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Wirtschaft: Auf eigene Rechnung im OP

Honorarärzte entscheiden frei, wann und in welchem Krankenhaus sie arbeiten. Dafür tragen sie das volle unternehmerische Risiko

Berlin - Als sie die Einladung zu der Geburtstagsparty ihres Patenkinds bekam, hat Solveigh Wiesener zum ersten Mal seit langem nicht absagen müssen. Seitdem die Anästhesistin selbstständig ist, nimmt sie sich die Zeit. Zehn Jahre lang ging das nicht. Wiesener war bei verschiedenen Universitätskliniken angestellt. Im März vergangenen Jahres kündigte sie. „Ich war fremdbestimmt“, sagt sie, „das, was ich leistete, und das, was ich dafür bekam, hat sich nicht mehr die Waage gehalten.“ Seitdem arbeitet sie als Honorarärztin.

Wiesener ist 37 und gehört zu den rund 4000 Medizinern und Medizinerinnen in Deutschland, die sich pro Einsatz bezahlen lassen. Fast jeder Zweite ist Anästhesist. Vor allem im Sommer bekommt Wiesener Anfragen von Krankenhäusern in ganz Deutschland. „Mindestens drei am Tag“, sagt sie. Ihre Einsätze plant sie meist einen Monat im Voraus. Mehrere Wochen lang arbeitet sie dann irgendwo in Deutschland. Die Anreise zahlt sie selbst, die Unterkunft stellen die Krankenhäuser. Wiesener ist bei fünf Agenturen in der Kartei registriert, überall hat sie ein Profil angelegt: mit ihrer Fachrichtung, Lebenslauf, Zeugnissen und bevorzugten Einsatzorten.

Eine der Agenturen heißt „Hire a Doctor“ und hat ihren Sitz in einem Altbau in Prenzlauer Berg. Die 14 Mitarbeiter sitzen mit Headsets vor Flachbildschirmen. Per Telefon und via E-Mail bringen sie Ärzte und Krankenhäuser zusammen. Ein wenig erinnert es an ein Callcenter. Rund 8000 Ärzte hat Michael Weber in seiner Kartei, zwei Drittel davon sind männlich. Bevor er einen Arzt an ein Krankenhaus vermittelt, muss dieser seine Unterlagen einreichen und mit jemandem aus der Agentur telefonieren. Erst dann bekommt er den Job. In deutschen Krankenhäusern fehlen rund 6000 Ärzte, vor allem Anästhesisten. Der Bundesverband der Honorarärzte schätzt, dass täglich 500 bis 800 Honorarärzte an deutsche Krankenhäuser vermittelt werden. Webers Agentur füllt Lücken. „Wir zählen nur die abgerechneten Tage“, sagt der Geschäftsführer, „in diesem Jahr liegen wir bisher im fünfstelligen Bereich.“

Zwischen 60 und 100 Euro die Stunde verdienen Honorarärzte. Ein Narkosearzt, der bei einer Herzoperation mitwirkt, bekommt meist noch ein bisschen mehr. Das Arbeitgeberbrutto für einen angestellten Facharzt liegt dagegen bei ungefähr 60 Euro. Für die Flexibilität zahlen die Krankenhäuser also deutlich mehr. Dafür müssen sich Honorarärzte selbst versichern und haben keinen bezahlten Urlaub. Sie tragen ein unternehmerisches Risiko. Angestellte Kollegen verstünden oft nicht, was Selbstständigkeit bedeutet, sagt Honorarärztin Wiesener. Etwa, wie es ist, wenn man wegen Krankheit ausfällt. „Meine Krankenversicherung zahlt erst nach 42 Tagen. So lange würde ich also gar nichts verdienen.“ Agenturchef Michael Weber kennt solche Reaktionen: „Es ist sehr schwierig, einem Angestellten den Unterschied zwischen Bruttolohn und Honorar zu erklären“. Weber verdient an der Vermittlung. Pro erfolgreicher Vermittlung berechnet „Hire a Doctor“ eine Provision zwischen fünf und zehn Euro des Honorars. Diesen Betrag zahlen die Krankenhäuser extra.

Weber ist selbst Anästhesist. Auch er hatte eine Festanstellung in Berlin, bis er 2005 kündigte und „Hire a Doctor“ gründete. Ein System, das damals noch neu war in Deutschland. Weber hat mehrere Jahre in Großbritannien gearbeitet, dort gehören Honorarärzte zum Krankenhausalltag. Die Strukturen in britischen Krankenhäusern sind nicht so hierarchisch wie in Deutschland. „Locum doctors“, wie Honorarärzte in Großbritannien genannt werden, sind geschätzte Kollegen. „Es funktioniert einfach unglaublich gut“, sagt Weber. „Ich habe gemerkt, dass ich einen Patienten gut durch die OP führen kann, selbst wenn ich nicht weiß, wo die Toilette ist.“ In Deutschland lief es anfangs weniger gut. „Zäh“, sagt Weber. Nach ein paar Monaten kam dann der erste Auftrag, inzwischen gibt es viele Vermittlungsagenturen. Seit zwei Jahren boomt das Geschäft: „Doc to rent“, „Facharztagentur“ oder „Die freien Anästhesisten“ heißen die Konkurrenten.

Werner Schregel ist Geschäftsführer der „Freien Anästhesisten GmbH“. Auch er ist Anästhesist, zehn Jahre lang war er Chefarzt in einem Krefelder Klinikum. 2007 kündigte er und wurde sein eigener Chef. Zunächst arbeitete er als Honorararzt, seit 2008 leitet er eine kleine Agentur, in deren Kartei knapp 40 Ärzte sind. Am Anfang eines jeden Monats wird abgefragt, wer wann arbeiten kann, „in der Regel sind bis zum 15. alle Termine geregelt“, sagt Schregel.

Er sitzt in einem Café in Friedenau, um die Ecke ist das Büro des Bundesverbands der Honorarärzte, in dessen Vorstand er Beisitzer ist. Sein Tag hat mit einer Krankmeldung begonnen, um 6:45 Uhr klingelte das Handy: Herr Schmidt ist krank. Schregel telefonierte mit seiner Sekretärin: „Herr Schmidt kann nicht kommen. Können Sie das klären? Herr Müller könnte vielleicht Vertretung machen, er hat heute frei.“ Dann hat Schregel ein Einstellungsgespräch. Er redet immer persönlich mit jemandem, bevor er ihn in seine Kartei aufnimmt. Eine Ärztin möchte ihre Festanstellung aufgeben. Auch ihr Mann ist Arzt, sie haben eine dreijährige Tochter. Familienleben und das Arbeiten nach Schichtplan sind nur schwer zu vereinbaren. Sie sagt: „Im Krankenhaus wird Wert auf Quantität gelegt, nicht auf Qualität.“ Viele Kollegen seien unzufrieden. Als Honorarärztin kann sie frei entscheiden, wann und für wen sie arbeitet.

Laut einer Studie des Deutschen Krankenhausinstituts beauftragen mehr als 60 Prozent der Kliniken Honorarärzte. Berliner Krankenhäuser, etwa die Charité, wollten dem Tagesspiegel nicht bestätigen, dass sie Honorarärzte beschäftigen. Die DRK-Kliniken sagen, dass sie nur „in absoluten Ausnahmefällen“ auf Honorarärzte zurückgreifen. „Der Einsatz von Honorarärzten wird von vielen Kliniken als Schwäche empfunden“, sagt Weber. Ein Grund könnte auch sein, dass es bislang kein einheitliches Qualitätsmanagement gibt. Nach jedem Einsatz verschickt Weber Mails an den Arzt und das Krankenhaus mit der Bitte um eine Bewertung. After-Sales-Management, nennt er das. Doch nicht jede Agentur macht das, und eine Zertifizierung gibt es vorerst nicht. „Ein Qualitätssiegel wird bestimmt bald kommen“, meint Weber. Schlechte Arbeit können sich Honorarärzte nicht leisten – sie sind immer in der Probezeit.

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