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Joe Kaeser. Der Finanzvorstand bereitet derzeit den Börsengang der Lichttochter Osram vor.

© Siemens AG

Interview: „Angst vor Kernkraft ist rational nachvollziehbar“

Siemens-Finanzvorstand Joe Kaeser hat alle Unternehmenskrisen der vergangenen fünf Jahre überstanden. Im Interview spricht er über die Lehren aus Fukushima, die Weltkonjunktur, Europa und den Standort Berlin.

Herr Kaeser, Siemens hat als mittelfristiges Ziel einen Jahresumsatz von 100 Milliarden Euro genannt. Von Wirtschaftskrise ist bei Ihnen keine Spur mehr?

Nach dem Spiel ist vor dem Spiel, heißt es ja. Und auch die Weltwirtschaft wird weiterhin ein Auf und Ab bleiben. Wir bereiten uns deshalb auf die zyklischen und strukturellen Veränderungen in der Weltwirtschaft vor. Wir stellen uns auf die Trends ein, die unabhängig von den Zyklen eine strukturelle Nachfrage sichern. Die Organisation unseres Unternehmens haben wir so verändert, dass wir der Globalisierung und Urbanisierung besser Rechnung tragen können. Klar ist: Die Party wird nicht so weitergehen wie in den vergangenen Quartalen.

Sind die Zyklen kürzer geworden?

Das wird sich zeigen. Ich glaube, die Zyklen bleiben gleich, aber die Volatilität ist gestiegen. Die Winkel, in denen es aufwärts und abwärts geht, sind steiler geworden. Schuld sind auch Überreaktionen der globalen Marktteilnehmer.

Wie steht es um das deutsche Wachstum?

Nach wie vor trägt der Export unserer hoch spezialisierten Industrie die deutsche Wirtschaft. Noch vor zwei Jahren war unsere Automobilwirtschaft in einer Endzeitstimmung, jetzt sind Autos „Made in Germany“ begehrt wie Edelsteine. Trotzdem muss man realistisch bleiben. Es ist maßlos zu kurz gesprungen, pauschal einen XXL-Aufschwung auszurufen, ohne zu analysieren, wie es um dessen Nachhaltigkeit bestimmt ist, wie wir diesen verteidigen können. Heute wird er vor allem von der Nachfrage aus den großen Schwellenländern bestimmt.

Ist die Abhängigkeit von China gefährlich?

Abhängigkeit entsteht durch Dominanz. Das ist hier nicht der Fall. Im Gegenteil: China braucht etwas, was Deutschland besonders auszeichnet, nämlich Innovationsstärke, wie zum Beispiel technologische Kompetenz für die Infrastruktur. Ich sehe deshalb eine Balance und keine Abhängigkeit. Das Verhältnis zu China hat eher Potential für eine lange Freundschaft – wie seinerzeit in Casablanca … Im Ernst: Solange wir unser Know-how ständig verbessern und unsere Innovationskraft behalten, brauchen wir uns keine Sorgen zu machen. Allerdings müssen wir eng dran bleiben.

China braucht nicht nur, was wir haben. China nimmt sich auch, was es braucht: Stichwort geistiges Eigentum.

Das würde ich nicht überbewerten. Wer Know-how effizient und klug einsetzt, kann damit nachhaltig wirtschaftlichen Nutzen erzielen. Das chinesische Wirtschaftssystem ist vielleicht das derzeit effizienteste der Welt. Man kann vier Phasen beobachten: Am Anfang wird mit der Attraktivität des Marktes ausländisches Know-how attrahiert. In der zweiten Phase lernt man aus gemeinsamen Joint Ventures. In Phase drei folgt die Konsolidierung, in der sich nationale Champions formieren. In Phase vier schließlich entstehen global agierende, erfolgreiche Unternehmen. Das ist letztens sehr beeindruckend in der Telekommunikationsindustrie zu beobachten gewesen.

Das effizienteste Wirtschaftssystem der Welt? Wie soll unsere soziale Marktwirtschaft da mithalten?

Die Geschichte zeigt, dass Demokratie und soziale Marktwirtschaft eine außerordentlich erfolgreiche Kombination sind. Aber das schließt nicht aus, dass andere Systeme ebenfalls hoch effizient und erfolgreich sein können, insbesondere dann, wenn auch der Wohlstand nach und nach überall zunimmt und sozialer Fortschritt generiert wird, wie das in China der Fall ist.

Wo liegt die Rolle des europäischen Wirtschaftsraums? Zwischen China und den USA, der größten Volkswirtschaft?

Sie meinen als dritte Kraft? Das sehe ich derzeit noch nicht, wenngleich es einige Ansätze gibt. Im Sinne von gleichberechtigten wirtschaftlichen Kräften existieren die G 20 nicht wirklich. Die großen Kräfte sind China, Indien, Brasilien und die USA, und daneben gibt es eigentlich niemanden mehr. Diese vier Kräfte entwickeln zunehmend gerade im Infrastrukturbereich symbiotische Handelsbeziehungen zueinander, was Unternehmen wie Siemens ganz sorgfältig beobachten müssen. Als Wirtschaftsmacht spielt Europa keine vergleichbare Rolle, weil es keine gemeinsame ordnungspolitisch geregelte Finanz- und Wirtschaftspolitik gibt.

Wenn man die 27 EU-Staaten als wirtschaftliche Einheit sähe, wären sie die größte Volkswirtschaft der Welt – vor den USA, weit vor China. Ist denkbar, dass so eine Geschlossenheit einmal erreicht wird?

Die Bundesregierungen der vergangenen Jahrzehnte haben viel dafür getan, dass die Entwicklung in diese Richtung geht. Das schafft Hoffnung. Helmut Kohl oder Gerhard Schröder haben stets die enormen Chancen der europäischen Einigung betont, Theo Waigel hat sich für seinen Einsatz um den Euro in Deutschland historisch verdient gemacht. Die Bundesregierung steht ebenfalls für den Euro. Für eine starke europäische Währung brauchen wir eine einheitliche Finanz- und Wirtschaftspolitik. Wir dürfen uns nicht selbst belügen: Eine Art Transferunion ist auf lange Sicht für Europa unausweichlich.

Warum?

Einzelne Staaten in Europa leben heute offenkundig von der Substanz. Das führt im äußersten Fall in die Zahlungsunfähigkeit. In der Unternehmenswelt kommt das immer wieder vor, aber auch bei Staaten ist das nicht ausgeschlossen. Denken Sie nur an Argentinien. Sparen allein führt je nach Umständen nicht aus der Krise heraus. Denn dafür braucht es auch die Rückkehr zu Wachstum, also eine wettbewerbsfähige industrielle Basis. Das wird die große Herausforderung etwa für Griechenland oder Portugal, die ohne den Zusammenhalt in Europa wohl schwerlich zu meistern sein wird.

Wie wahrscheinlich ist die Pleite eines EU-Staats?

Extrem unwahrscheinlich. Dagegen stehen Europa und der Euro. Wie das genau abläuft, liegt in der Hand der zuständigen Institutionen. Ohne eine Umschuldung wird es in einzelnen Fällen wohl nicht gehen, die Gläubiger werden einen Teil ihrer Forderungen abschreiben müssen. Die politische Debatte legt nahe, dass die Vorbereitungen dazu im Grunde schon laufen.

Siemens gründet eine neue Sparte für Infrastruktur und Städte. Der Standort ist offen, Berlin macht sich Hoffnungen. Ist Berlin überhaupt im Rennen?

Es gibt noch keine Entscheidung. Berlin ist als deutsche Hauptstadt exponiert, aber die einzige Megacity, die wir in Deutschland haben, ist eigentlich die Region Rhein-Ruhr. Man könnte auch argumentieren, dass wir deshalb dahin gehen sollten. Uns geht es mit unseren Technologien darum, allen Städten zu ermöglichen, ihre Aufgaben dank höherer Effizienz zu geringeren Kosten zu erledigen. Das nützt auch Berlin.

In Berlin steht auch ein großes Werk von Osram – nach dem Börsengang der Lichttochter will Siemens Ankeraktionär bleiben. Was heißt das eigentlich?

Für uns heißt Ankeraktionär, dass es uns um eine nachhaltige Entwicklung des Unternehmens geht. Deswegen wollen wir bei Osram auch künftig qualifizierte Möglichkeiten der Einflussnahme haben. Das ist nicht bei allen Aktionären so, da darf man nicht naiv sein. Eine Fondsgesellschaft hat logischerweise vor allem die Renditeziele ihrer Fonds im Visier. Damit wird die Aktie als Eigentum am Unternehmen nur Mittel zum Zweck. Bei Aktiengesellschaften mit vollem Streubesitz haben eigentlich nur die Mitarbeiteraktionäre wirklich nachhaltige Interessen. Und ein Ankeraktionär bekennt sich eben auch zu seinem nachhaltigen Interesse.

Also geht ein großer Teil der Aktien an Osram-Mitarbeiter?

Wenn die Mitarbeiter Aktien kaufen und halten wollen, ist das in unserem Sinne. Das ist aber Aufgabe des Vorstandes und der Organe dort; wir werden empfehlen, ähnliche Mitarbeiteraktienmodelle aufzulegen, wie wir sie bei Siemens haben. Unser Share-Matching-Plan ist ein gutes Vorbild: Für je drei Aktien, die der Mitarbeiter kauft und mindestens drei Jahre hält, wird ihm eine vierte übertragen. Wir haben mittlerweile mehr als 130 000 Mitarbeiter, die an diesem Plan teilnehmen.

Wir haben über die neue vierte Sparte gesprochen. Wie grün ist Siemens?

Grüne Produkte und Lösungen sind klasse, aber die Zahlen sind mir schwarz am allerliebsten. Wenn uns dabei Ökologie hilft, dann ist das noch besser. Ökologie muss aus meiner Sicht auch langfristig ökonomisch darstellbar sein. Im Umkehrschluss heißt das auch: Eine Ökologie, die sich langfristig nicht ökonomisch trägt und dauerhaft von Steuerzahlern finanziert werden muss, stellt keine nachhaltige Entwicklung dar. Im Grunde ist es gesellschaftspolitisch fragwürdig, jedes Solarmodul auf jedem Hausdach großzügig zu subventionieren, statt das Geld in die Forschung und Entwicklung – und damit in die Innovation – zu stecken und Umwelttechnologien zu fördern, die später einen wirtschaftlichen Betrieb der Lösungen ermöglichen. Nur mit technologischen Innovationen werden sich erneuerbare Energien irgendwann einmal von selber rechnen. Werden unwirtschaftliche Lösungen fortwährend subventioniert, gibt es ja auch gar keinen Anreiz für eine Effizienzverbesserung der Technologie.

Aber die Effizienz bei den Solaranlagen hat doch immens zugenommen?

Aber doch auch nur deshalb, weil wir von außen unter Druck gesetzt werden! Die chinesischen Hersteller bieten viel billigere Produkte an. Die Frage ist doch, ob die Hersteller durch Innovationen oder durch staatliche Subventionen Marktanteile gewinnen sollen.

Sie haben von der ökonomisch darstellbaren Ökologie gesprochen. Gehört dazu auch die Atomkraft, die in Japan Schäden ungeheuren Ausmaßes verursacht hat?

Niemand kann von den Ereignissen in Japan unbeeindruckt bleiben. Fukushima muss der Anlass für eine Bestandsaufnahme sein. Die Welt muss in sich gehen. Wie ist ein Restrisiko zu bewerten, das nach aller Wahrscheinlichkeit zwar nicht eintreten wird, aber wenn es doch eintritt, möglicherweise nicht beherrschbar ist? Nur: Hysterie hilft nicht weiter. Die Angst der Menschen darf man politisch nicht instrumentalisieren. Deswegen muss die Bestandsaufnahme sachlich fundiert und überparteilich sein. Es geht nicht um Parteien oder taktische Finessen, sondern um eine angemessene Antwort auf eine Zivilisations- und damit Menschheitsfrage, die global oder doch mindestens europäisch betrachtet werden muss. Deutschland wäre nicht geholfen, wenn hier eine Insellösung verfolgt würde, aber zum Beispiel in Frankreich und Tschechien alles bleibt, wie es ist.

Sie richten harte Vorwürfe an die Politik.

Ich meine hier gar nicht nur die Politik. Das geht ja alle an, die gesamte Gesellschaft. Ich sehe nur, dass die Menschen Angst haben. Das sind ja keine Krawallmacher, sondern ordentliche Bürger, die nicht einmal mehr mit den Entscheidungen der demokratischen Ordnungspolitik klarkommen. Wenn es der gesellschaftlichen Elite nicht mehr gelingt, sich zu erklären, droht uns der Verlust der gesellschaftlichen Ordnung. Wir müssen die Ängste der Menschen verstehen und ehrlich adressieren, ohne Parteibuch und Individualinteressen in den Vordergrund zu stellen.

Sie haben von einer Bestandsaufnahme nach Japan gesprochen, die jetzt nötig sei. Wie weit ist die bei Siemens gediehen?

Die Angst vor der Kernkraft ist nach den jüngsten Ereignissen rational nachvollziehbar und emotional allemal verständlich. Es ist von meiner Seite allerdings alles gesagt, was es im Moment zu sagen gibt. Wenn wir in die Situation kommen sollten, in der wir diese Diskussion zu führen haben, dann werden wir sie auch führen.

Siemens will beim Bau von Atomkraftwerken nicht mehr mit der französischen Areva, sondern mit dem russischen Rosneft-Konzern zusammenarbeiten. Sollte man nicht eine Meinung entwickeln, bevor dieser Schritt vollzogen wird?

Ja, das sollte man auf alle Fälle – aber vorläufig sind wir bekanntermaßen in einem Schiedsgerichtsverfahren mit seinen ausdrücklichen Regeln.

Das Interview führte Moritz Döbler.

Der Bayer Joe Kaeser (53) kam eigentlich als Josef Kaiser in Niederbayern auf die Welt. In Regensburg studierte er Betriebswirtschaft, heuerte dann bei Siemens an. Seit gut 30 Jahren ist er dem Münchner Konzern treu. Sein erster Auslandsjob führte ihn 1987 nach Malaysia. Ab 1994 war er für Siemens in San Jose in Kalifornien stationiert. Diese Zeit prägt ihn bis heute, seitdem heißt er Joe Kaeser. Danach machte er steile Karriere in der Zentrale. Hinter seinen Schreibtisch hängt ein riesiges Schwarz-Weiß-Foto von einem Felsen an der kalifornischen Küste, den die Brandung umspült. Sein Lieblingswort lautet „Performance“. Seit fast fünf Jahren amtiert Kaeser als Finanzvorstand von Siemens und ist damit das dienstälteste Vorstandsmitglied. Die Korruptionsaffäre hat er ebenso wie die Finanzkrise und die Rezession unbeschadet überstanden.

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