zum Hauptinhalt
Georg Quedens

© Alexander Babic

Leben auf Amrum: Der alte Mann und das Meer

Er hat alles über Nordfriesland im Kopf und 100 000 Fotos im Schrank. Georg Quedens und sein Amrum.

Es war Spätherbst. Ich muss zehn oder elf Jahre alt gewesen sein. Wie fast jeden Tag war ich von vier Uhr morgens an in den Dünen unterwegs. Möweneier suchen. Karnickel jagen. Mit der Angelleine ins Watt. Es gab nichts Schöneres. Außer natürlich, Strandgut aufzuspüren. Wenn es nachts stürmte, wenn die Fenster klapperten, musste ich raus und nachsehen, ob etwas Wertvolles angeschwemmt wurde.

An diesem Morgen im Spätherbst war ich stundenlang barfuß durch den Sand gelaufen, der eisig kalt war vom Frühreif. Mit Schuhen wäre ich nicht schnell genug gewesen. Ich kannte damals jede Karnickelhöhle auf Amrum, und ich hatte keine Berührungsängste, wenn ich die Tiere zu fassen kriegte. An den Hinterläufen aus dem Loch gezogen, ein Handkantenschlag hinter die Ohren, zack, in Sekundenbruchteilen waren sie tot. Die Jagd ist wie eine Droge. Ich spürte damals nicht, wie die Kälte in meine Beine kroch. So holte ich mir eine bakterielle Entzündung in Knie und Hüftgelenk.

Die Erkrankung hat mein Leben verändert. Die Ärzte hatten nicht die Ausbildung wie heute, viele waren bessere Sanitäter. Mein linkes Bein blieb steif, ein Dutzend Operationen später hatte ich keine Gelenkpfanne mehr, dafür ein verkürztes Bein, irgendwann war auch noch eine Niere weg. Wer weiß, was aus mir geworden wäre. Vielleicht hätte ich studiert. Doch wegen der vielen Krankenhausaufenthalte war ich selten in der Schule und absolvierte nur sechs Klassen. So bin ich Fotograf geworden wie mein Vater, er hatte sich mit einem Fotoladen selbstständig gemacht. Dazu betrieb er eine Autovermietung. Diese Geschäfte sollte ich übernehmen.

Übernommen hat sie letztlich mein Bruder, der zunächst zur See fuhr und Kapitän werden sollte, aber diese Karriere wegen eines Augenfehlers nicht fortsetzen konnte. Für meinen Berufs- und Lebensweg war es ein Glücksfall, dass er schließlich die väterlichen Geschäfte fortführte. So hatte ich die Möglichkeit, mich selbst zu erfinden.

Ich konnte zwar nicht mehr so laufen wie vorher, doch meine Leidenschaft trieb mich weiter in die Dünen. Nur dass ich meine Objekte nun mit der Kamera erbeutete. Stundenlang kauerte ich in meinem Zelt. Man muss die Vögel täuschen, etwa indem jemand mitkommt, der dann das Zelt wieder verlässt. Mit der Zeit baute ich ein Archiv auf. Bis zu 300 Diavorträge halte ich im Jahr: über die Nordsee, das Wattenmeer, die Amrumer Vogelwelt und Amrum in der guten alten Zeit.

Er hat die letzten 300 Jahre im Kopf

Ich behaupte: Es gibt wenige Menschen, die sich für Natur und Geschichte so interessieren wie ich. Und keinen, der sich in Nordfriesland so auskennt wie ich. Ich habe die letzten 300 Jahre im Kopf. Natürlich kann ich Ihnen auch sagen, wo Rungholt lag. Das wird gerne gefragt. Rungholt war ein blühender Handelsort an der nordfriesischen Küste, der in der Großen Mandränke, eine tödliche Sturmflut von 1362, in den Fluten versank. Die Überreste liegen zwischen Pellworm und Nordstrand, nordwestlich von Südfall.

Ich habe über die Besiedlung der Marschen, der Inseln und Halligen geschrieben, über den Deichbau, die Sturmfluten und die zerstörerische Kraft des Meeres. Ich weiß nicht, wie viele Bücher insgesamt. Dazu kommen noch die Jahreschroniken von Amrum, von denen auch schon 30 Bände erschienen sind. Die machen eine Höllenarbeit. Einer muss sich unserer Historie annehmen. Die Einheimischen achten mehr auf die Zimmerauslastung als auf ihre Geschichte. Der Friese liebt das Geld. Das muss man verstehen, schließlich war das Leben hier lange entbehrungsreich.

Bevor der Fremdenverkehr einsetzte, war Amrum geprägt von der Seefahrt. Amrumer Männer waren auf allen Weltmeeren. Als Walfänger im Eismeer, vor Spitzbergen, vor Island und Grönland. Mit der Handelsschifffahrt kamen sie bis nach Südamerika, Australien und in die Südsee.

Währenddessen blieben die Frauen mit den Kindern alleine und führten das Regiment. Fischfang war hier nie sonderlich ausgeprägt. Die Landwirtschaft reichte gerade für den Eigenbedarf. Die einzige lukrative Einnahmequelle war lange Zeit die Bergung gestrandeter Schiffe. Solange die Segelschiffe die Weltmeere dominierten, etwa bis 1900, gab es kaum einen großen Sturm ohne Strandungsfall. Die Schiffe kamen aus dem Ärmelkanal und waren auf dem Weg nach Bremen und Hamburg oder wollten um Skagen herum zu den Ostseehäfen. Bei Westwindstürmen trieben die Segler hilflos auf die Sandriffe und Untiefen, die bis zu zwölf Kilometer vor Amrum liegen. Auch viele Dampfschiffe traf dieses Schicksal. Der letzte prominente Strandungsfall war der des Holzfrachters Pallas. Er sorgte im Oktober 1998 monatelang für Schlagzeilen, weil er eine Ölpest auslöste.

Wenn der Sturm über die Brandung geht, liegt etwas Dunkles über der Nordsee. Was anderen Angst machte, bedeutete für die Amrumer gute Geschäfte. Ein Drittel des Wertes von Schiff und Ladung standen dem Berger zu, das waren in Einzelfällen bis zu 40 000 Courantmark, unvorstellbare Summen für eine arme Inselbevölkerung. Es gab damals in Norddorf, Nebel und Süddorf, später in Wittdün einen Strandvogt, der die Bergung leitete und den Papierkram erledigte. Es war keine Seltenheit, dass die Dokumentation Hunderte von Seiten umfasste. Die Amrumer Strandvogte und ihre Seeleute waren berühmt für ihre Tüchtigkeit.

Den Syltern gefiel das nicht. Bevor dort der Hafen von Hörnum gebaut wurde, musste der Strandvogt von Rantum mit seinen Leuten erst 14 Kilometer durch die Dünen stapfen, bevor er zur Bergung aufbrechen konnte. Die Amrumer waren von Norddorf aus in einer Stunde am Strandungsort auf Hörnum. So schnappten sie den Syltern einige Bergefälle weg. Das haben sie uns nicht vergessen.

Der erste Quedens auf Amrum war Zollkontrolleur, Leiter des Seezeichenwesens und kassierte die Barkengelder der Segler. Er kam 1734 aus dem Lüneburgischen über Föhr auf die Insel. Meine Vorfahren verdienten ihren Lebensunterhalt als Beamte, Schiffer, Seeleute, Kapitäne auf Handelsschiffen. Der berühmteste Quedens war der Bruder meines Urgroßvaters: Volkert Martin Quedens, 1844 geboren. Er fuhr mit 15 Jahren erstmals zur See und kam bis Hongkong und New York. 1890 gründete er den Badeort Wittdün auf der Amrumer Südspitze. Als Strandvogt wurde er in 21 Bergefällen genannt. Er muss ein gewaltiger Mann gewesen sein. Als Schiffsberger gebrauchte er seine Ellbogen, um Konkurrenten auszubooten. Ein einfaches Leben war ihm nicht vergönnt: Fünf seiner sechs Kinder starben.

Ein gefährliches Geschäft

Auch bei den Schiffsbergungen gab es immer wieder Tote. Das war ein gefährliches Geschäft, bei stürmischer See, im Winter bei Eiseskälte, in die Ruderboote zu springen, um Mensch und Material zu retten. Es ärgert mich, wenn ich diesen Blödsinn höre, der gerne verbreitet wird, die Amrumer hätten bei Sturm Feuer am Strand entzündet, um die Schiffe auf die Sandbänke zu locken. Das kann nur jemand erzählen, der keine Ahnung hat. Das Letzte, was ein Kapitän machen würde, wäre, ein Feuer an Land anzusteuern. In der Nähe von Land droht immer Strandung.

Neben der Bergung lebte Amrum hauptsächlich vom Strandraub. Dazu gehörten nicht nur das Sammeln von Vogeleiern und die Karnickeljagd. Auch Havarien, die nicht zu Bergungsfällen vor Amrum wurden, lieferten ergiebige Einnahmen. Am Strand wurde alles Mögliche angeschwemmt. Wrackholz, Masten, Tauwerk, Kisten mit Waren aller Art. Die Leute scherten sich wenig darum, dass das Einsammeln von Strandgut unter Strafe stand. Strandgut gehörte dem Gesetz nach dem Landesherrn. Wer erwischt wurde, konnte zu mehreren Monaten Zuchthaus verurteilt werden, was die Familien hart traf, weil damit der Ernährer ausfiel. 1816 mussten 27 Amrumer, ein Viertel der erwachsenen männlichen Einwohner, ins Gefängnis. Die Einheimischen aber sahen in ihrem Tun nichts Falsches, nach althergebrachtem Verständnis gehörte Strandgut dem Finder.

Auch ich habe in meiner Jugend so manches schöne Stück Holz gefunden. Das bedeutete, dass wir wieder ein paar Tage heizen konnten. Der Fund halb abgebrannter Talglichter sorgte dafür, dass wir in Kriegszeiten, als der Strom rationiert war oder ganz ausfiel, abends Mensch ärgere dich nicht spielen konnten. Zu meinen größten Funden gehörten eine große Tonne Rinderschmalz und etliche Dosen Bohnenkaffee. Für zwei Pfund Bohnenkaffee bekam man nach dem Zweiten Weltkrieg ein Ruderboot. Eines Morgens war der Strand voller Orangen. Das war 1947. Wer kannte 1947 schon Orangen? Noch heute erzählt man sich die Geschichte, als sechs Kisten mit Rasierklingen angeschwemmt wurden. Der Amrumer Rasierklingenmarkt brach daraufhin auf Jahrzehnte ein.

Nach 1945 trieb die Not die Menschen zwangsläufig an den Strand. Amrum hatte damals 800, vielleicht 900 Einwohner. Dazu kamen etwa 1000 Flüchtlinge. Was das bedeutete für eine Insel, die kaum Lebensmittel produzierte, kann sich jeder ausmalen. Es wurde so viel gejagt, dass kaum noch Karnickel übrig waren. Die Vogelpopulation drohte durch das rücksichtslose Plündern der Nester zu kollabieren. So konnte es nicht weitergehen.

Wer schützt die Vogelwelt?

1954 schrieb ich einen Artikel, den der Amrumer Inselbote veröffentlichte. Überschrift: „Schützt die Amrumer Vogelwelt!“ Die Leute dachten: Jetzt ist der Quedens komplett verrückt geworden. Die kannten mich bis dahin doch nur als Eierdieb und Karnickeljäger. Seitdem liege ich auf der Lauer, wenn die Möwen und Austernfischer brüten. Wenn eine neue Vogelart hier auftaucht, kann ich nicht in meinem Ohrensessel sitzen bleiben. Der Löffler fängt hier an zu brüten. Der Kormoran breitet sich an der Nordseeküste aus. All das in Bildern zu dokumentieren, treibt mich weiter in die Dünen.

So wie ich arbeitet heute kein Fotograf mehr. Meine Kamera ist eine alte Minolta, das Objektiv ist 50 Jahre alt, ich fotografiere immer noch auf Film. Die Aufnahmen landen in Tüten und nach Themen sortiert in meinem Wohnzimmerschrank. Nur ich weiß, was in jeder Tüte drin ist, das ist das Problem. Neulich kam mein Sohn und sagte: „Ik brük een Bil faan an ualen Maan.“ Ein Bild von einem alten Mann? Hatte ich natürlich. Mein Sohn hat auch Fotograf gelernt, danach als Grafiker in Hamburg gearbeitet. Vor einigen Jahren kehrte er nach Amrum zurück.

Ich hoffe, dass er mein Archiv einmal weiterführt. Ich habe mich schon gefragt: Was passiert, wenn ich einmal nicht mehr bin? Ich habe meine 100 000 Aufnahmen schon in der grünen Tonne gesehen. Heutzutage zählt ja nur noch das Internet. Alles, was nicht im Internet ist, existiert nicht. Ich brauche kein Internet. Ich kann damit leben, was ich weiß.

Ob ich bedauere, dass ich als Jugendlicher krank wurde und deshalb nie weggekommen bin von Amrum? Ich würde sagen: Für Amrum hat es sich gelohnt. Und für mich gab es nie einen Anlass, fortzugehen. Ich fahre nicht gerne in Urlaub. Wer auf Amrum lebt, braucht keinen Urlaub. Was soll ich woanders herumturnen, wenn es hier so viel zu tun gibt. Als Nächstes kommt vielleicht ein Buch über das Rettungswesen von Amrum. Oder ich mache eines über die Vogelkoje, das war eine Entenfanganlage aus drahtüberspannten Käfigen.

Geschichte muss erhalten bleiben. Das ist wie bei Familienfotos. Die gehören in ein Album, das die Kinder später ansehen können. Über Internet und Computer würde das nicht funktionieren, es wäre keine richtige Erfahrung. Meine Fotos und Geschichten gehören zwischen Buchdeckel. Nur Bücher sind sichere Aufbewahrer. Und die Garantie, dass Geschichte weiterlebt.

Dieser Text ist gekürzt und wie das Foto dem gerade erschienenen Buch „Inselstolz – 25 Leben an der Nordsee“ entnommen; Ankerherz Verlag, 230 Seiten, 29,90 Euro. Protokoll: Gerhard Waldherr

Zur Startseite