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"Stille Nacht, Heilige Nacht". Einer fängt an, alle stimmen ein. Dann schallt es von jenseits der Front: "Good, old Fritz!" Und zurück: "Merry Christmas, Englishmen."

© Reuters

Weihnachten 1914 an der Westfront: Frieden von unten

Verfeindete Soldaten feiern im Ersten Weltkrieg gemeinsam Weihnachten. Bis ihnen befohlen wird, weiterzutöten. Ein kleiner Frieden im Großen Krieg.

Die Männer, die hier an der Westfront im belgischen Flandern kämpften, sind alle schon tot. Doch sie haben Spuren hinterlassen in der Erde, die immer wieder aus der Vergangenheit auftauchen. Mal beim Pflügen, wenn einer der Bauern auf scharfe Granaten trifft, die er dann in stählerne Käfige am Ackerrand deponiert, wo sie von Spezialisten der belgischen Armee abgeholt und entsorgt werden. Mal beim Bau einer neuen Straße, wenn wie im vergangenen Sommer Bulldozer auf die Gebeine von Gefallenen stoßen. Allein um die Stadt Ypern herum sind zwischen 1914 und 1918 mehr als 500.000 Männer getötet worden – Engländer, Deutsche, Franzosen, Kanadier, Belgier, Australier; und allein in dieser Gegend wurden im vergangenen Jahr mehr als hundert Tonnen Munition geborgen.

Die Schlachtfelder sind heute aber auch ein fester Etatposten im Haushalt der Lebenden. Touristen – zumeist aus England, weil Großbritannien im Großen Krieg mehr Menschen verloren hat als im gesamten Zweiten Weltkrieg – lassen Jahr um Jahr zwischen 40 und 42 Millionen Euro in Ypern. Das Flanders Field Museum zeigt ihnen zwar den Krieg in all seiner Grausamkeit, aber im Gedenken an das Wunder des Weihnachtsfrieden 1914 wird in diesem Jahr beim Konzert in der St.-Martins-Kathedrale am 18. Dezember ein Friedenspreis der Stadt verliehen.

Die Vorstellung, dass 18-, 19-Jährige für irgendwelche nationalen Ziele über Grenzen hinweg in einen Krieg zogen, ist heute 18-, 19-Jährigen so fern wie ein grenzenloses Europa so nah. Unvorstellbar für sie auch, dass ihre Urgroßväter nicht nur glaubten, eine vaterländische Pflicht erfüllen zu müssen, indem sie einen Todfeind genannten Nachbarn jenseits der Grenze umbrachten, sondern ihren Einsatz als ein Geschenk Gottes sahen, als die Chance, zum Mann zu reifen, letzte Weihen in einer als heilig stilisierten Schlacht zu erhalten. Für die meisten waren es tatsächlich die letzten.

Tausende von Tannenbäumen ins Hinterland der deutschen Stellungen geliefert

Bereits am ersten Weihnachtsfest an der Front, im fünften Monat des Großen Krieges, war nur noch wenig zu spüren gewesen von der anfänglichen Begeisterung, aufs Feld der Ehre ziehen zu dürfen, vom Hurra-Patriotismus, der sie einst alle infiziert hatte. Das Feld der Ehre war im Dezember 1914 ein Leichenfeld. Zu normalen Zeiten wären sie am Weihnachtsfest zusammen mit ihren Familien um den mit Kerzen geschmückten Baum gestanden, in geheizten Zimmern, im Frieden auf Erden. Jetzt standen sie in der Kälte der flandrischen Nacht im Freien, waren von ihren Angehörigen getrennt und mussten zudem fürchten, die nie wiederzusehen – ihre Eltern, ihre Geschwister, ihre Frauen, ihre Kinder, ihre Liebsten.

Frieden schaffen ohne Waffen. Deutsche, Briten, Belgier, Franzosen - Menschen im Krieg, die keinen Krieg mehr wollen. "We shoot, you not shoot!"
Frieden schaffen ohne Waffen. Deutsche, Briten, Belgier, Franzosen - Menschen im Krieg, die keinen Krieg mehr wollen. "We shoot, you not shoot!"

© epd

Eine Woche vor Heiligabend waren Tausende von kleinen Tannenbäumen ins Hinterland der deutschen Stellungen geliefert worden. Rechtzeitig zum Christfest. Viele fertig zum Gebrauch. Kerzen bereits an den Zweigen. Die mussten nur noch im passenden Moment angezündet werden. Die Engländer gegenüber sammelten Mistelzweige, unter denen in Großbritannien traditionell am Christmas Day, dem ersten Weihnachtstag, das Fest der Liebe mit einem Kuss für alle beginnt, die unter ihm durchschritten. Nach Einbruch der Dunkelheit an diesem 24. Dezember 1914 – und dunkel ist es bereits gegen 16 Uhr – verzog sich der Wind. Am Morgen dieses 24. Dezember 1914 hatte der seit Tagen andauernde Regen aufgehört. Die Temperaturen sanken langsam unter die Gefriergrenze. Über schwappenden Brühen in unzähligen Granattrichtern wuchs zusehends eine dünne Eisschicht. Der Nebel verschwand. Die Körper im Niemandsland zwischen den Schützengräben verloren ihre grau zerfließende Anonymität, bekamen wieder eine feste Gestalt. Viele dieser Toten, seit Wochen ungeborgen im Schlamm der Felder Flanderns liegend, trugen Raureif als weißes Leichenhemd.

Gesang brandet wie eine Welle übers Feld

Anfangs ist es nur einer, der „Stille Nacht, Heilige Nacht“ vor sich hinsingt. Leise klingt die Weise von Christi Geburt, verloren schwebt sie in der toten Landschaft Flanderns. Doch dann brandet Gesang wie eine Welle übers Feld. Hundert Meter entfernt, in den Stellungen der Briten, bleibt es ruhig. Die deutschen Soldaten aber sind in Stimmung, Lied um Lied ertönt ein ungewöhnliches Konzert aus Tausenden von Männerkehlen rechts und links, bis denen nach „Es ist ein Ros entsprungen...“ die Luft ausgeht. Als der letzte Ton verklungen ist, warten die Engländer drüben noch eine Minute, dann beginnen sie zu klatschen und zu rufen: „Good, old Fritz“ und „Encore, encore“ und „More, more“. Zugabe, Zugabe.

Die derart hoch gelobten Fritzens antworten mit „Merry Christmas, Englishmen“ und „We not shoot, you not shoot“, und was sie da rufen, das meinen sie ernst. Sie stellen auf den Spitzen ihrer Brustwehren, die fast einen Meter über den Rand der Gräben ragen, Kerzen auf und zünden sie an. Bald flackern die wie aufgereihten Perlen durch die Finsternis. Die Bühne für die Inszenierung ist ausgeleuchtet, die Generalprobe für ein Stück gelungen, das an den nächsten Tagen an der Westfront gegeben wird. Hier und dort und überall von der Nordsee bis zur Schweizer Grenze.

Ein paar Kilometer westlich von Fleurbaix leuchten nicht nur Kerzen auf den Gräben. Englische Soldaten trauen ihren Augen kaum, als sie in dieser Nacht einen Blick über ihre Deckung riskieren. Auf den gegnerischen Befestigungen stehen kleine beleuchtete Tannenbäume, manche zusätzlich mit Laternen geschmückt. Die wurden später abgenommen und mutige Jerries trugen sie wie einen Stern vor sich her, als sie aufbrachen ins Niemandsland. Einige Riflemen plädieren ungerührt dafür, denen die Lichter auszupusten, doch drüben rufen sie in really good English, man möge doch lieber miteinander reden, statt aufeinander zu schießen. Das entspricht eher ihren Gefühlen.

Und denen der anderen offenbar auch.

Friede den Menschen auf Erden

Im Niemandsland treffen sie sich. Eine kleine Gruppe. Sie wird von ein paar Taschenlampen beleuchtet, falls einer es wagen sollte, eine falsche Bewegung zu machen, aus der Entfernung sind nur Sprachfetzen zu hören. Ab und zu dröhnt Gelächter. Sie scheinen sich zu verstehen. Nach etwa einer halben Stunde gehen alle wieder, jetzt unter stürmischem Beifall von den verschiedenen Rängen, zurück in ihre Gräben. Für den morgigen Tag haben sie abgemacht, erst einmal die Toten zu beerdigen, die im Niemandsland liegen.

Ehre sei Gott in der Höhe, Friede den Menschen auf Erden, verheißt das Evangelium für diesen Tag. In offenbar gewordener Abwesenheit eines Höheren auf Erden beschließen Deutsche und Briten spontan, Franzosen und Belgier zögernd, an Weihnachten 1914, ohne auf Gottes Segen zu warten, nicht aufeinander zu schießen. Einen solchen Frieden von unten gab es noch nie in der Geschichte eines Krieges. Es hat niemals wieder einen gegeben. Der Kerzenschein in den Tannenbäumen, der gemeinsame Gesang der Weihnachtslieder, die sie in bei Gott anderen Zeiten im Kreise ihrer Familien gesungen haben, verstärken die wehmütige, die friedliche Stimmung unter den Soldaten.

Doch das Töten ging weiter im Großen Krieg. Am dritten Tag nach der Hoffnung für die Menschheit beginnt wieder der blutige Alltag des Mordens. Allein um die Stadt Ypern in Belgien sind zwischen 1914 und 1918 mehr als 500.000 Männer getötet worden. Engländer, Deutsche, Franzosen, Kanadier, Belgier, Australier.
Doch das Töten ging weiter im Großen Krieg. Am dritten Tag nach der Hoffnung für die Menschheit beginnt wieder der blutige Alltag des Mordens. Allein um die Stadt Ypern in Belgien sind zwischen 1914 und 1918 mehr als 500.000 Männer getötet worden. Engländer, Deutsche, Franzosen, Kanadier, Belgier, Australier.

© dpa

Zwar ist es wahr, dass auch an Weihnachten nicht nur dort weiter geschossen wurde, wo preußische Regimenter den Briten und Franzosen gegenüberlagen. Zwar ist es wahr, dass nicht überall an der Westfront die Waffen schwiegen. Aber es ist auch wahr, obwohl es nicht passt ins verbreitete Bild vom deutschen Soldaten als brutalem Menschenschlächter, dass fast alle Annäherungsversuche von den Hunnen ausgehen werden, den Boches, den Fritzens, den Jerries, den Aggressoren.

Der Ausbruch aus den Schützengräben, ohne die Angst, nicht mehr zurückzukehren in diese scheinbare, brüchige Sicherheit unter der Erdoberfläche, ist die Initialzündung zu allem, was nach der gelungenen nächtlichen Generalprobe am nächsten Tag noch passieren wird, von der Hasenjagd bis zum Fußballspiel, vom Auftritt eines Jongleurs bis zum Boxkampf. Die Männer wollten raus aus den Gräben, freiwillig. Nur bei nächtlichen Angriffen hatten sie sonst ihre Stellungen Richtung Niemandsland verlassen, unfreiwillig. Jetzt kann ihnen alles nicht schnell genug gehen, fast wirkt es wie eine Flucht. Noch etwas ist anders: der Gang. Kein Robben im Dreck. Kein Kriechen über Leichen. Kein Kauern in Ackerrinnen. Kein Verhaken im Stacheldraht. Auf Augenhöhe kommt ihnen der Feind entgegen und ist unbewaffnet wie sie.

Miteinander zu reden war wesentlich

Das Niemandsland wird zum Jedermannsland, ist bald so voll wie ein Schulhof während der großen Pause. Sie alle stehen mit den Füßen stampfend, denn es ist kalt, auf dem gefrorenen Boden, einige haben bereits Schaufeln und Spaten mitgebracht für die Bestattung der Toten. Aber zunächst genießen sie nur einfach diesen unglaublichen Augenblick. Da alle rauchen, bleibt der übliche Geruch nach Verwesung am Boden. In den Stellungen ist keiner geblieben. Es ist sicher, dass die sogenannte Fraternisierung in der Hauptsache ausgenutzt wurde, um sich vom Anblick der Toten zu befreien, sie alle zu begraben. Aber miteinander zu reden, war ebenso wesentlich.

Und miteinander zu essen, zu trinken. An einem offenen Feuer wird ein ganzes Schwein gebraten, das sich genau am falschen Tag im Niemandsland in Ruhe im Schlamm wälzen wollte. Es hatte gegen die geballte Macht beider Seiten keine Chance. Ein Hase, der aus einem Gebüsch am Rande brach, sieht sich ebenso umzingelt. „Die Hasen im Gelände waren natürlich wild geworden. Ihr Eldorado war plötzlich von Menschen belebt“, notiert der Soldat Johannes Niemann in seinem Tagebuch. Deutsche und Briten rennen hinter dem Hasen her, rutschen auf dem gefrorenen Boden aus, wenn der wieder mal einen Haken schlägt, aber schließlich grabschen sie ihn. Zwei Soldaten, ein Deutscher und ein Brite, haben ihn unter sich begraben.

Hunderte spielen Fußball zwischen den Fronten, es wird gebolzt und gekickt und wenn einer in den Dreck fällt dabei, denn in Uniform und in Stiefeln lässt sich nun mal schwer elegant spielen, hilft ihm sportlich der Gegner, der ein Feind ist, wieder auf die Beine. „Auf dem gefrorenen Acker war das nun so eine Sache. Einer von uns hatte einen Photoapparat bei sich. Da ordneten sich schnell die beiderseitigen Fußballer zu einer Gruppe, immer hübsch bunte Reihe, der Fußball in der Mitte“, erinnerte sich Niemann.

Fotos vom Weihnachtswunder wurden als Sensation verkauft

Wo kein Ball aufzutreiben war, tut es ein zurechtgepresstes Stück Stroh, umwickelt mit Draht, den es zuhauf gibt. Und wenn es auch dafür nicht reicht, muss es halt eine leere Konservenbüchse sein. Wie die Kinder rennen sie hinter ihren seltsamen Fußbällen her. Angefeuert von denen, die auf den Tribünen sitzen, ihren Brüstungen, und zuschauen. Auch britische Offiziere haben ihre Kameras parat und fotografieren die War Games. Beim allgemeinen Gebolze haben alle ihren Spaß, das Ergebnis interessierte keinen: Es gab keinen Schiedsrichter, woher auch, es gab keinen Torstand, schon allein die Stiefel, die sie trugen, verhinderten ein richtiges Spiel. Die in England gedruckten Fotos vom Weihnachtswunder standen auf Seite eins und wurden als Sensation verkauft: Exclusive. The First Photographs from the Unofficial Xmas Truce. Die Zensur war machtlos. Sie konnte allenfalls den Vertrieb der entsprechenden Zeitungen einschränken, indem sie deren Lieferungen an die Westfront stoppten.

In Deutschland gab es in vorauseilendem Gehorsam keine fotografischen Veröffentlichungen, obwohl auch deutsche Soldaten den plötzlichen Frieden fotografiert hatten.

Der ganz besondere erste Weihnachtsfrieden dauerte ein paar Tage, ein paar Wochen und an manchen Abschnitten überstand er sogar nahezu ungebrochen das Jahr bis zum nächsten Weihnachtsfest. Das war ungewöhnlich. Zwar gab es im Stellungskrieg um Ypern herum selten eine Nacht ohne Verluste auf beiden Seiten, doch an anderen Frontabschnitten blieb es laut Eintrag in die jeweiligen Regimentstagebücher monatelang ruhig, keine Toten mussten verzeichnet werden. Und diese ganz besondere Waffenruhe, basierend auf persönlichen Begegnungen, wirkt sich jetzt in ganz besonderen Umgangsformen zwischen den Fronten aus. „Gentlemen“, teilen Sachsen ihren Gegnern mit, „unser Oberst hat befohlen, ab Mitternacht das Feuer wieder aufzunehmen. Es ist uns eine Ehre, Sie darüber zu informieren.“ Sie übergeben die Botschaft am Nachmittag, als sie sich mit den Briten zur tea-time im Niemandsland treffen, denn bei dem Wetter ist ein heißer Tee genau das Richtige und wer könnte den besser zubereiten als ein Engländer? Die Sachsen bringen Schnaps mit.

Hoffnung für die Menschheit

Sie haben schriftlich niedergelegt, was ihnen befohlen worden ist, damit die Kameraden von drüben etwas in der Hand haben für ihr eigenes Hauptquartier, doch lassen sie keinen Zweifel daran, wohin sie ab Mitternacht dann schießen werden. Über die Köpfe der Gentlemen. Für die eigene Artillerie allerdings können sie nicht garantieren.

Man könne das Wunder des Weihnachtsfriedens mit dem Hinweis erklären, dass es eben ein Wunder gewesen sei, von Gott gegeben zur Geburt seines Sohnes. Aber daran würden ja nicht wirklich alle glauben, schränkt ein Redakteur des „Manchester Guardian“ seinen schwermütigen Abgesang auf den Frieden im nächsten Satz gleich wieder ein und bleibt bei irdischen Deutungen: „Es war kein Waffenstillstand von Gott gegeben in dem Sinne, dass er von der Kirche initiiert und autorisiert worden wäre. Diese Waffenruhe erweckte im Gegenteil noch viel mehr Hoffnung, als es ein von der Kirche getragener Friede geschafft hätte.“

Denn wenn so etwas einfache Menschen schaffen würden trotz des verzweifelten Zustands, in dem sie sich befanden, dann bestehe Hoffnung für die Menschheit. Das eigentlich sei die Botschaft, die bleibe, auch wenn dieser verdammte Krieg weitergehe. Am dritten Tag danach beginnt erneut der blutige Alltag des Mordens. Der Große Krieg dauerte noch fast vier Jahre und kostete neun Millionen Menschen das Leben.

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