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Ein traumatisiertes Land. Demonstrierende Norweger auf dem Rathausplatz von Oslo.

© AFP

Trauer nach den Anschlägen: Oslo im Zeichen der Rose

200.000 Menschen versammelten sich allein in Oslo zu Blumenumzügen, um nach den Anschlägen ein Signal der Verbundenheit zu setzen.

Eng umschlungen stehen Tove und Martin am Rådhusplassen, dem Rathausplatz, mitten in der norwegischen Hauptstadt Oslo. Die 24-jährige Frau und ihr 22 Jahre alter Freund gedenken zusammen mit zehntausenden anderen Menschen der Opfer der Angriffe. „Wir sind schockiert, dass so etwas hier geschehen konnte“, sagt Tove, die an diesem Abend ihre Tränen kaum zurückhalten kann. Beide halten dornige Rosen in der Hand, wie die vielen anderen auf diesem „Rosenmarsch“.

In ganz Oslo fanden am Montagabend solche Blumenzüge statt. Die Osloer Polizei sprach am Dienstag von der größten Menschenversammlung seit Ende des Zweiten Weltkriegs und schätzt, dass insgesamt knapp 200 000 Teilnehmer an den verschiedenen Märschen und Kundgebungen teilgenommen haben.

„Heute sind unsere Straßen mit Liebe gefüllt“ – als Kronprinz Haakon auf dem Rathausplatz diesen Satz den Menschen zurief, konnten viele Menschen ihre Tränen nicht zurückhalten. Auch Alexander Ryback kämpfte mit den Tränen, der aus Weißrussland stammende Norweger, der vor zwei Jahren den Eurovision Song Contest gewann. Als er auf seiner Violine ein Stück von Grieg anstimmt, wird es auf dem Rathausplatz ruhig. Fast jeder hält rote oder weiße Rosen hoch, und für einen Moment scheint es, als habe die Hoffnung über den Schmerz gesiegt.

Auch Ministerpräsident Jens Stoltenberg lässt sich nicht von Rachegedanken leiten und spricht den Menschen vor dem Rathaus aus der Seele. „Das Meer an Menschen hier vor mir und die Wärme, die ich aus dem ganzen Land spüre, machen mich ganz sicher: Norwegen besteht diese Prüfung.“ Es sind wohl genau die richtigen Worte, die die Menschen in diesem traumatisierten Land brauchen. Diesen Ton hatte Stoltenberg von Anfang an getroffen. Die Menschen brauchen Worte, die Halt geben. Trost finden sie in diesen Tagen der Verzweiflung in ihrem Ministerpräsidenten, der mit seiner Haltung, seinem Ton, seinen Worten dem Volk nahekommt, mehr als je zuvor. Er, der immer als eher farblos und pragmatisch galt, strahlt nun eine Wärme aus, die die Menschen in diesen Stunden so sehr brauchen. Schon unmittelbar nach den Angriffen hatte er von mehr Offenheit, Menschlichkeit und Demokratie als Antwort auf die Gewalt gesprochen. Nicht von mehr Gesetzen, mehr Polizei oder Vergeltung, Stichworte, die in manchem anderen Land geradezu reflexartig fallen. In seiner Haltung ist sich Stoltenberg mit Kronprinz Haakon und – so scheint es an diesem Tag – dem ganzen Land einig. Haakon hatte in seiner Rede die Sätze gesagt: „Wir stehen vor einer Wahl. Wir können das Geschehene nicht ungeschehen machen. Aber wir können uns entscheiden, was es mit uns als Gesellschaft und als Einzelne macht.“

Tove und Martin stecken ihre Blumen in die Ritzen der Mauern am Platz, als wollten sie zeigen, dass das Leben nicht so grau ist wie die Mauern. Die Menschen ziehen Richtung Domkirche weiter, wo ein Fackelzug wegen der enormen Teilnehmerzahl kurzfristig abgesagt werden musste. Dort vor der Kirche, wo schon am Wochenende viele Osloer Blumen niederlegten und Kerzen im Gedenken an die Opfer aufstellten, sperrte die Polizei die Straße ab – das Blumenmeer war einfach zu groß geworden. „Diese Stunden werden wir nie vergessen“, sagt eine junge Mutter, die ihren Kinderwagen mit vielen roten Rosen geschmückt hat.

Es sind die vielen Einzelschicksale, die die Norweger in den vergangenen Tagen so bewegt haben. Eines davon ist der Halbbruder der norwegischen Prinzessin Mette-Marit. Trond Berntsen, 51 Jahre alt, Polizist, war zum Zeitpunkt des Massakers als privater Wachmann für die Sicherheit im Sommercamp verantwortlich. Berntsen brachte zuerst seinen Sohn, der sich ebenfalls im Sommerlager aufhielt, in Sicherheit und versuchte dann, den Angreifer festzunehmen. Aber der 32-jährige Schütze zögerte nicht eine Sekunde und tötete den unbewaffneten Polizeibeamten. Der 51-Jährige war der Sohn des zweiten Ehemannes von Mette-Marits Mutter.

Nicoline Bjerge Schie überlebte das Massaker. Jetzt graut ihr vor den Beerdigungen ihrer Freunde. „Da wird es Wirklichkeit, jeder Einzelne“, sagt sie. Das schlimmste aber sei, die Eltern und Angehörigen der Toten zu sehen, während sie überlebt habe. Alle Überlebenden sollten ihre grausamen Erlebnisse mit möglichst vielen Menschen teilen. „Die Leute da draußen müssen erfahren, wie es wirklich war.“ Sie würden weiter für ihre Werte kämpfen, sagt Stine Renate Håheim, eine weitere Überlebende. „Wenn ein Mann so viel Hass zeigen kann, stell dir vor, wie viel Liebe wir alle zeigen können.“ Die 16-jährige Ingvild Stensrud berichtete, wie sie mit toten Menschen auf und unter sich dalag – sie habe gehört, wie der Attentäter zwischen den Schusssalven jubelte. „Ich tat, als sei ich tot“, erzählte sie. Dann habe sie gehört, wie er seine Waffe nachlud: „Das war der schlimmste Augenblick in meinem Leben.“ Breivik schoss ihr in den Fuß, alle um sie herum starben. Nach einer halben Stunde hätten alle Handys angefangen zu klingeln. „Es klingelte und klingelte, aber keiner ging ran. Ich glaubte, ich sei die einzige Überlebende.“

Viele Tausend Kilometer entfernt in Shanghai konnte Alexander Dale Oen nur schwer seine Fassung bewahren. Der Norweger war gerade Weltmeister über 100 Meter Brustschwimmen geworden. Er kämpfte mit den Tränen. „Die Hymne, die Flagge, ich habe an alle zu Hause gedacht und dann kam alles wieder hoch“, sagte er. „Wir dürfen nicht zulassen, dass dieser Kerl unsere Zukunft ruiniert.“

Helmut Steuer

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