne geklebt, ätzte der Bildhauer Mehmet Aksoy. Der Künstler hat mit den Erdogans noch ein Hühnchen zu rupfen. Der Regierungschef hatte eine Skulptur von Aksoy öffentlich als Monstrum bezeichnet – mit dem Ergebnis, dass das Kunstwerk nun abgerissen werden soll. Sümeyye Erdogan erkläre alles mit ihrem Kopftuch, dabei habe sie bloß keine Ahnung vom künstlerischen Element des Dialogs zwischen Schauspieler und Publikum, kommentierte der Schauspieler Tarik Akan. Ansonsten sei die ganze Angelegenheit nur lächerlich. Gegner werfen den Erdogans und der Regierung schon lange vor, jede kritische Bemerkung als Majestätsbeleidigung aufzufassen. Der Verband der Schauspieler an staatlichen Bühnen unterstützte Tuncer in seinem Streit mit Erdogan. Ob es diese staatlichen Bühnen noch lange gibt, ist nicht mehr so sicher. Ein Schauspieler habe seine Rolle zu verkörpern und sich nicht mit dem Publikum zu befassen, schimpfte Kulturminister Ertugrul Günay. „Für die Zukunft müssen wir uns fragen: Muss sich der Staat solche Einrichtungen noch weiter leisten?“ Wenig später ruderte der Minister allerdings wieder zurück. Er sei falsch verstanden worden, erklärte er.

Der Beliebtheit des Stücks hat die Affäre nicht schadet, im Gegenteil. Die Vorstellung am Wochenende war ausverkauft, auch Kopftuchfrauen seien im Publikum gewesen, berichtete die Presse. Am Ende habe es großen Applaus gegeben – auch für Tuncer. In seiner Improvisationsszene erwähnte der Schauspieler die Premierstochter mit keinem Wort, aber eine Anspielung konnte er sich nicht verkneifen. Er prostete den Zuschauern in der ersten Reihe zu und wandte sich dann an seine Mitspieler auf der Bühne. „Da sind Leute aus erlauchten Kreisen im Publikum“, sagte er. „Benehmt euch.“

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