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Über die Zukunft des Stahls wird bei Thyssen-Krupp, Deutschlands größtem Stahlhersteller, mal wieder gerungen zwischen IG Metall, Betriebsräten und Konzernführung. Gleichzeitig entwickelt sich das Unternehmen mit seinen 150 000 Mitarbeitern weiter zum High-Tech-Konzern, der alle Möglichkeiten der Digitalisierung nutzt.

© dpa

Industrie 4.0: Ilsenburg statt Silicon Valley

Thyssen-Krupp, einer der größten deutschen Konzerne, verbindet technologischen Wandel mit dem Wandel der Unternehmenskultur.

Oliver Burkhard war das größte Talent in der IG Metall. Mit 30 Jahren leitete er die Abteilung für Tarifpolitik in der Frankfurter Zentrale, dann wechselte er an die Spitze des Bezirks Nordrhein-Westfalen, und es war eine Frage der Zeit, wann er die Führung der mit 2,3 Millionen Mitgliedern größten freien Gewerkschaft der Welt übernehmen würde. Doch er wollte nicht warten. 2012 berief der Aufsichtsrat von Thyssen-Krupp den gerade 40 Jahre jungen Burkhard zum Personalvorstand – Spitzenmanager mit Verantwortung für weltweit 150 000 Beschäftigte statt Gewerkschaftsboss mit ein paar Millionen Mitgliedern.

Thyssen-Krupp war damals angeschlagen nach milliardenteuren Fehlinvestitionen in Nord- und Südamerika. Unter der Führung des ehemaligen Siemens-Managers Heinrich Hiesinger ging es nun um einen Kulturwandel in Essen, wo die „Ruhrbarone“ residierten. Ein spezieller Aufzug war in der Zentrale nur für die Vorstandsmitglieder vorgesehen, die selbstverständlich auch im „eigenen“ Restaurant tafelten und mit dem Konzernjet durch die Welt düsten. Hiesinger räumte Protz und Privilegien weg und bemüht sich um eine neue Kultur, in der Oliver Burkhard eine Schlüsselposition besetzt.

8,5 Milliarden Euro für Löhne

„Wir geben 8,5 Milliarden Euro im Jahr für Löhne und Gehälter aus. Das ist eine Investition und die müssen wir richtig anlegen“, sagt Burkhard im Gespräch mit dem Tagesspiegel. „Der durchschnittliche Bedarf an betrieblicher Weiterbildung steigt von gut einem Tag im Jahr mit fortschreitender Digitalisierung auf über sechs Tage im Jahr.“ Getrieben durch die neuen Technologien verändere sich die betriebliche Ausbildung permanent, so dass inzwischen auf vielen gewerblichen Ausbildungsfeldern der IT-Anteil bei rund 50 Prozent liege.

Ein Schwachpunkt im dualen deutschen Ausbildungssystem sind für Burkhard die Berufsschulen, die „Stiefkinder der Bildungsreform der letzten Jahre“. Hier setzt das „Bündnis für Industrie“ an mit dem Ziel, in den kommenden Jahren einen dreistelligen Millionenbetrag vom Bund und aus der Wirtschaft in die digitale Ausstattung der Berufsschulen zu stecken. Denn „alles, was digitalisiert werden kann, wird digitalisiert – wenn es sich wirtschaftlich lohnt“, wie Burkhard sagt. Das muss nicht schlecht sein für die Beschäftigten und auch nicht für das Niveau der Beschäftigung.

Digitalisierung braucht gute Führung

„Automatisierung bedeutete Mensch oder Maschine. Digitalisierung bedeutet Mensch und Maschine arbeiten Hand in Hand“, sagt der Personalvorstand und bringt als Beispiel die Nockenwellenherstellung in Ilsenburg. Ein Laser brennt dort einen Code auf die Einzelteile und verschafft damit dem Teil eine Art Identität für den weiteren Prozess. Mithilfe des Codes „kommuniziert“ das Werkteil mit der Maschine: Stimmt der bisherige Bearbeitungsstand? Wie und wo soll es verbaut werden? Die Anlage weiß immer, ob das Teil den richtigen Status hat, verbaut werden darf oder ob ein Prozessschritt fehlt. „Die physische Welt der Dinge verschmilzt so mit dem Datennetz zu einem einzigen cyber-physischen System“, sagt Burkhard. Effizienz und Flexibilität der Produktion steigen, ohne dass Arbeitsplätze abgebaut werden. „Man muss nicht immer ins Silicon Valley fahren, um Digitalisierung zu erleben“, meint Burkhard und empfiehlt Ilsenburg. Denn „bei den produktionsbetriebenen Plattformen des Internet of Things liegen wir vorn“. Auch wegen der qualifizierten Fachkräfte und Ingenieure, die zum einzigartigen Status der deutschen Industrie beigetragen haben. Und die Digitalisierung, davon ist Burkhard überzeugt, „erweitert das Spektrum menschlicher Möglichkeiten“. Kreativität, Intuition und die Fähigkeit zur Interaktion seien nicht zu ersetzen. Aber dazu braucht es gute Führung. „Die Themen Führung und Zusammenarbeit brennen den Beschäftigten unter den Nägeln“, resümiert der Personalchef die Ergebnisse einer Umfrage unter der Thyssen-Krupp-Belegschaft.

Die IG Metall wird weniger wichtig

In komplexen digitalen Umfeldern sei Denken in vernetzten Strukturen erforderlich. Das bedeute für die Führungskräfte: Verantwortung teilen. Und für die Mitarbeiter: Verantwortung nehmen. „Den Führungskräften sagen wir: Wer heute auf seiner Zuständigkeit beharrt, wird sie verlieren. Nur wer Einfluss teilt, wird ihn behalten oder stärken“, glaubt der Personalvorstand.

Und welche Rolle spielt künftig die IG Metall, „wenn der Mitarbeiter von morgen individuell gestaltete Arbeitsbedingungen will“, wie Burkhard sagt, also nicht unbedingt einen Tarifvertrag braucht? Viel mehr als das Setzen eines Rahmens bleibt da nicht, zumal in einem Arbeitnehmermarkt mit Fachkräftemangel, wo sich die qualifizierten Leute die Jobs und Arbeitszeiten selbst aussuchen können. „Bestimmte Arbeitszeiten wird man nicht mehr fortschreiben können“, sagt Burkhard. Und hat dabei auch die glorreich von der IG Metall erkämpfte 35-Stunden-Woche im Kopf.

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