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Gewerkschaften: Arbeitsrechtler: „Es wird kein Chaos geben“

Arbeitsrechtler Wolfgang Däubler über die Legitimation der Berufsgewerkschaften, die Monopolstellung des DGB und die Weimarer Republik.

Herr Däubler, warum schlägt das Geschehen um die Tarifeinheit solche Wellen?

Weil die großen Gewerkschaften versuchen, die kleinen kaputt zu machen. Nach der Einigung zwischen BDA und DGB soll die Minderheitsgewerkschaft im Betrieb keine Chance mehr haben, zu Tarifverträgen zu kommen und dafür notfalls zu streiken. Wozu brauchen wir Minderheitsgewerkschaften?

Die Gewerkschaften der Lokführer, der Piloten, der Ärzte haben für ihre Mitglieder eine Menge rausgeholt. Nun befürchten Arbeitgeber und DGB, dass diese Beispiele Schule machen könnten. Das stört beide Seiten und deshalb verlangen sie, dass der Gesetzgeber nur noch den „Mehrheitstarif“ zulässt.

Vor allem die Arbeitgeber befürchten ständige Auseinandersetzungen in den Unternehmen und eine Streikwelle.

In den letzten Jahren hat es in Deutschland etwas mehr Streiks gegeben als in der Vergangenheit, aber es bestand auch mehr Anlass. Und doch sind wir immer noch nach der Schweiz und Österreich eines der streikärmsten Länder der Welt. Die Beschwörung einer „Streikwelle“ ist Panikmache, man malt ein Gespenst an die Wand, um mehr Zustimmung für das eigene Vorhaben zu finden.

Schätzungen zufolge gibt es bis zu 300 Arbeitnehmerorganisationen in Deutschland, die in der Lage wären, Tarifverträge abzuschließen und dafür auch zu streiken.

Dies ist eine Fantasiezahl. Wir haben acht DGB-Gewerkschaften, sechs Spezialistengewerkschaften und die sogenannten Christen, die aber nie streiken. Vielleicht kommen noch zwei oder drei Gewerkschaften dazu, doch wer glaubt, dass dies den sozialen Frieden gefährdet? Bisher haben sich die Spezialistengewerkschaften keineswegs unvernünftig verhalten. Die Gewerkschaft der Fluglotsen hat zum Beispiel ordentliche Tarifverträge erreicht, ohne je gestreikt zu haben.

Wie kam es überhaupt zu der Fluglotsengewerkschaft?

Verdi wollte vor einigen Jahren unbedingt eine Tariferhöhung mit einer Drei vor dem Komma. Dies ging nicht ohne Konzessionen auf anderen Gebieten. Bei den Fluglotsen lagen diese nach meiner Kenntnis im Urlaub und in der Aufweichung des Vier-Augen-Prinzips, wonach immer zwei Lotsen auf einen Schirm blicken. Das hat die Mehrheit der Fluglotsen nicht akzeptiert und sich deshalb von Verdi getrennt. Die gemachten Konzessionen konnten in der nächsten Tarifrunde wieder rückgängig gemacht werden.

Also sind die großen Gewerkschaften schuld am Aufkommen der kleinen?

Ja, zu einem beträchtlichen Teil. Ein weiteres Beispiel ist die Eigenständigkeit des Marburger Bundes. Verdi hat mit der Einführung des TVÖD anstelle des BAT für den öffentlichen Dienst erhebliche Verschlechterungen hingenommen. Bei den Ärzten konnte das künftige Endgehalt nach 15 oder 20 Jahren um bis zu 1500 Euro pro Monat niedriger liegen. Angesichts der sowieso schlechten Arbeitsbedingungen war dies völlig inakzeptabel.

Sie haben also volles Verständnis für den Eigennutz bestimmter Berufsgruppen?

Die Beispiele zeigen, dass es nicht um egoistische Vorteile oder gar Standesinteressen ging. Die Betroffenen haben legitime Interessen wahrgenommen.

Wenn jede Berufsgruppe ihre Interessen so wahrnimmt, haben wir Chaos.

Nein. Zunächst einmal haben wir im Grundgesetz die Freiheit zur Gründung von Gewerkschaften und damit zur Tarifpluralität. Anders als in China gibt es nicht nur eine Organisation. Und das beschworene Chaos sehe ich gar nicht. Irgendwie erinnern mich die Besorgnisse von BDA und DGB an die Äußerung des preußischen Innenministers von Puttkamer, der einmal sagte, hinter jedem Streik lauere die Hydra der Revolution.

Können Sie die Motivation von BDA und DGB überhaupt nicht nachvollziehen?

Nachvollziehen schon. Es geht um die Etablierung eines bilateralen Monopols. Aber funktioniert ein Monopol besser als der Wettbewerb? Es mag für die Akteure bequemer sein, aber wie sind die Resultate? Die Mehrheitsgewerkschaften werden Konzessionen machen, weil sie ja keine Konsequenzen befürchten müssen. Das knüpft an den Korporatismus der 50er Jahre an.

Wir sind damit in Westdeutschland nicht schlecht gefahren.

Die Zeiten haben sich geändert. In den Unternehmen sind heute im Schnitt höchstens 15 bis 20 Prozent der Belegschaften in einer Gewerkschaft organisiert. Statt durch bessere Politik mehr Mitglieder zu gewinnen, wird auf juristischem Wege jede Alternative blockiert. Das hat viele Parallelen zur Flucht in die staatliche Zwangsschlichtung während der Weimarer Zeit. Wer keine eigene Kraft mehr hat, muss sie sich von anderen leihen.

Das Gespräch führte Alfons Frese

Wolfgang Däubler ist einer der bekanntesten Arbeitsrechtler. Der 71-Jährige war über viele Jahre als Professor für deutsches und europäisches Arbeitsrecht an der Uni Bremen tätig

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