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Bulle oder Bär? Steigen die Kurse oder fallen sie? Wer auf Zertifikate setzt, sollte sich festlegen, wie es mit den Kursen weiter geht.

© picture-alliance/ dpa

Boom bei Zertifikaten: Privatanleger wetten wieder kräftig

In Deutschland werden mehr als 700.000 Zertifikate angeboten – mehr als doppelt so viele wie vor der Finanzkrise. Die Kosten bei der Zulassung sind hierzulande besonders niedrig.

Knapp drei Jahre nach dem Zusammenbruch der US-Bank Lehman Brothers verblassen Ängste vor möglichen Bankpleiten bei den deutschen Anlegern wieder. 108,6 Milliarden Euro haben Privatinvestoren hierzulande in Wertpapieren investiert, die anders als Aktien oder Fonds nicht einen realen Vermögenswert beinhalten, sondern eher eine Art Wette auf eine bestimmte Entwicklung an den Börsen: Zertifikate. Damit steckt inzwischen wieder fast so viel Geld in den Papieren wie kurz vor dem Lehman-Crash, der die Branche in eine tiefe Krise und die Besitzer von Lehman-Zertifikaten in den Totalverlust gestürzt hatte.

Die Banken waren seit 2008 bei der Entwicklung neuer Produkte sehr fleißig: Exakt 713 197 verschiedene Zertifikate konnten Anleger Ende April an den deutschen Börsen kaufen – so viele wie nie zuvor. Das Angebot hat sich mehr als verdoppelt, vor drei Jahren waren es nur 334 391. Mehr als die Hälfte (54 Prozent) der Scheine sind Hebelprodukte, also Finanzwetten, die mit hohen Gewinn- und Verlustchancen sehr kurzfristig auf die negative oder positive Entwicklung einer Aktie, eines Rohstoffs oder eines Index setzen. Weitere 40 Prozent sind Bonus- oder Discountzertifikate, die entweder eine Prämie versprechen, wenn sich der Markt wie geplant entwickelt – oder aber einen Rabatt gewähren, was wie ein Polster gegen Verluste wirkt.

Haben die Anleger nichts aus dem Lehman-Fall gelernt? Oder sind Zertifikate eine clevere Alternative zu Aktien oder Fonds? „Zertifikate bieten ein festes Leistungsversprechen, das der Anleger von Anfang an kennt“, sagt Hartmut Knüppel, Geschäftsführer der Branchenvertretung, des deutschen Derivate-Verbands (DDV). „Wir raten grundsätzlich von Zertifikaten ab“, warnt hingegen Nils Nauhauser, Bankexperte von der Verbraucherzentrale Baden-Württemberg.

Gute Argumente haben beide Seiten. So hat die Deutsche Bank, gemeinsam mit der Commerzbank Marktführerin der Branche, die Renditen von Discountzertifikaten geprüft und festgestellt, dass im Jahr 2010 fast 68 Prozent der Produkte dem Anleger unter dem Strich mehr einbrachten als das direkte Investment. Laut DDV-Chef Knüppel ist zwar mehr als jedes zweite Produkt hochspekulativ, doch steckten auch zwei von drei angelegten Euro oder gut 60 Milliarden Euro in einem Zertifikat, das mit einem Kapitalschutz versehen ist. Allerdings schwäche sich der Trend zu Papieren mit vollständigem Kapitalschutz ab. Knüppel: „Die Privatanleger schauen wieder stärker auf die Rendite.“ Produkte, die die größte Schwäche der Zertifikate ausgleichen – also einen Schutz gegen die Pleite der herausgebenden Bank bieten und dafür die Rendite um etwa 0,8 Prozent schmälern –, hätten sich deshalb nicht durchgesetzt. Ganz generell glaubt der DDV-Chef: „Vor der Lehman-Insolvenz hat man das Emittentenrisiko vielfach unterschätzt, heute wird es dagegen oft überschätzt.“

Verbraucherschützer beklagen, dass sich in der Branche wenig getan hat seit Lehman. Während die eine Hälfte der Zertifikate, also Hebelpapiere und sogenannte Knock-Outs zur Spielwiese von Zockern geworden sei, die „ebenso gut ins Wettbüro oder ins Casino gehen könnten“, sagt Nils Nauhauser, werde die andere Hälfte, die Anlagezertifikate, meist am Bankschalter verkauft. „Die Anleger kaufen nicht wieder mehr Zertifikate, sondern es werden ihnen wieder mehr verkauft“, sagt der Verbraucherschützer. Provisionsdruck und mangelnde Qualifikation der Bankberater seien dabei immer noch die Hauptprobleme.

Neue Produkte zu Trendthemen, derzeit etwa die Energiewende oder grüne Anlagen, würden häufig „um jeden Preis losgeschlagen“, ohne auf eine Streuung der Risiken im Depot des Anlegers zu achten. So habe die Landesbank Baden-Württemberg 2010 Zertifikate auf den Markt gebracht, die unter anderem die Kreditrisiken von Griechenland und Portugal verbrieft hatten – Risiken, die auch die Bank selbst in ihren Portfolios hält.

Verbraucherschützer warnen bei Zertifikaten nicht vor dem Pleiterisiko der herausgebenden Bank, sondern auch vor oft wenig transparenten, sehr komplizierten und teuren Konstruktionen der Papiere. Bisweilen verstünden selbst Fachleute nicht sofort, wie ein Zertifikat funktioniere und welche Risiken es aufweise. Besondere Gewinne seien zudem nur möglich, wenn sich die Börsen in eine bestimmte Richtung entwickelten, so Nauhauser. Institutionelle Anleger, also Finanz-Profis, kauften Zertifikate deshalb kaum bis gar nicht.

Dass die Zertifikate ein deutschsprachiges Phänomen sind, also neben Deutschland fast nur in der Schweiz und in Österreich entwickelt und verkauft werden, hat vor allem mit den Kosten zu tun. Während die SEC, die Börsenaufsicht in den USA, fünfstellige Dollarbeträge verlangt, bevor ein Zertifikat auf den Markt kommen kann, sind in Deutschland die Kosten erst zu Jahresbeginn gesenkt worden. Die Hinterlegungsgebühr für eine neue Wertpapierkennnummer bei der Finanzaufsicht Bafin liegt nun nicht mehr bei 25, sondern nur noch 1,55 Euro. Angesichts von knapp 480 000 neu emittierten Produkten seit Januar sparen die Banken damit mehr als zehn Millionen Euro – und konnten gleichzeitig das Produktspektrum erheblich erweitern.

Will ein Anleger ohne professionelle Hilfe den Zertifikate-Dschungel durchschauen, hat er es nicht leicht. Wer beispielsweise auf den Dax setzen möchte, hat bereits rund 35 000 Anlage-Produkte und 37 000 Hebel-Produkte zur Auswahl, wobei Sonderformen wie Zertifikate auf Unterindizes des Dax noch nicht mitgerechnet sind. Der DDV rät hier zu einem Blick auf die Homepage des Verbandes: Hier würden Daten zu Risikokennziffern und Zertifikate-Ratings veröffentlicht. Hilfe erwarten sich Anleger zudem von sogenannten Produkt-Informationsblättern (PIB), die ab 1. Juli bei jedem Verkauf eines Zertifikats per Gesetz auszuhändigen sind. Diese „Beipackzettel“ liefern einen groben Überblick über die wichtigsten Kenndaten des Zertifikats, über Kosten und Risiken.

Dass Fonds und Zertifikate aber nicht ein standardisiertes PIB verwenden, erschwere dem Anleger die Vergleichbarkeit, rügen Verbraucherschützer. Der Kunde sollte dem Bankberater stets skeptisch gegenübertreten, glaubt Nauhauser: „Man muss nicht immer jeden Rat befolgen.“ Fast immer seien Fonds oder passive Papiere wie Exchange Traded Funds, die der Bank keine Provision bringen, die sinnvollere Alternative. Auch Knüppel weiß: „Wer in Zertifikate investiert, sollte eine konkrete, eigene Marktmeinung haben.“

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