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Sterbehilfe: Die Müdigkeit des Seins

99 Jahre sind genug, sagte Maria Heringa. Sie war zufrieden mit dem, was sie gesehen, getan und erlebt hatte. Sie schluckte 161 Tabletten im Altenheim. Weil der Sohn ihr beim Freitod half, steht der 71-Jährige in den Niederlanden vor Gericht. Ein Präzedenzfall. Am heutigen Dienstag wird das Urteil gesprochen.

Hundert müsse sie nicht mehr werden, sagt sie.

„Man kann den Bürgermeister mit dem Blumenstrauß auch abbestellen“, entgegnet ihr Sohn.

Trotzdem, antwortet sie, 99 Jahre seien genug.

Maria Heringa aus den Niederlanden hat zwei Weltkriege, drei Königinnen und insgesamt 42 Regierungen erlebt. Sie hat einen Großenkel. Aber als das zweite Baby aus dieser Generation unterwegs ist, wird ihr bewusst, wie spät es schon geworden ist.

Nach einem langen, anstrengenden Tag kann man sich ins Bett legen und das Licht ausmachen. Nach einem langen Leben gibt es diese Möglichkeit nicht. Der Schalter fehlt.

Maria Heringa ist nicht krank, sie hat keine großen Schmerzen und im Kopf ist sie fit. Trotzdem betrachtet sie ihr Leben als abgeschlossen. Sie ist zufrieden mit dem, was sie gesehen, getan, erlebt, erreicht hat.

Mit 99 Jahren nimmt sie sich deshalb das Leben.

Der 7. Juni 2008 ist ein ruhiger Samstag. Die Besucher des Altenheims sind am Abend schon gegangen, als in einem Zimmer das Licht der Schreibtischlampe auf Maria Heringa und ihren Sohn fällt, auf einem Tischchen steht eine Tasse Tee. Maria Heringa wirkt klein in ihrem hohen Ledersessel, ein Tuch über Bauch und Schoß gelegt.

Die ersten 125 Pillen sind in Joghurt aufgelöst. Anschließend legt sie sich ins Bett und nimmt den Rest. Anti-Malaria-Pillen und zwei Sorten Schlaftabletten. Die eine für einen schnellen Schlaf, die andere für einen tiefen. 161 Tabletten schluckt sie an diesem Abend insgesamt. Mit letzter Kraft greift sie die letzten Tabletten, bevor sie einschläft.

Maria Heringa wachte nicht mehr auf. Der Arzt des Wochenenddienstes fand das nicht auffällig. Bei einer 99-Jährigen. Er stellte einen natürlichen Tod fest.

Der Sohn sagt, er sei erleichtert gewesen. Erleichtert, dass seine Mutter eingeschlafen sei, wie sie es wollte. Aber auch darüber, dass niemand Verdacht schöpfte.

Albert Heringa war dabei, als seine Mutter, die von allen „Moek“ genannt wurde, die Pillen nahm. Er hatte sie seiner Mutter mitgebracht und ihr erläutert, wie sie wirken würden. In den Niederlanden ist Sterbehilfe zwar erlaubt, allerdings an strenge Vorgaben gebunden. Nur Ärzte dürfen Leben beenden. Und nur wer unerträglich leidet oder keine Aussicht auf Heilung hat, kommt dafür infrage. Menschen wie Maria Heringa, die einfach nur sehr alt sind und ihr Leben als abgeschlossen betrachten, rutschen zwischen den Paragrafen des Gesetzes durch.

Das deutsche Gesetz ist andersherum formuliert. In Deutschland ist nicht Hilfe bei der Selbsttötung strafbar. Hier könnte man aber wegen unterlassener Hilfeleistung verfolgt werden. Der Effekt ist derselbe.

Albert Heringa ist wegen Beihilfe zum Suizid angeklagt worden. Am heutigen Dienstag hört er sein Urteil.

Söhne und Töchter werden in eine moralisch schwierige Situation gedrängt: Tun sie das Verbotene, um das für sie moralisch Richtige zu tun? Wie weit geht die Liebe zu ihren Eltern? Helfen Kinder ihrem Vater oder ihrer Mutter beim Suizid und machen sich strafbar – oder verwehren sie ihnen den letzten, wichtigen Wunsch?

In den Niederlanden nehmen sich jedes Jahr 400 Menschen über 65 Jahren das Leben. In Deutschland stirbt fast alle zwei Stunden ein Mensch über 60 durch eigene Hand, schreibt die Ärztezeitung. Nicht alle sind dabei alleine, nicht alle machen alles selbst. Doch weil es einen Straftatbestand erfüllt und an Tabus rührt, findet es im Dunkeln statt.

Auch Albert Heringas Mithilfe hätte unentdeckt bleiben können. Jetzt sitzt der 71-Jährige auf einem Sofa in Ede, einer Kleinstadt in der Mitte des Landes zwischen Arnheim und Utrecht, südöstlich von Amsterdam. Durch ein hohes Fenster fällt die Herbstsonne. Rechts von ihm öffnen sich Schiebetüren zum Garten hin, links füllt ein Regal aus Büchern und CDs mit klassischer Musik die Wand bis unter die Decke.

Im Regal stehen kleine Kunstwerke aus Westafrika. Albert Heringa hat mehrere Jahre in Mali und Burkina Faso als Berater und Experte für Naturverwaltung gearbeitet. Weil Malaria auch noch lange nach einer Rückkehr ausbrechen kann, hatte er Nivaquine zuhause, Anti-Malaria-Pillen, die in einer Überdosis tödlich sind.

Länger schon habe seine Mutter den Wunsch geäußert, gehen zu dürfen, erzählt Heringa mit ruhiger, freundlicher Stimme. Das Leben drohte der alten Dame zu entgleiten. Einmal sei das Waschbecken übergelaufen, weil sie vergessen hatte, den Wasserhahn abzudrehen. Im Altenheim zog man ihr Windeln an. „In diesen Momenten hat sie gemerkt, dass sie alt wird und dass etwas mit ihr passiert“, erzählt ihr Sohn. Dass sie innerhalb des Heims umziehen musste, weil gebaut wurde, dass der hundertste Geburtstag bevorstand und sie ein zweites Großenkelkind bekommen sollte, habe dann den endgültigen Ausschlag gegeben.

Gehen dürfen. Nicht mehr weiterleben. Viele alte Leute sagen solche Dinge. Am Anfang hat der Sohn die Äußerungen seiner Mutter nicht ganz ernst genommen. Trotzdem holte Albert Heringa auf ihren Wunsch irgendwann einen Arzt. Der bestätigte, was auf der Hand lag, Maria erfüllte die gesetzlichen Bedingungen für Sterbehilfe nicht. Die Niederländische Vereinigung für ein Freiwilliges Lebensende (NVVE) berät in solchen Fällen. Ein Mitarbeiter der Organisation sagte, die einzige Möglichkeit sei, aufzuhören mit Essen und Trinken. Das konnte Maria Heringa nicht. Deshalb begann sie, ihre Tabletten nicht mehr zu schlucken, sondern zu sammeln.

„An diesem Punkt wusste ich, dass ich eingreifen musste“, sagt Albert Heringa heute.

"Hilfe ist keine Straftat", lautet der Slogan.

Seine Angst: Dass sie sich Schaden zufügt. Sie führten wieder ein Gespräch. Sie sagte wieder, es sei genug. Er antwortete, er habe noch Medikamente zuhause. Er sei bereit zu helfen.

„Ich wusste vorher, dass das Gesetz es verbietet, ihr beim Suizid zu helfen“, sagt Heringa. „Ich war mir dessen auch in dem Moment bewusst, in dem ich es tat.“ Wie kann man auch etwas so Fundamentales nicht bedenken. Ihr Wunsch aber sei so überdeutlich und überzeugend gewesen, dass er es doch tat.

Albert Heringa hat deshalb nicht mehr gezweifelt. „In erster Linie war es eine Frage der Barmherzigkeit, nicht des gesetzlichen Verbots.“ Die Frage, ob ein Mensch wie seine Mutter aus dem Leben scheiden darf, hat er für sich beantwortet. Gewissen stand gegen Gesetz. Und für Heringa wog das Gewissen schwerer.

Ein niederländischer Dokumentarfilm über den Fall Heringa trägt den Titel „Ein Beweis von Liebe“. Für die Befürworter der Sterbehilfepraxis ist der Beistand beim Suizid der ultimative Liebesbeweis. Wer seinem Partner oder seinen Eltern in den Tod hilft, zeigt, dass seine Liebe so groß ist, selbst diesen Wunsch zu erfüllen.

Die Unterstützung reicht in der Regel von der Beratung bis zur Hilfe bei der Beschaffung von Medikamenten. Weiter vor wagen sich nur wenige. Manche verlassen den Raum, wenn der Partner oder die Eltern die Medikamente nehmen. Denn selbst die Anwesenheit, das Anrühren eines Joghurts oder Aufheben einer Pille vom Boden könnte bei einer Anklage, so fürchten sie, als Mord ausgelegt werden.

Die Befürworter der Suizid-Hilfe aus Nächstenliebe fragen, warum die gesetzliche Regelung Angehörigen verwehrt, in diesen letzten Momenten dabei zu sein. Kritiker dieser Haltung gibt es in den Niederlanden kaum – zumindest nicht in der öffentlichen Debatte.

In Dänemark wurde vor einem Jahr ein ähnlicher Fall diskutiert. Der Vorsitzende der dortigen Ethik-Kommission, Jacob Birkler, warnte in einem Interview, die Legalisierung und Liberalisierung der Gesetze würde einen inneren Druck bei alten Menschen und deren Angehörigen erzeugen, Sterbehilfe auch anzuwenden. Menschen, die wüssten, dass sie anderen zur Last fallen, sähen darin einen Ausweg. Und nicht alle Söhne und Töchter würden ihren Eltern mit guten Absichten beim Suizid helfen. Albert Heringas einziger Gegenspieler ist der niederländische Staat.

Im vergangenen Jahr entschied die Staatsanwaltschaft, Anklage gegen ihn zu erheben. An der Integrität und den Motiven Heringas bestünden keine Zweifel, teilt die Staatsanwaltschaft auf Anfrage mit. „Der Antrieb seines Handelns war seine Auffassung, dass er seine Mutter bei ihrem Wunsch zu sterben nicht im Stich lassen durfte“, heißt es im Plädoyer. Trotzdem habe er die Gesetze gebrochen. „Hilfe zur Selbsttötung außerhalb der gesetzlichen Vorschriften kann nicht straflos bleiben, auch wenn sie mit den besten Absichten geschieht“, so die Staatsanwaltschaft. Es gehe ums Prinzip.

Fälle, die vor dem Gericht in Zutphen verhandelt werden, schaffen es normalerweise selten in die Hauptnachrichten. Doch als Anfang September der Prozess gegen Albert Heringa begann, hatte die Niederländische Vereinigung für eine Freiwilliges Lebensende (NVVE) Dutzende Demonstranten organisiert und die Medien informiert. „Hilfe ist keine Straftat“, lautet der Slogan einer Kampagne, die sich aus dem Fall Heringa entwickelt hat.

Die NVVE will eine Änderung des Gesetzes erreichen, sodass Hilfe beim Suizid auch für Angehörige nicht mehr strafbar ist. 25 000 Menschen haben eine Petition dazu unterzeichnet. 40 000 Unterschriften sind nötig, um eine Debatte im Parlament in Den Haag zu erzwingen. „Die Unterstützung zeigt, dass viele Menschen mit dieser Frage hadern“, sagt Stefanie Michelis von der NVVE.

Die Organisation sieht im Prozess gegen Heringa einen Präzedenzfall. Zum ersten Mal ist ein Angehöriger angeklagt. Die Staatsanwaltschaft fordert eine Haftstrafe für Albert Heringa von drei Monaten auf Bewährung. Sollte Heringa freigesprochen werden, könnten sich andere Familien ermutigt fühlen, das Schweigen um die Sterbehilfe für Angehörige zu beenden. Es würde die Grenzen der Sterbehilfe in den Niederlanden neu definieren.

Dass die Öffentlichkeit von Maria Heringas Tod erfuhr, liegt an dem Angeklagten selbst. Jenen Abend im Juni hat er mit seiner Videokamera aufgezeichnet. Er wollte einen Beweis dafür haben, dass seine Mutter es war, die die Tabletten zu sich genommen hat. Als für einen Film Betroffene gesucht wurden, hat Heringa die Aufnahmen zur Verfügung gestellt. Erst durch die Ausstrahlung wurde die Staatsanwaltschaft aufmerksam. „Um etwas zu erreichen und Dinge zu bewegen, muss man manchmal ein Risiko eingehen“, sagt er. Für all jene, die dieses Dilemma noch vor sich haben.

Seine Mutter sei „eine zufriedene, sehr entschlossene Frau“ gewesen. Das Verhältnis zwischen ihm und ihr war besonders. Maria „Moek“ Heringa kam als Haushälterin in die Familie. Als Albert drei war, heiratete der Vater sie. Die Mutter, die ihn geboren hatte, war von den Nazis deportiert und umgebracht worden. Maria Heringa war für ihn seine Mutter.

Nachtrag: Am Dienstag ist Albert Heringa vom Gericht der Stadt Zutphen der „Beihilfe zum Suizid“ für schuldig befunden worden. Auf das Delikt stehen in den Niederlanden bis zu drei Jahre Haft oder eine Geldbuße von 18500 Euro. Aber weil er „aus Liebe für seine Mutter" gehandelt habe, sagte der Richter, werde Heringa "nicht bestraft“.

Erschienen auf der Reportage-Seite.

Benjamin Dürr[Amsterdam]

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