zum Hauptinhalt
Baustelle Hartz-Gesetze. Da müssen die Gerichte ran - und die sind überlastet.

© dpa

Hartz-Bilanz verheerend: Sorgenkind und Großbaustelle

Die Hartz-Gesetz wurden bisher so oft überarbeitet wie kein anderes Gesetz. Doch noch immer ist vieles nicht eindeutig geregelt und muss gerichtlich geklärt werden. Allein in Berlin sind mehr als 30 000 Fälle anhängig. Die Richter kommen kaum hinterher.

Von

Vor zehn Jahren hat der damalige VW-Manager Peter Hartz im Auftrag von Kanzler Gerhard Schröder (SPD) seine Vorschläge zur Beseitigung der Arbeitslosigkeit vorgestellt – eine Dekade später ziehen Juristen eine verheerende Bilanz der größten sozialpolitischen Reform in der Geschichte der Bundesrepublik. „Bei Hartz IV wird oft nur auf die finanzmathematische Lösung geschaut, der Rechtsfrieden kommt immer wieder zu kurz“, sagte Michael Kanert, Richter am Sozialgericht in Berlin, das mit den bundesweit meisten Klagen über die Hartz-Gesetze befasst ist.

Juristisch gesehen sei die reformierte Arbeitsmarktpolitik „ein absolutes Sorgenkind: In zwei zentralen Punkten wurde es für verfassungswidrig erklärt, und auch die Politiker fühlen sich offenbar nicht besonders wohl damit“, sagte Kanert dem Tagesspiegel.

2007 störte sich das Bundesverfassungsgericht an der doppelten Zuständigkeit von Bund und kommunalen Trägern für die Vergabe von Leistungen in den Hartz-IV-Arbeitsgemeinschaften. 2010 stellten die Karlsruher Richter fest, dass der Hartz-IV-Regelsatz zu niedrig berechnet sei. 54-mal wurde das Gesetz bisher überarbeitet – „so oft wie kein anderes“, sagte Kanert.

Die Richter kämen mit der Bearbeitung kaum hinterher. Allein am Sozialgericht Berlin waren 2011 mehr als 30 000 Fälle anhängig. „Es nützt niemandem, die vielen Klagen kleinzureden“, sagt Kanert. Dass trotz der steigenden Klage-Zahlen die Erfolgsquote für die Kläger nicht gesunken sei – in Berlin sei jede zweite Klage erfolgreich – , weise auf strukturelle Probleme hin. So hätten die Jobcenter bei Sanktionsbescheiden zeitweise bundesweit zwei Drittel der Verfahren verloren, „häufig wegen vermeidbarer formaler Fehler“.

Die Bescheide seien sehr kompliziert, das überfordere viele Menschen. Zahlreiche Fälle befassten sich mit komplizierten Verrechnungsfragen. „Da passieren Rechenfehler, oder es gehen Unterlagen verloren.“ Hartz IV sei an manchen Punkten komplizierter als das Steuerrecht.

Kanert wünscht sich eine Bagatellgrenze, um die Zahl der Verfahren einzudämmen. Eine Reform könne er sich auch beim Kindergeld vorstellen. „Hier wäre es einfacher, statt Kindergeld die Hartz-IV-Leistungen für Kinder zu erhöhen.“

Höhere Regelsätze allein seien aber keine Lösung, sagt Kanert: „Im Gesetz steht ausdrücklich, dass die Leistungsempfänger eine ganzheitliche Betreuung bekommen sollen, also beispielsweise auch Schuldnerberatung, Suchtberatung oder psychosoziale Unterstützung. In den Fällen, die ich erlebe, kommt das oft zu kurz. Vielen dieser Menschen fehlt jede Zukunftsperspektive.“

Zur Startseite

showPaywall:
false
isSubscriber:
false
isPaid:
showPaywallPiano:
false