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Wirtschaft: Amerika – erneuerbar

Viel Wind um deutsche Technik in Amerika: Wie Siemens den USA bei der Rückgewinnung der verlorenen Industriebasis hilft

Liebevoll streicht Ollies Hand über die Außenhülle des Turbinenflügels. „Fühlen Sie mal. Da ist keine Naht“, sagt der 33-jährige Schwarze mit Genugtuung. Wir stehen in einer der lichten Produktionshallen für Windturbinen am Stadtrand von Fort Madison im Bundesstaat Iowa. Die Hallen sind fast so groß wie ein Fußballfeld, und doch bietet jede nur Platz für rund ein Dutzend der Propellerblätter, die in ein paar Monaten sauberen Strom für Amerika produzieren sollen. Jedes Blatt ist ein Monstrum: 49 Meter lang – das entspricht knapp der Hälfte eines U-Bahnsteigs. In der kreisrunden Öffnung an der Basis, wo der Flügel an den Rotor angeflanscht wird, hat ein stämmiger Mann wie Ollie Platz, ohne sich bücken zu müssen.

Von innen sieht so ein Windturbinenflügel wie eine Tunnelröhre aus, deren Wände sich in fantasievollen Windungen verengen und in einer schmalen Spitze auslaufen. Drinnen hantiert einer von Ollies Kollegen mit einem Maßband, prüft Abstände, bringt Markierungen an – die Qualitätskontrolle, ehe der Flügel in die Lackiererei einige Hallen weiter gebracht wird. Auch das ist eine Operation für sich. Trotz Leichtbauweise wiegt ein Turbinenblatt zwölf Tonnen und ruht deshalb auf fahrbaren Speziallafetten.

Auf die nahtlose Außenhülle der Rotorblätter sind Ollie und sein Produktionsleiter James Jones besonders stolz. Das schaffe keiner der Konkurrenten im Windenergiegeschäft. Die fügten einen Flügel aus zwei Teilen zusammen; Unter- und Oberseite sind unterschiedlich geformt, das Innere muss aus Gewichtsgründen hohl sein. So bleiben Nähte an der Schmalseite der Rotorblätter. Mit der Nahtlostechnik sei Siemens der anerkannte „quality leader“ und könne 20 Jahre Garantie geben. Windturbinen sind dem Wetter ausgesetzt. Nähte könnten noch so gut abgedeckt und mit Lack geschützt werden. Mit der Zeit werden die Schichten porös, dringen Wassertropfen ein und sprengen beim nächsten Frost die Naht. Siemens hat dieses Risiko minimiert.

Natürlich erfahren Journalisten stets das Beste, wenn ein Konzern die Fabriktore öffnet. Doch die Tonlage, in der die Menschen in Fort Madison über die vier Jahre junge Ansiedelung reden, geht über das Übliche hinaus. Ollies Leben hat mit der Anstellung eine Wende erfahren. Bürgermeister Steve Ireland hat wieder Hoffnung, dass Deindustrialisierung plus Rezession seine Kleinstadt nicht zum schleichenden ökonomischen Abstieg verdammen. Präsident Obama kam im April 2010 zu Besuch und nannte die Fabrik ein Vorbild, wie Amerika die Energiewende schaffen und zugleich die in der Finanzkrise verlorenen Jobs zurückgewinnen könne. „Ihr zeigt Amerika die Zukunft.“ Das werden die Bürger noch ihren Kindern und Enkeln erzählen.

In Washington verweigert der Kongress dem Präsidenten die Zustimmung zum neuen Energiegesetz. Aber in den Regionen hat die Erneuerung Amerikas mithilfe erneuerbarer Energien längst begonnen. Nebenbei lässt sich lernen, warum Deutschland die weltweite Rezession glimpflich überstanden hat und Amerika sich so schwer tut.

Ollie kam 1997 aus Arkansas nach Iowa. „Es war ein ständiger Kampf um Jobs, um die Familie zu versorgen.“ Je nach Konjunktur wurde er angestellt und wieder entlassen. Vor Siemens arbeitete er in einem Heimwerkermarkt und baute Kamine. Als sich 2008 die Finanzkrise abzeichnete, begann eine Kündigungswelle. Bevor es ihn erwischte, sah er sich nach Alternativen um und fand sich 2008 „mit 4000 anderen“ in einem Vermittlungsbüro wieder, das Personal für die neue Siemensfabrik suchte. Er wurde genommen. Drei Jahre bei derselben Firma, das hat er noch nie erlebt. „Der Job ist sicher und wir tun auch was für die Umwelt“, sagt er stolz. Seine Frau, die bisher als Kellnerin dazuverdiente, kann sich endlich die Ausbildung zur Krankenschwester leisten.

Fort Madison, 11 000 Einwohner, wirkt wie eine der vielen unscheinbaren Kleinstädte „in the middle of nowhere“ im Mittleren Westen. 1808 war es der erste Militärposten am Westufer des oberen Mississippi. Eine Bürgerinitiative wirbt für die Erhaltung der Holzpallisaden um das ehemalige Fort. Die Eisenbahnstation und der Hafen künden von früherer Bedeutung als Warenumschlagplatz und Industriestandort. Heute liegt nur ein Raddampfer namens „Catfish“ am Kai. Er dient als Spielcasino. Wenn man abends zu „Faeth’s“ geht – ein traditionsreiches Ladengeschäft, das alles führt von Seife über Gewehre und Munition bis zu Kleidung und zugleich der einzige Ort ist, wo es zu später Stunde ein frisch gezapftes Bier gibt –, lässt der weißhaarige Besitzer in der ausgebeulten Latzhose gleich drei Mal binnen 30 Minuten mit Vaterstolz ins Gespräch einfließen, auch seine Tochter arbeite bei Siemens.

Früher nannte man die Region von Pennsylvania über Ohio und Illinois bis Iowa den Industriegürtel, heute heißt sie „Rostgürtel“. Steve Ireland ist seit 2005 Bürgermeister von Fort Madison und hat in den sechs Jahren mehr Betriebe gehen als kommen sehen. 2007 schloss der Schreibgerätehersteller Sheaffer Pen. Die Arbeitslosenquote stieg auf über elf Prozent, die höchste in ganz Iowa. Zuvor hatte die Fabrik für Sattelzuganhänger dicht gemacht. Auf deren Gelände siedelte sich Siemens an. Im August 2007 wurden die ersten Turbinenflügel nach Texas ausgeliefert. Heute arbeiten mehr als 700 Menschen bei Siemens. „Und jeder Job dort schafft 1,65 Arbeitsplätze anderswo in unserem Bezirk“, sagt Ireland, „in Geschäften, Restaurants oder beim Autohändler.“ Die Arbeitslosigkeit ist auf neun Prozent gesunken. Seine Stadt hat die Industrieabwanderung gestoppt. Von Dienstleistung allein kann ein Provinzstädtchen auf Dauer nicht leben.

Doch warum geht Siemens in den „Rostgürtel“? Es gab großzügige Ansiedlungshilfe, aber die hätte man auch anderswo in den USA bekommen. Fort Madisons Trumpf sind die Transportwege. Es liegt am Mississippi, der die Mitte des Landes von Norden nach Süden durchfließt und mit seinen Zuflüssen ein Drittel der USA auf dem Wasserweg erschließt. Und an einer Ost-West-Eisenbahnlinie, die von Chicago bis an die Pazifikküste reicht. Transportkosten sind ein wichtiger Faktor bei einem so sperrigen und schweren Produkt wie Windturbinenflügel. Das Gelände hat seinen eigenen Gleisanschluss. Darauf stehen drei beladene Züge bereit. Jeder davon ersetzt 42 kostspielige Spezialtransporte per Lkw mit Begleitfahrzeugen.

Am Beispiel von Siemens in Fort Madison lässt sich vieles lernen über die Chancen und die Gefahren von Umstrukturierung und Neuausrichtung. Windenergie ist für Siemens eine junge Sparte. Lange hatte der Konzern auf Atomkraft, Kohle und Gas gesetzt. 2004 stieg Siemens ins Windgeschäft ein – in Dänemark, das damals führend in Europa war – und setzte parallel auf die USA, die mit der Kaufkraft ihrer 310 Millionen Einwohner den größten Konsumentenmarkt bilden. Mit durchschnittlichen Wachstumsraten von 40 Prozent pro Jahr sind sie einer der wichtigsten Märkte für Windenergie.

Die politischen Entwicklungen sind freilich mitunter schwer zu kalkulieren. Amerika geht anders mit Energie um als Deutschland. Nach mehreren starken Jahren halbierte sich der Zuwachs an neu installierter Windenergiekapazität 2010 auf etwa 5000 Megawatt, sagt Eric Spiegel, der Siemens-Chef für die USA. 2009 waren es noch 10 000 Megawatt. Das lag wohl auch daran, dass Präsident Obama keine Mehrheit für sein Energiewende-Gesetz im Parlament fand. Siemens kam mit dem Einbruch besser zurecht als andere und rückte bei landgestützten Windturbinen („Onshore“) auf den zweiten Platz in Amerika hinter General Electrics vor. Windenergie trage etwa zehn Prozent zum Siemens-Umsatz in den USA bei, sagt Spiegel, und die Energiesparte Kohle, Gas und Wind etwa ein Drittel.

Bei Offshore-Anlagen im küstennahen Meer ist Siemens sogar Marktführer, jedenfalls auf dem Papier. In Dänemark, Großbritannien und China sind solche Windparks gang und gäbe. In den USA wurde erst einer eröffnet, „Cape Wind“ in Massachusetts. Die Firma schloss einen Liefervertrag mit Siemens über 130 3,6-Megawatt-Turbinen – unter dem Vorbehalt, dass die Genehmigungen erteilt werden. Anwohner protestieren, weil sie eine Verschandelung einer der beliebtesten Ferienregionen der USA befürchten, dem Nantucket Sund vor Cape Cod.

Gesetzliche Vorgaben aus Washington zugunsten erneuerbarer Energien wird es vor der Präsidentschaftswahl 2012 wohl nicht mehr geben. Das lassen Siemens-Chef Spiegel und der Abteilungsleiter für erneuerbare Energien im Energieministerium, Henry Kellen, durchblicken. Doch 29 der 50 Bundesstaaten haben verbindliche Quoten für den Anteil sauberer Energien an der Stromversorgung vorgeschrieben. Auch Energiekonzerne in republikanisch regierten Regionen bestellen Solaranlagen und Windparks. Vor wenigen Tagen bekam Siemens den Auftrag, 73 Windturbinen nach Kansas zu liefern, für 168 Millionen Euro.

Amerika hat seine Industriebasis lange vernachlässigt und auf Dienstleistungen gesetzt. Vor der Finanzkrise predigten Modernisierungsgurus, das produzierende Gewerbe stehe für Vergangenheit. Die Zukunft liege in finanziellen Dienstleistungen. Deutschland galt als veraltet, weil das produzierende Gewerbe 22 Prozent zur Wirtschaftsleistung beiträgt, und Amerika als modern wegen seines hohen Anteils an Finanzdienstleistern.

Die Rezession hat die Bewertung umgedreht. Deutschland erholte sich dank seiner exportstarken Industrie schneller. In den USA gilt der geringe Anteil des produzierenden Gewerbes von nur elf Prozent heute als Schwäche. „Amerika wieder Arbeit geben“ war das Motto, als Präsident Obama 2010 moderne Gewerbeansiedlungen wie Siemens in Fort Madison besuchte. Die „grünen Jobs“ in erneuerbaren Energien seien der Schlüssel zum Abbau der Arbeitslosigkeit, hatte er zuvor in der „Rede zur Lage der Nation“ gesagt.

Deutschland gilt heute als Vorbild bei der Reindustrialisierung Amerikas. Deutsche Konzerne spielen ganz vorne mit. VW hat gerade die Produktion einer auf die USA zugeschnittenen Version des Modells Passat in Chattanooga, Tennessee, begonnen – auch dort hatten Jahre zuvor veraltete US-Industrien geschlossen.

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