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Soghomon Tehlirian

© public domain

Soghomon Tehlirian und der Völkermord: Der Rächer von Armenien tötete in Berlin

Tatort Hardenbergstraße: Ein Armenier tötet den türkischen Drahtzieher des Genozids von 1915. Sein Prozess in Moabit endet spektakulär. Die ganze Wahrheit kommt erst viel später ans Licht.

Von Julia Prosinger

[Dieser Artikel erschien bei uns erstmals 2015.]

Er sieht, wie sich der Mörder seines Volkes auf dem Balkon sonnt. Wie dieser Schlächter seiner Eltern einen morgendlichen Spaziergang antritt. Da greift er in den Koffer, setzt den Hut auf, überquert die Hardenbergstraße, kurz treffen sich ihre Blicke, er hält ihm die 9mm-Parabellum an den Hinterkopf und drückt ab. Die Leiche klatscht auf den Bürgersteig, am 15. März 1921, im Sonnenschein.

Soghomon Tehlirian lässt die Waffe fallen. „Ich Armenier, der Türke, für Deutschland kein Schade“, ruft er aus.

Der Tote ist Mehmet Talaat Pascha, Seele des Jungtürkischen Komitees, Innenminister des Osmanischen Reiches, Großwesir und schließlich Gast der Weimarer Republik unter falschem Namen. Sein Mörder ist ein armenischer Rächer. So gelangt der Völkermord, dessen hundertsten Jahrestag die Armenier in diesen Tagen betrauern, 1921 nach Berlin. In den „Berliner Vorort“ Charlottenburg, wie die „New York Times“ kurz darauf schreibt.

Passanten scharen sich um den jungen Täter. Einer schlägt ihm mit dem Schlüsselbund auf den Kopf, ein anderer nimmt einen Stock zur Hand – die Wunde in Tehlirians Nacken misst 20 Zentimeter. Er rennt die Fasanenstraße hinunter, dort fasst ihn die Polizei.

Schon am 2. Juni beginnt das Verfahren vor dem Moabiter Landgericht III, Strafkammer 6. Es ist ein Prozess, auf den die Welt schaut. Und es geht darin nicht nur um die Schuld des Angeklagten für Mord auf deutschem Boden.

Das ahnt das Auswärtige Amt. Es mahnt das Gericht zur Eile. Die Deutschen haben jetzt Besseres zu tun, als sich mit den Armeniern zu beschäftigen, einem Volk, das eh niemand kennt. Sie streiten gerade mit den Polen am Annaberg um Oberschlesien. Und sie müssen verhindern, dass jemand erfährt, wie tief sie selbst in die Massaker verstrickt waren.

Blass und ernst sitzt Tehlirian, 24 Jahre jung, vor Gericht. Die Zeitungen schreiben über seine hohen Wangen, die eines Intellektuellen, und über viele „dunkelschöne Menschen“ im Publikum. Aus der ganzen Welt hat Berlin Telegramme erhalten, den jungen Studenten freizulassen.

„Ich habe ihn getötet, aber ein Mörder bin ich nicht gewesen“, sagt Tehlirian leise. Dann berichtet er in kurzen Sätzen, wie er in einer Kaufmannsfamilie in Erzincan, im heutigen Nordosten der Türkei, wohlhabend aufgewachsen ist. Wie sein Volk, eine von vielen Minderheiten im Osmanischen Reich, unterdrückt und immer wieder, zuletzt unter Sultan Hamid, Opfer von Pogromen wurde. Wie 1915, als das Jungtürkische Komitee den Sultan gestürzt hatte und in den Ersten Weltkrieg eingetreten war, seine Schule geschlossen wurde und wie eines Tages der Befehl zur Deportation kam.

„Ich will lieber sterben als diesen schwarzen Tag noch länger schildern.“ Stockend erzählt Tehlirian von der Vergewaltigung seiner Schwester, dem gespaltenen Schädel des Bruders und dem Geruch der Leiche seines anderen Bruders, unter der er aus der Bewusstlosigkeit erwachte. Aus dem Täter Tehlirian wird in wenigen Sätzen das Opfer Tehlirian. Kurden versorgen den geschwächten Jungen mit Gerstenbrot, hungernd rettet er sich bis nach Persien. Ganz allein auf der Welt. gelangt er schließlich nach Berlin, um Maschinenbau zu studieren, und dort sieht er, zufällig, Talaat Pascha auf der Straße.

Jenen Mann, 1874 geboren, der sich mit Fleiß und Intelligenz vom Telegrafenbeamten zum gewieften Staatsmann und kalten Strategen hochgearbeitet hat, um dann den Sultan zu stürzen und dessen Vernichtungswerk fortzusetzen. Jenen Talaat Pascha, der vor dem deutschen Konsul Walter Rößler zugegeben hatte: „Wir wollen ein Armenien ohne Armenier.“ Der einen Erlass unterzeichnet hatte, in dem es hieß: „Das Verschickungsziel ist das Nichts.“

Hungernde Säuglinge, essiggetränkte Wunden

Bis zu 1,4 Millionen Menschen kamen bei dem Völkermord ums Leben.
Bis zu 1,4 Millionen Menschen kamen bei dem Völkermord ums Leben.

© epd

Im Gerichtssaal ist es jetzt noch stiller als zuvor. Seit diesem Tag, sagt der Angeklagte Tehlirian, sei ihm seine ermordete Mutter wiederholt erschienen. Sie habe ihn gebeten, Talaat Pascha zu töten. Er habe sich also eine Wohnung gemietet, Hardenbergstraße 37, gegenüber von Talaats Nummer 4, und ihn erschossen. „Ich fühlte eine Zufriedenheit des Herzens. Ich bin auch heute sehr zufrieden über meine Tat.“

Tehlirians Vermieterin beschreibt ihn als höflich und anständig. Er habe im Dunkeln Mandoline gespielt und dazu traurig gesungen. Seine Freunde berichten, wie schüchtern er in der Tanzstunde mit den Damen umging. Seine Deutschlehrerin erzählt, er habe sich nie konzentrieren können. Fünf Sachverständige erörtern seine Krampfanfälle: Hat er Epilepsie oder psychosomatische Attacken, sobald er an seine ermordete Familie denkt? Nur einer bescheinigt ihm Unzurechenbarkeit.

Tehlirians stärkste Verteidigung ist nicht seine Krankheit. Sondern Talaat Paschas Vergangenheit. Davon darf der deutsche Armenienexperte Professor Johannes Lepsius vor dem Landgericht erzählen. Talaat, lernt die deutsche Öffentlichkeit, hat angeordnet oder zumindest gewusst und nicht verhindert: essiggetränkte Wunden, Gliedmaßen, die in Münder gestopft werden, hungernde Säuglinge, die von ihren Müttern in den Euphrat geworfen werden, der später rot von Armenierblut ist; Massenerschießungen, Priester, die nackt und mit Teer beschmiert durch Dörfer getrieben werden, Hunde und Geier, die sich auf Leichenbündel stürzen, Wüstenwege gesäumt mit Schädeln, Plünderungen im Wert von Milliarden. Bis zu 1,4 Millionen Tote. „Die Tatsachen selbst“, spricht Lepsius, „sind nicht zu bezweifeln“.

Es geschieht das Unglaubliche: Die Geschworenen sprechen Soghomon Tehlirian, den Mörder der Hardenbergstraße, nach gerade mal zwei Prozesstagen und einer Stunde Beratung frei. Nicht nur Armenier jubeln jetzt in Moabit. Manche küssen Tehlirians Hand. Die Vermieterin weint, als wäre sie seine Mutter. Mit Blumen und Pralinen empfangen unbeteiligte Deutsche Tehlirian, als er aus der Untersuchungshaft tritt.

Vielleicht, weil die Armenier als Wächter des christlichen Glaubens gelten. Vielleicht, weil man die deutsche Haltung bereut. Kein anderes Land hätte die Massaker leichter stoppen können, die türkischen Verbündeten waren militärisch komplett abhängig. Einige Deutsche vor Ort wie der Generalstabschef Fritz Bronsart von Schellendorf teilten gar die Auffassung der Jungtürken, dass der – sehr wohl gewalttätige – armenische Widerstand das gesamte Osmanische Reich als „innerer Feind“ hätte lahmlegen können. Andere Deutsche unterhielten enge Freundschaften zu den Machthabern in Istanbul. In einer Oktobernacht 1918 verhalfen sie Talaat mit einem Torpedoboot zur Flucht. Vielleicht ist der Freispruch eine Entschuldigung dafür.

An dieser Stelle könnte die Geschichte enden. Talaat wird in einem Zinksarg mumifiziert. Das Auswärtige Amt verabschiedet sich mit einem Kranz von dem „großen Staatsmann und treuen Freund“. 1942 übergeben die Nazis den Leichnam an die Türkei, er wird feierlich auf dem Freiheitsberg in Istanbul begraben.

Doch die Geschichte hat eine Vorgeschichte. Tehlirian hat gelogen. Mehr als einmal. Er war nicht als harmloser Student nach Berlin gekommen. Sondern mit einem Auftrag. Die Berliner Polizei hat Hinweise darauf nicht verfolgt. In der „Deutschen Allgemeinen Zeitung“ schrieben es die Freunde Istanbuls unbeachtet.

1920, also ein Jahr vor dem Mord auf der Hardenbergstraße, trifft sich ein Gremium in Paris: die Armenische Revolutionäre Föderation. Sie hatte sich schon 1890 im georgischen Tiflis gegründet mit dem Ziel, die Armenier von russischer, persischer und osmanischer Herrschaft zu befreien. Sie beschließt nun eine geheime Mission, sie beschließt Selbstjustiz. Zwar hatten die Alliierten in Versailles noch festgelegt, die Verantwortlichen für diesen Genozid (das Wort war damals noch nicht erfunden) vor ein internationales Kriegsverbrechertribunal zu stellen (es wäre das erste der Geschichte gewesen). Doch im Tausch gegen eigene Gefangene lassen sie dieses Vorhaben in den nächsten Jahren sein. Zwar gab es in der Türkei selbst Prozesse. 200 Festnahmen. Die wichtigsten Verbrecher, darunter Talaat, wurden nur in absentia verurteilt. Ihre Todesurteile nicht vollstreckt.

Es entsteht die „Operation Nemesis“. Nemesis wie die griechische Rachegöttin. Ihre drei Anführer, gebildete Männer, dem Genozid nur knapp entkommen, Körper und Seele vernarbt, agieren aus den USA, werben um Geld, schreiben kodierte Briefe. Sie erstellen eine Liste. An oberster Stelle steht: Talaat Pascha. Soghomon Tehlirian ist der Mann für den Job. Er hat bereits auf eigene Initiative einen armenischen Kollaborateur in Istanbul getötet, der unter anderen Tehlirians Lieblingsdichter an die Türken ausgeliefert hatte. Im Sommer 1920 reist Tehlirian zur Absprache nach Boston. Er soll sich voll auf Talaat konzentrieren. Denn der betreibt von der Hardenbergstraße aus weiter Politik. Die überlebenden Armenier fürchten, dass er ihre Vernichtung noch vollenden werde. Tehlirian erhält ein paar Fotos seines Zielobjektes und die Parole: keine Unschuldigen! In Berlin hilft ihm ein Team Spione auch dabei, die perfekte Wohnung zu finden. Tehlirian ist ein angeschlagener Rächer. Einmal fällt er während einer Verfolgung in Ohnmacht.

In seiner 85-köpfigen Familie hat nur er überlebt

Mehmet Talaat Pascha plante den Genozid mit.
Mehmet Talaat Pascha plante den Genozid mit.

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Für den Prozess macht sich Tehlirian ein Jahr jünger. Damit die Wahrheit unwahrscheinlicher wird: Zum Zeitpunkt des Genozids war er mitnichten auf den Todesmärschen, er hörte weder seine Schwester schreien, noch sah er den Schädel des Bruders bersten. Er kämpfte, ganz wie es die türkische Propaganda für alle Armenier annahm, aufseiten der Russen. Es hätte aber sehr wohl anders sein können. Der Prozess war die Chance, die Geschichte aller zu erzählen.

Seine Heimat Erzincan findet Tehlirian 1916 jedoch tatsächlich in Trümmern. Von 20 000 Armeniern sind noch 20 übrig. Aus seiner Familie von 85 Personen hat einzig er überlebt. Das Protokoll des Tehlirian-Prozesses verkauft sich so gut unter den Armeniern, dass es die Operation Nemesis weiter finanziert. Sechs andere Türken töten die Rächer der „Operation Nemesis“ noch, in Istanbul, in Rom – aus einer fahrenden Kutsche heraus – und Tiflis.

Nach dem Mord schreibt Tehlirian seine Briefe vorsichtshalber als Saro Melikian. Er zieht nach Serbien, wo schon sein Vater als Arbeitsmigrant einen kleinen Laden besessen hatte. Heiratet. Erzieht seine Söhne zu Patrioten, die sich ein vereintes Armenien wünschen. Von Berlin spricht er nie. Im Jagdverein ist er als guter Schütze bekannt. Tehlirians Flucht dauert an. Kurz vor dem Zweiten Weltkrieg beginnt der türkische Geheimdienst vergeblich nach ihm zu suchen. Talaat Pascha gilt den Türken inzwischen als Märtyrer. 1950 zieht Tehlirian deshalb in die USA. Dort arbeitet er, der Rächer seines Volkes, als Buchhalter in einem Restaurant. Einem armenischen.

Die Operation Nemesis stellt 1922 ihre Arbeit ein, vernichtet Spuren. Erst Jahrzehnte später werden Briefe ihrer Mitglieder auf einem Dachboden gefunden. Armenische Aktivisten kämpfen in den 30ern gegen sowjetische Unterdrückung. Hitler lässt sich vom verschwiegenen Genozid ermutigen: „Wer redet heute noch von der Vernichtung der Armenier?“, sagt er vor dem Einmarsch nach Polen. Die verbliebenen Armenier, nach den Massakern auf der ganzen Welt verstreut, sprechen selten von dem, was ihnen passiert ist. Viele schämen sich, überlebt zu haben, manche haben Angst vor weiterer Verfolgung. Sie geben das Trauma an ihre Kinder weiter, an ihre Enkel. Wie besessen kämpfen die späteren Generationen um Anerkennung der türkischen Verbrechen, um Reparationen, oft erfolglos, bis heute. In den 70ern entsteht daher ein neuer armenischer Terrorismus. ASALA, mit PLO und PKK verbündet, nennt sich die Bewegung, die bis in die 90er Anschläge auf türkische Diplomaten verübt und mit 45 Toten und 299 Verwundeten, darunter einige Zivilisten, die Anerkennung des Genozids erzwingen will.

Das erlebt Soghomon Tehlirian nicht mehr. Er stirbt 1960 mit 63 Jahren, an einer Hirnblutung in San Francisco. Regelmäßig pilgern Armenier aus aller Welt zu seinem Grab und dem Denkmal auf dem Ararat-Friedhof in Fresno, Kalifornien, wo ein goldener Adler eine Schlange frisst. Wo das Gute gegen das Böse siegt.

Die Hardenbergstraße kennt in Armenien jedes Kind. Sie erinnert daran, auch jetzt, 100 Jahre nach dem Genozid, dass die Armenier nicht nur Opfer waren.

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