zum Hauptinhalt
Nach den Gastarbeitern wieder Flüchtlinge: Zwei junge Afghanen in einem Berliner S-Bahn-Werk.

© Jens Jeske/imago

Migranten und Gewerkschaft: Metaller sind "ein Spiegel der Gesellschaft"

Die IG Metall hat nachzählen lassen: Ihr Migrantenanteil entspricht dem der Bevölkerung - ungewöhnlich für eine mächtige Großorganisation.

Wo Macht oder Einfluss sind, sind Migranten in der Regel schwach vertreten. Obwohl sie inzwischen mehr als ein Fünftel der deutschen Bevölkerung ausmachen, sind nicht einmal sieben Prozent der Stellen in Behörden von Ländern und Kommunen mit ihnen besetzt - in Bundesbehörden sind es immerhin doppelt so viel - und selbst an Schulen mit ihrem viel höheren Anteil migrantischer Kinder stehen nur sieben Prozent migrantische Lehrerinnen und Lehrer vor ihren Klassen. Ob Polizei, Parteien, Parlamente: Wenn überhaupt gezählt wird, sind die Zahlen mager.

Ein Drittel der IG-Metall-Betriebsräte sind Migranten

Desto erstaunlicher - auch für das Forschungsteam selbst - das Ergebnis, das das Berliner Institut für vergleichende Integrations- und Migrationsforschung (BIM) jetzt für die IG Metall zutage förderte: Die Gewerkschaft kommt auf einen Migrantenanteil, der fast exakt dem der deutschen Wohnbevölkerung entspricht: 21,7 Prozent der IG-Metaller haben eine Einwanderungsgeschichte, im ganzen Land waren es letztes Jahr 22,5 Prozent. Die Metallgewerkschaft, die sich stolz als weltweit größte freie Gewerkschaft sieht, sei folglich "die erste Groß-Organisation (...), die sich in Bezug auf den Migrationshintergrund als 'Spiegel der Gesellschaft' bezeichnen kann", schreiben die Autorinnen und Autoren der Studie. Sie spiegle dabei auch die Belegschaften, die die IG Metall organisiert, neben der Auto- und Elektroindustrie auch die der Möbel- und Holzbranche. Und sie sind keineswegs nur einfache Mitglieder oder am unteren Ende der Gewerkschaftshierarchie vertreten, auch das zeigte die Befragung der Metaller, die das BIM-Team im Sommer 2016 unternahm: Ein Drittel der Funktionärinnen und Funktionäre der Gewerkschaft in den Betrieben haben einen Migrationshintergrund, also mehr als ihrem Anteil an der Mitgliedschaft entspräche. Am stärksten ist ihr Anteil an den Betriebsräten. Ämter innerhalb der Gewerkschaft besetzen sie ebenfalls zu einem Drittel. Allerdings sind sie in Spitzenjobs unterrepräsentiert, etwa als Betriebsratsvorsitzende. Und im Vorstand der Gewerkschaft sitzt - aktuell - kein Mann und keine Frau aus einer Einwandererfamilie.

Sehr klar spiegelt die Berufstätigkeit der migrantischen Gewerkschafter wider, dass das Leben außerhalb der Gewerkschaft noch ungerechter ist: Sie arbeiten, so die Studie, häufiger in Jobs, für die sie sich als überqualifiziert einschätzen. Für die ältere Generation liege der Grund darin, dass ihre Schul- und Berufsabschlüsse aus dem Ausland in Deutschland nicht anerkannt wurden. Für die Jüngeren nimmt die Studie direkte Diskriminierung an. Sie nämlich arbeiteten "überraschenderweise" noch häufiger unterhalb ihrer Qualifikation als ihre Eltern und Großeltern.

An der Spitze der Herkunftsländer stehen, auch dies ähnlich den Zahlen der Bevölkerungsstatistik, Türkeistämmige, allerdings dicht gefolgt von Osteuropa, Menschen aus - in dieser Reihenfolge - Polen, Kasachstan, Russland, Rumänien. Nur Italien unterbricht auf Platz 3 der Herkunftsliste die Ostherkünfte.

Vor dem Betriebsverfassungsgesetz sind alle Pässe gleich

Wie hat die IG Metall es geschafft, zum Spiegel der Gesellschaft zu werden - und was lässt sich daraus lernen? Das waren die Fragen, die Gewerkschaft und beteiligte Wissenschaftler sich für die Podiumsdiskussion im Anschluss an die Vorstellung der Studie in dieser Woche in Berlin vornahmen. Als Antwort auf die erste Frage sind bisher nur Vermutungen, wenn auch begründbare, möglich. Beide Seiten verwiesen vor allem auf das Betriebsverfassungsgesetz von 1972. "Es ermöglichte Teilhabe", sagt der BIM-Forscher Serhat Karakayali, unabhängig von der Staatsangehörigkeit der Beschäftigten. Wer arbeitete, wurde auch gewerkschaftlich vertreten - oder konnte selbst als Interessenvertreterin oder Vertreter gewählt werden. Was allerdings keineswegs ein Selbstläufer war. Ob man für die Arbeiterinteressen oder für deutsche Arbeiter eintrete, war in den deutschen Gewerkschaften lange heiß umstritten. Die IG Metall war den Schwestergewerkschaften da schon eine Nasenlänge voraus, sie hatte bereits 1961 ein Referat für ausländische Arbeitnehmer beim Vorstand eingerichtet, das ein Remigrant leitete: Max Diamant. Er hatte als Sozialist und Jude aus Deutschland nach Mexiko fliehen müssen. Sein Wissen darum, was Migration bedeutet, setze er nach der Rückkehr in der Frankfurter Gewerkschaftszentrale ein - gegen teils starken Gegenwind, wie Karen Schönwälder betonte, die am Max-Planck-Institut über die migrantische Geschichte der deutschen Gewerkschaften forscht.

Mehr Daten für die Verteilungskämpfe der Zukunft

Ein gesetzlicher Rahmen, der Gleichheit schuf, das Engagement Einzelner - aber womöglich auch die Energie der Migranten selbst, an die Karakayali wie Schönwälder erinnerten: "Migration ist ja auch eine politische Auslese", so Schönwälder. Man verlässt sein Land, weil es keine Entfaltung ermöglicht, im Fall der frühen griechischen und spanischen Gastarbeiter, auch unter den türkischen, sei noch politische Verfolgung hinzugekommen. Karakayali wies auf "die Revitalisierung der US-Gewerkschaften" durch hispanische Einwanderer. Den Schlachtruf der Präsidentschaftskampagne von Barack Obama gab es in den 70er Jahren zuerst auf Spanisch, die Farmarbeitergewerkschaft habe seinerzeit "Si, se puede" erfunden, woraus dann das englische "Yes, we can" wurde. Eine solche Wiederbelebung durch Migration "könnte auch in den deutschen Gewerkschaften der Fall sein".

Erste Ergebnisse hatte die Studie bereits, berichtete Petra Wlecklik, Leiterin des Migrationsreferats der IG Metall, die einen "Doppeleffekt" erlebte: Als sie kürzlich in einem Stahlwerk von Krupp vorgestellt wurde, war nicht nur die migrantische Belegschaft erstaunt, die sich oft diskriminiert und am Aufstieg gehindert glaubte. Auch die urdeutschen Beschäftigten, die sich im Gegenteil von Migranten im Betrieb dominiert fühlten, mussten feststellen: Es geht eigentlich ganz gerecht zu.

Ein Effekt, den sich die Macherinnen und Macher der Studie auch für die ganze Gesellschaft erhoffen. Was unter dem Stichwort "demografischer Wandel" daherkomme, so Karakayali, "das wird mit Konflikten verbunden sein" darum, wer mehr oder weniger vom Kuchen bekommt. Mit mehr Daten werde man vielleicht auch Methoden entwickeln können, "um diese Konflikte zu organisieren". Als nächstes will sich das BIM nun die migrantische Wirklichkeit der Dienstleistungsgewerkschaft Verdi vornehmen. Weitere deutsche Großorganisationen sollen folgen.

Zur Startseite

showPaywall:
false
isSubscriber:
false
isPaid:
showPaywallPiano:
false