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Wirtschaft: Henning Langenheim

Geb. 1950

„Hier. Hier ist es gewesen.“ Die Vergangenheit ragte mitten in seine Gegenwart. Mensch Henning, kannst du nicht mal was Fröhliches fotografieren?“ Henning Langenheim pflegte auf solche Bitten nicht zu antworten. Schon gar nicht, wenn sie aus dem Munde seiner Mutter oder seiner Schwiegereltern kamen. Gefälligkeit war seine Sache nicht.

Im Abiturjahr schmiss man ihn von der Schule, weil er Flugblätter gegen den Vietnamkrieg verteilte. Später wurde er Mitglied im Marxistisch-Leninistischen Studentenbund. Doch auch hier entsprach er nicht den Erwartungen: Henning Langenheim wollte seine langen Haare behalten, er fand Bob Dylans Lieder besser als die der Arbeiterbewegung.

Als Lehrer musste er ausgerechnet im Fach Lebenskunde, dem Ersatzfach für Religion, das Alte Testament anbringen. Kollegen, die sich modisch Atheisten nannten, schüttelten den Kopf.

Er diskutierte ungern mit Menschen, deren Meinung von vornherein feststand. Lieber zog er durch die Straßen und fotografierte sein Unbehagen am neuen Wirtschaftswunderland: Keimfreie Straßen, mit militärischer Präzision aufgestellte Mülltonnen. Die Fotos stellte er unter dem Titel „Die Einsamkeit des Primaten“ aus.

Als er 1986 auf der Berlinale den Dokumentarfilm „Shoah“ von Claude Lanzmann sah, konnte er den Rest der Nacht keinen Schlaf finden. Mehr denn je empörte er sich über das Schweigen der Eltern. Auschwitz, Sachsenhausen, Buchenwald, davon wusste man. Aber Sobibor? Mehr als 250000 Juden wurden dort ermordet. Oder Chatyn in Weißrussland, Maly Trostenez in Russland, Fossoli in Italien, warum hatte er diese Namen noch nie gehört? Er wollte die komplette Wahrheit erfahren, nicht länger in Häppchen und Ausschnitten, sondern in ihrer ganzen Dimension.

Am meisten bewegt hatten ihn während des achtstündigen Filmes die Worte: „Hier. Hier ist es gewesen.“ Die Vergangenheit ragte mitten in die Gegenwart. Er besorgte sich Visa, fuhr los, sprach mit Dorfbewohnern, recherchierte und fotografierte Orte des deutschen Verbrechens in ganz Europa. Mordfelder: Eine sanfte Vertiefung im Wald. Der verwilderte Fleck auf dem Acker, darunter ein Massengrab. Ein Löffel im Gras.

Misstrauisch beobachtete er durch seine Kamera auch die Gedenkkultur: die russische Propaganda, die den Judenmord tabuisierte, deutsche Society auf Trauerfeiern, die vor laufenden Kameras ihre geschmackvolle Garderobe und ihre lobenswerte Gesinnung präsentierte, englischer Rasen in Dachau.

Manchmal seufzten die Töchter: „Müsst ihr immer über Juden und Nazis reden?“ Er moralisierte oder mahnte nicht, wenn sie ihre Fernsehserien solchen Gesprächen vorzogen.

Doch seit 1986 hatte es kaum Ferien gegeben, in denen er nicht in die deutsche Vergangenheit tauchte, um mit traurigen Fotografien wieder heimzukehren, Fotografien von beklemmend kühler Ästhetik. Einige davon wurden von großen Museen ausgestellt. Henning Langenheim freute sich auf den Tag, an dem das ganze Projekt gezeigt würde.

Was er selbst während der Reisen empfand, erzählte er nie. Lieber vertiefte er sich in Geschichtsliteratur oder unternahm allein lange Fahrradtouren durch die Uckermark.

Sein Tod kam völlig unerwartet. In der Nacht spürte er eine drückende Last auf seiner Brust. Als der Notarzt kam, sagte er: „Vielleicht ist das nichts Schlimmes. Der Mond schien so schräg durchs Fenster. Vielleicht hatte ich nur einen Alptraum.“ Wenige Minuten später war er tot.

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