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Wie Rudolf Diesel starb: Der Antrieb des Herrn Diesel

Seine Erfindung beendet das Zeitalter der Dampfmaschine. 1913 verschwindet Rudolf Diesel auf mysteriöse Weise.

Der Morgen des 29. September 1913 verspricht für Antwerpen einen schönen Tag. „Es ist sommerlich warm“, schreibt Rudolf Diesel an seine Frau, bevor er sich an Bord des deutschen Postschiffs „Dresden“ begibt. Rund um den 100 Meter langen Dampfer herrscht reger Betrieb, Träger schleppen schwere Koffer an Bord, Kräne versenken Frachtkisten in den Laderäumen, ständig kommen neue Passagiere, die sich zur Überfahrt nach England einschiffen. Auch seinem Sohn sendet Diesel eine telegrafische Nachricht: „Bin eben im Begriffe, mit Herrn George Carels über Antwerpen nach Harwich zu reisen. Morgen früh 6 Uhr Ankunft in Harwich, Fahrt nach Ipswich, Besichtigung der neuen Fabrik, Nachmittags Fahrt nach London. Abends Dinner mit Ellis im Royal Automobil Club.“ Und für den Fall, dass man ihm eine Nachricht zukommen will, möge man sie ihm ins „Keysers Royal Hotel“ senden, seine Londoner Adresse. Doch der 55 Jahre alte Rudolf Diesel wird nie in England ankommen.

Als die „Dresden“ die Dampfmaschinen hochfährt, quillt schwarzer Rauch aus den beiden Schornsteinen. Diesel mag in diesem Moment gedacht haben, dass auch dieses Schiff eines Tages mit seinem Motor ausgerüstet wird, der so viel sparsamer, leistungsfähiger, sicherer und einfacher zu handhaben ist, einer Erfindung, die das Zeitalter der Dampfmaschine beenden soll. Schon 1895 war er sich der Bedeutung seiner Entwicklungsarbeit bewusst und schrieb an seine Frau Martha: „... ich bin in diesem ersten und vornehmsten Fache der Technik, dem im Motorbau, der Erste auf unserem kleinen Erdbällchen, der Führer einer ganzen Truppe diesseits und jenseits des Ozeans.“

Zum Abendessen trifft er sich mit seinem belgischen Freund Carels und dessen Chefkonstrukteur. Alles, was heute über die letzten Stunden vor Diesels Verschwinden bekannt ist, entstammt den Aussagen dieser beiden Begleiter. Im deutschen Generalkonsulat in London berichten sie von den heiteren Stunden, die sie gemeinsam mit Diesel an Bord verbrachten, der sich voller Zuversicht und Tatendrang gezeigt habe. Er war auch nicht seekrank, die See sei völlig ruhig gewesen.

Nach dem Abendessen promenierten sie noch etwas an Deck, um sich dann gegen 22 Uhr zu trennen. Über Diesels Verschwinden geben sie dem Generalkonsul zu Protokoll: „Herr Dr. Diesel ging in seine Kajüte, nachdem er den Steward beauftragt hatte, ihn am Morgen um 6.15 Uhr zu wecken. Wir standen um die gleiche Zeit auf und wunderten uns, als wir angekleidet waren, daß Herr Diesel noch nicht aus seiner Kajüte gekommen war. Da wir ihn auch im Frühstückssaal nicht fanden, klopften wir an seine Kajütentür. Da wir keine Antwort erhielten, traten wir ein und sahen, daß das Bett nicht berührt war. Sein Nachthemd lag gefaltet auf dem Bett und seine Reisebedarfssachen waren, soweit wir sehen konnten, alle vorhanden.“

Diesels Verschwinden ist gleich nach der Ankunft der „Dresden“ dem deutschen Vizekonsul in Harwich gemeldet worden. Der veranlasste eine sofortige Durchsuchung des Schiffes. Dabei wird auch die Kabine inspiziert, in der Rudolf Diesel seine Taschenuhr so aufgehängt hatte, dass er beim Erwachen gleich darauf sehen könnte. Im Schloss seines Koffers steckt noch der Schlüssel. Als ob er während des Öffnens unterbrochen worden wäre.

Zehn Tage später sichtet die Besatzung eines niederländischen Lotsenbootes bei schwerer See zwischen den Schelde-Inseln Noordland und Schouwen einen Toten im Wasser. Die Leiche ist stark verwest, wird deshalb nicht geborgen. Lediglich den Inhalt der Taschen, eine Pastillendose, ein Portemonnaie, ein Taschenmesser und ein Brillenetui nehmen die Seeleute an sich. Auf der Polizeiwache in Vlissingen werden die Gegenstände dem jüngsten Sohn Diesels vorgelegt, der die Sachen seines Vaters gleich erkennt. Nun ist klar, dass Rudolf Diesel zwischen 22 Uhr des 29. und sechs Uhr des 30. September 1913 über Bord gegangen sein muss.

Die „Dresden“ fährt zwar für die britische Great Eastern Railway, ist aber ein deutsches Schiff mit deutscher Besatzung. Deshalb ermitteln auch deutsche Behörden in dem Fall. Die legen sich schnell fest: kein Unfall. Die Reeling eines solchen Dampfers geht bis knapp unter die Brust, sie ist zu hoch, um versehentlich darüber zu stürzen. Man geht von einem Suizid aus. Das Motiv könnten finanzielle Schwierigkeiten sein, Diesel hat durch Fehlinvestitionen und Patentstreitigkeiten sein Vermögen nahezu verloren. Und er macht sich Sorgen um seine Gesundheit. In einem Brief an seinen ältesten Sohn schreibt er zwei Tage vor der Reise: „Mein Herz macht mir viel zu schaffen. Manchmal meine ich, es bliebe ganz stehen, dabei habe ich merkwürdige Stiche im Kopf, und mein Allgemeinbefinden ist schlecht.“ Dies und ein kleines, am Unglückstag mit Bleistift in sein Tagebuch gekritzeltes Kreuz reichen den deutschen Behörden für ihre Selbstmordthese. Das Fehlen eines Abschiedsbriefes, die gute Laune Diesels während des Abendessens, der bereitgelegte Pyjama oder die zur Nachtruhe vorbereitete Uhr werden außer Acht gelassen. Auch dass Diesel die Reise ursprünglich mit seiner geliebten Frau Martha antreten wollte, die nur wegen eines Besuchs bei ihrer Schwester in Frankfurt nicht dabei war, ändert nichts daran. Ebenso wenig wie der Umstand, dass der weltweit gefeierte Ingenieur reichlich finanzielle Hilfe erwarten kann.

So dauert es nicht lange, bis „Gerüchte über das Verschwinden des Erfinders der Dieselmotoren“ auftreten, wie das „Berliner Tageblatt“ zwei Tage später titelt. Die „München-Augsburger Abendzeitung“ schreibt: „Er war am Abend in bester Stimmung, litt aber stark an Schlaflosigkeit, und Carels spricht die Vermutung aus, daß irgendein plötzlicher Anfall die Ursache eines unerklärlichen Unglücks gewesen sein müsse.“ Das Blatt zitiert Sidney Weitman, Direktor der englischen Dieselmotoren-Gesellschaft, der versichert, der Erfinder habe sich ganz besonders auf seinen Besuch in England gefreut.

Wer aber könnte ein Interesse an seinem Tod gehabt haben?

Geboren wird Rudolf Christian Karl Diesel am 18. März 1858 in der Rue Notre Dame de Nazareth Nr. 38, einer schmalen Straße unweit des Place de la République in Paris. Wenig später zieht die Familie in die Rue de la Fontaine au Roi 49. Er wächst auf in einer Zeit technischer und gesellschaftlicher Veränderungen. Heißluftballone, Luftschiffe, die ersten Gas- und Ottomotoren, Fotografie, Chemie, Elektrizität, moderne Physik. Die Welt ist auf dem Weg der Technisierung und Verwissenschaftlichung aller Lebensbereiche.

Der junge Rudolf muss früh mitarbeiten, zieht mit einem Handkarren vor Schulbeginn durch die Straßen und liefert die Waren seines Vaters aus. Vater Theodor war ursprünglich als gelernter Buchbindergeselle auf der Wanderschaft nach Paris gekommen und hier hängengeblieben. 1855 hat er die Tochter eines Gürtlermeisters aus Nürnberg geheiratet. Das Einkommen als selbstständiger Lederwarenhersteller reicht nur für bescheidene Lebensverhältnisse. In guten Zeiten beschäftigt er zwar bis zu sechs Arbeiter, dennoch wird es immer schwerer, handgenähte Waren gegen die Konkurrenz der Massenhersteller abzusetzen, die ihre Maschinen mit Dampfkraft betreiben.

Rudolf lernt auf seinen morgendlichen Touren hautnah die Unterschiede zwischen der Pracht der Reichen und den armseligen Verhältnissen in den Pariser Mietskasernen kennen. Das prägt ihn, 1903 wird er sogar ein Buch mit dem Titel „Solidarismus“ veröffentlichen, in dem er eine auf dem Genossenschaftswesen begründete Gesellschafts- und Wirtschaftsordnung entwirft, welche den Kapitalismus überwinden könne, den er immer als inhuman und auf Ausbeutung beruhend ansah.

Dass er es selbst zum Ingenieur bringt, ist alles andere als selbstverständlich. Doch schon als Zwölfjähriger wird er in der Schule ausgezeichnet. Und wann immer er kann, schleicht er sich in das Musée des Arts et Mètiers, ein berühmtes Technikmuseum, in dem er Maschinen mit großer Genauigkeit in ein Heftchen kopiert.

Vermutlich wäre der Dieselmotor eine französische Erfindung geworden. Doch 1870 erklärt Frankreich Preußen den Krieg. Die Behörden verfügen die Ausweisung aller Deutschen binnen 24 Stunden. Familie Diesel schifft sich nach London ein. Dort sind die Lebensumstände noch härter. In der damals größten Stadt der Welt teilt sich die ganze Familie ein ärmliches Zimmer. Rudolf wird zu einem Onkel, dem Mathematikprofessor Christoph Barnickel, nach Augsburg geschickt. Barnickel erkennt das Potenzial des Jungen. Rudolf erhält eine mathematische Ausbildung und schließlich ein Stipendium für die Technische Hochschule München. Er schreibt: „Liebste Eltern, mein sehnlichster Wunsch ist, Mechaniker zu werden. In irgendeinem anderen Fach werde ich kaum etwas Tüchtiges erlernen.“

Mit 22 Jahren schließt Diesel 1880 sein Studium ab, mit dem besten Ergebnis, welches dort je erreicht wurde. Einer seiner Professoren ist Carl Linde, ein Spezialist für Thermodynamik und Kältemaschinen. In einer von Lindes Vorlesungen geht es um die Energieverschwendung der Dampfmaschine, die nur einen Wirkungsgrad von 15 Prozent erreichen kann, die restliche Energie verpufft. Wohingegen der französische Physiker Sadi Carnot die Möglichkeit eines verlustfreien Arbeits- und Wirkungsgrades berechnet hat.

Diesel ist zutiefst fasziniert. In sein Vorlesungsmanuskript schreibt er: „Studieren, ob es nicht möglich ist, den carnotschen Kreisprozeß zu verwirklichen.“ Ihn beherrscht die Idee, seinen „rationellen Wärmemotor“ zu bauen. Der sollte aber bei großer Verdichtung der Luft im Zylinder isothermisch arbeiten, also den Brennstoff so in Arbeit umwandeln, dass keine Energie durch Abwärme verloren geht.

Diesel arbeitet Jahre an der theoretischen Berechnung seines Motors und erhält 1893 dafür in Berlin das Patent Nr. 67207. Nur selber bauen kann er ihn nicht, dazu benötigt er die Erfahrung und das Kapital einer großen Maschinenbaugesellschaft. Diesel kann den Direktor der Augsburger Maschinenfabrik, Heinrich Buz, für sich und seine Idee gewinnen. Doch aus dem auf ein halbes Jahr kalkulierten Projekt werden vier Jahre mit explodierenden Entwicklungskosten.

Viele seiner ursprünglichen Absichten erweisen sich dabei als praktisch unmöglich. Andererseits zeigen die Berechnungen, dass, wenn der Motor gelingt, dieser sehr viel effizienter sein wird als alles, was es bis dahin gibt. Mit Hilfe der Ingenieure und Mechaniker der Augsburger Maschinenbaufabrik, später MAN, sowie weiterer Motorenbauexperten kommt Diesel schließlich am 17. Februar1897 zum Ziel. Der erste selbstzündende Motor ist fertig.

Der Einzylinder wiegt zwar noch 4,5 Tonnen und liefert gerade mal 20 PS, sein Wirkungsgrad liegt aber schon zwölf Prozent über jenem der besten Dampfmaschine. Diesel, der die Lösung der sozialen Frage nach eigener Aussage für wichtiger hält als seine Erfindung, verkauft Lizenzen in alle Welt. Denn, so seine Überzeugung, der Dieselmotor werde auch dem kleinen Handwerker den Zugang zur maschinellen Produktion ermöglichen.

Im Jahr 1900, auf der Weltausstellung in Paris, gewinnt der Motor, mit Erdnussöl betrieben, den ersten Preis. Mit dem ursprünglichen Konzept des Patents hat er nur noch wenig zu tun. Das führt zu erheblichen Problemen und zieht Streitigkeiten und Klagen nach sich.

Am Ende besteht die eigentliche Leistung Diesels auch gar nicht im Funktionskonzept des hochverdichteten Selbstzünders, an dem vorher schon andere Ingenieure erfolglos gearbeitet hatten, sondern in der Überzeugungskraft, mit der er das Projekt zur Verwirklichung gebracht hat. Ab 1903 werden kleinere Schiffe mit dem neuen Antrieb ausgerüstet. Für den Einsatz in Kraftfahrzeugen ist der Motor noch zu schwer und zu groß. Der erste Diesel im Lastwagen wird 1923, im Pkw erstmals 1936 angeboten.

Doch Großanlagen für Schiffe, Lokomotiven und Kraftwerke setzen sich zunehmend durch. 1912 wird das erste hochseefähige Frachtschiff, die „Selandia“, mit einem nach Diesels Lizenzen gebauten Motor in Kopenhagen in Dienst gestellt. Auch in den Kriegsmarinen ist man auf den Dieselmotor aufmerksam geworden. Als die „Selandia“ während ihrer Jungfernfahrt in London festmacht, wird sie vom Marineminister Winston Churchill und der Admiralität besichtigt. Vor allem für die neuen U-Boote ist der Dieselmotor der ideale Antrieb während der Fahrt an der Wasseroberfläche. Bereits seit 1904 rüstet die französische Marine ihre U-Boote damit aus. 1908 folgt die Royal Navy, erst 1913 ziehen die Deutschen nach.

Im Reichsmarineamt ist man sich schon vor Ausbruch des Ersten Weltkrieges im Klaren darüber, den Rüstungswettlauf mit der britischen Flotte verloren zu haben. Nur technische Überlegenheit könnte die Überzahl der Briten ausgleichen. Der Dieselmotor hat das Potenzial, künftig die Dampfmaschinen der großen Schlachtkreuzer zu ersetzen, deren Kohlebunker und Kessel viel mehr Platz und Personal benötigen als der neue Ölmotor.

Doch Diesel ist in Paris, London und Augsburg aufgewachsen, plumper Nationalismus ist ihm fremd. Außerdem ist er überzeugter Pazifist, für militärische Zwecke will er seinen Motor nicht eingesetzt sehen; und wenn doch, dann sollen ihn zumindest alle Nationen gleichermaßen erhalten.

Als Rudolf Diesel am 29. September 1913 auf dem Weg nach England ist, rechnet er sogar mit einem Empfang beim britischen König Georg V. Er hat diesmal nicht nur Lizenzen im Gepäck, sondern beabsichtigt, den Briten darüber hinaus seine Patente zu verkaufen.

Natürlich kommt der Verdacht auf, deutsche Agenten hätten ihn daran hindern wollen. Auch ein bezahlter Mörder im Auftrag der Ölindustrie – Diesel beabsichtigte den Einsatz von Pflanzenöl – wird für möglich gehalten. Beweisen lässt sich keine dieser Versionen.

Ein Jahr später bricht der Erste Weltkrieg aus, und mit ihm beginnt das große Sterben. Der Tod eines Menschenfreunds gerät darüber in Vergessenheit.

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