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Die Stadt Dardesheim in Sachsen-Anhalt produziert heute rund 40 mal so viel Strom, wie ihre rund 1000 Bewohner selbst verbrauchen.

© Stadt Dardesheim

Erneuerbare Energie: Das Windrad im Dorf lassen

Kommunen entdecken die erneuerbaren Energien. Erste sind schon unabhängig von den Großversorgern.

Erxleben. Wefensleben. Hötensleben. Weiter über Jerxheim bis nach Dardesheim. Auf der langen Fahrt über die Fachwerkhausdörfer am Westrand Sachsen-Anhalts erzählt Heinrich Bartelt eine deutsch-deutsche Geschichte, die beginnt wie eine aus dem Märchenbuch der Öko-Bewegung.

Es muss 1988 gewesen sein, sagt er, als Schweißfachingenieur Karl Radach aus Dardesheim mit dem Feldstecher von seinem Grundstück am Hang über den Todesstreifen hinab nach Niedersachsen blickte und etwas entdeckte, was er so zuvor noch nie gesehen hatte: Ein Windrad aus Metall. Es war vielleicht zehn Meter hoch, hatte zwei Rotorblätter. DDR-Bürger Radach konnte nicht mal kurz in den Westen fahren und den Besitzer fragen, wie genau es funktioniert. Ein Jahr später aber kam die Wende. Dann forschte Radach nach. So lernte er Heinrich Bartelt, den Erzähler dieser Geschichte, kennen. Der war vor mehr als 20 Jahren Vertreter für den niederländischen Hersteller dieser Windräder. Radach kaufte ihm auch ein Rad ab. So fing alles an.

Dardesheim ist heute mit knapp 1000 Einwohnern Sachsen-Anhalts drittkleinste Stadt und ein Pilgerort für Freunde der erneuerbaren Energien aus aller Welt. Zuletzt haben Delegationen aus Korea, Russland, Argentinien und Brasilien das Städtchen im Harzvorland besucht, um zu erfahren, wie die Bewohner es geschafft haben, ihren Strom zu 100 Prozent sauber – und vor allem ohne große Versorger zu erzeugen.

Kaum grüne Romantiker, eher scharf kalkulierende Bürgermeister und Vertreter von Provinzbehörden sind darunter, die davon träumen, auch so unabhängig zu werden von den Energiekonzernen, die in Asien oder Südamerika kaum zimperlicher sind als Vattenfall, Eon oder RWE hierzulande. Dafür besuchen sie das Rathaus, in dem himmelblaue Wimpel auf den Tischen stehen mit Wappen und dem Schriftzug „Dardesheim – Stadt der erneuerbaren Energie“.

Nach dem Gespräch spazieren viele Gäste zur „regenerativen Strom-Tankstelle“ gegenüber, wo ein Golf und ein Twingo mit Batterien im Kofferraum an der Steckdose hängen, die durch Strom von einem Solardach gespeist wird. Damit drehen sie lautlos eine Runde durch die Gassen, fotografieren alte Mauern mit blauen Solardächern und fahren dann hoch auf den Hügel zum kleinen „Erlebnispark“. Dort steht auch ein grauer Elektro-Trabi, mit dem man zwischen den Windrädern umherkurven darf.

Es dauerte aber, bis auch Wandergruppen in Dardesheim Halt machten, anstatt gleich weiter in den Harz zu fahren, wo echte Berge stehen. Als Ossi Radach und Wessi Bartelt kurz nach der Wende bei den lokalen Behörden vorsprachen, um das erste Windrad in dem Bundesland aufstellen zu dürfen, waren diese völlig überfordert mit dem Gerät. Es konnte mehr Strom produzieren, als Privatmann Radach brauchte. Und wofür überhaupt? Es gab doch Buschhaus, das Braunkohlekraftwerk 25 Kilometer nördlich, das alle hier versorgte. Erst 1993 durfte das Rad endlich drehen.

Meister Radach war als langjähriger Chefausbilder der Schweißer im Kreis ein geachtetes Mitglied der Gemeinde und machte erste Nachbarn neugierig. Dann lud er Bartelt nach Dardesheim ein. Der hielt in einer Versammlung im Rathaus eine Windrad-Predigt. Die Reaktionen waren verhalten. Noch so ein Wessi, der das Blaue vom Himmel verspricht?

Bartelt wurde wenig später unabhängiger Unternehmer und entschied sich trotzdem, eine Erlaubnis zu beantragen, gleich 20 Windräder auf dem windgünstigen Hügel über der Stadt aufbauen zu dürfen – gleich neben Radachs Rad. Das schaffte Vertrauen. Rund 100 Bewohner Dardesheims besaßen Grundstücke dort oben. Aber da ging der Streit erst richtig los. Plötzlich waren einige Dardesheimer dafür, nämlich die, deren Grundstücke Bartels Firma gegen Geld pachten wollte, um die Anlagen dort aufzustellen. Der Stadtfrieden war in ernsthaft Gefahr, sagt der Bürgermeister Rolf-Dieter Künne.

Es habe vier oder fünf Versammlungen zu dem Thema gegeben, bei denen es „sehr emotional“ wurde. Bartelt sei sogar einmal rausgeschmissen worden. Drei Jahre lang tüftelte der Gast aus dem Westen mit den Stadtvertretern an einem Modell, wie möglichst viele im Dorf an Gewinnen aus dem Windstrom beteiligt werden können. Am Ende einigte man sich darauf, fast alle mit Grundbesitz zu beteiligen. 1993 stellte man den Antrag, doch dann flaute dieser Wind of Change ab. Es fehlte wohl auch an Kapital.

Erst nach dem Jahr 2000, als die damalige rot-grüne Bundesregierung das Erneuerbare Energien Gesetzes (EEG) auf den Weg brachte und Investitionen in Windräder damit attraktiv wurden, ging es richtig los. Im EEG ist die Höhe der Vergütung für jedes Kilowatt geregelt, das Betreiber von Wind-, Sonnenkraft- oder Biogasanlagen ins Netz einspeisen.

2003 starb Windpionier Radach, kurz darauf stellten die Dardesheimer mit Bartelt die ersten 15 Riesenwindräder auf dem Hügel auf. Andere montierten Solardächer auf Gemeinschafts- und öffentliche Gebäude. Heute produziert Dardesheim rund 120 Millionen Kilowattstunden im Jahr – 40 mal so viel Strom, wie seine Bewohner brauchen.

Der lokale Netzbetreiber Eon Edis war kooperativ, hat alle nötigen Leitungen verlegt, um den Strom weiterzutransportieren. Mit einem Teil des Stroms werden Turbinen angetrieben, die Wasser in einen nahen Stausee pumpen. Weht einmal kein Wind, fließt das Wasser ab und produziert wieder Strom.

In anderen Kommunen, die einen ähnlichen Weg wie Dardesheim gehen, lief es anders. So konnte sich das Dorf Feldheim im Südwesten Brandenburgs mit seinem Netzbetreiber nicht auf einen fairen Strompreis einigen, obwohl es selbst auch mehr als für den Eigenbedarf nötig erneuerbar produziert. Da rissen die Feldheimer ihre Straße auf und verlegten, kofinanziert von einer Ökostromfirma, eigene Strom- und sogar eine Fernwärmeleitung. Feldheims 150 Einwohner leben seit diesem Jahr praktisch energieautark.

Ende September treffen sich mehr als 500 Vertreter von kleineren Kommunen, Unternehmer und Forscher in Kassel zum „2. Kongress der 100 % Erneuerbare Energie Regionen“, um sich über Strategien zu beraten. Möglicherweise kommt da auch ein kurioses Phänomen zur Sprache: Dardesheim wurde zu reich – dank der EEG-Umlage, die Netzbetreiber den Ökostromproduzenten zahlen müssen und das Geld dafür bei all ihren Stromkunden eintreiben. Dardesheim leistet sich neue Straßen, alle möglichen Vereine, sogar ein Orchester. Anfang 2010 aber wurde die kleine grüne Stadt im Zuge einer Gebietsreform der Stadt Osterwieck zugeschlagen. „Deren Kassen waren tiefrot. Jetzt sind sie nur noch hellrot“, sagt Bürgermeister Künne.

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