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Streit um Grenzsicherung und Flüchtlinge belasten die EU.

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Umfrage: Wirtschaft fürchtet Scheitern des Projekts Europa

Die deutsche Wirtschaft sorgt sich angesichts der Flüchtlingsdebatte um ein Zerfall der EU und sie kritisiert Angela Merkel für ihre Wirtschaftspolitik.

Die deutschen Unternehmen fürchten angesichts der tiefen Kluft in der Flüchtlingspolitik und in anderen Grundsatzfragen ein Auseinanderbrechen der EU. Die Präsidenten der wichtigsten Wirtschaftsverbände warnten in einer Umfrage der Nachrichtenagentur Reuters, wenn das Projekt eines gemeinsamen Europa an wachsenden nationalen Egoismen scheitere, drohe der Verlust von Wohlstand, wirtschaftlichem Erfolg und Sicherheit.

"Das kommende Jahr wird für Europa zu einem Schicksalsjahr", sagte der Präsident des Bundesverbandes der Deutschen Industrie (BDI), Ulrich Grillo. "Ich mache mir große Sorgen um die Zukunft der Europäischen Union." Zu einer Zeit, in der Solidarität und Kooperation wichtig seien wie nie zuvor, nehme in der EU die Abschottung und der "Rückzug in nationale Wagenburgen" zu. Jegliche Form von Nationalismus führe aber nicht zu mehr Wohlstand, sondern zu mehr wirtschaftlicher Instabilität. Ähnlich äußerte sich der Präsident des Handwerksverbandes, Hans Peter Wollseifer. "Europa bringt sich gerade selbst in Gefahr", sagte er. Wenn sich die EU-Länder in kleinstaatlichem Denken verlören und Solidarität verweigerten, "werden wir alles verlieren". Dieses Verhalten gefährde die Errungenschaften der vergangenen Jahrzehnte. "Ich wünsche mir ein starkes Symbol für die Einheit Europas", sagte Wollseifer.

Warnung vor Aufweichen des Euro

"Europa ist schon längere Zeit in schwerem Fahrwasser", sagte der Präsident des Deutschen Industrie- und Handelskammertages (DIHK), Eric Schweitzer. Dabei könne es für viele internationale Probleme keine nationalen Antworten mehr geben. Nur gemeinsam habe Europa in der Welt Gewicht. Und nur mit einem europäischen Binnenmarkt im Rücken könne auch die deutsche Wirtschaft weiter auf den Weltmärkten punkten.

Der Präsident des Arbeitgeberverbandes, Ingo Kramer, zeigte sich zuversichtlich: "Europa wird und muss sich gerade jetzt bewähren." Allerdings besorgten ihn anti-europäische Strömungen in Deutschland wie in anderen EU-Ländern. Es gelte, Europa zusammenzuhalten, Freiheit und Sicherheit zu gewährleisten und die EU wettbewerbsfähiger zu machen. Kramer forderte, die britischen Forderungen zu Änderungen in der EU ernst zu nehmen und das Land in der EU zu halten.

Der Präsident des Handelsverbandes BGA, Anton Börner, sagte, schon die Euro-Schuldenkrise habe die Fliehkräfte in der Union größer werden lassen. "Die Flüchtlingsströme mit den damit verbundenen Herausforderungen für Europa und seine Mitgliedsstaaten und Gesellschaften wirken wie ein Brandbeschleuniger". Ein weiteres Auseinanderdriften Europas sei eines der größten Risiken für das kommende Jahr. Börner forderte, die Eurorettung voranzutreiben, "und zwar ohne eine weitere Euroaufweichung". Denn langfristig sei ein schwacher Euro auch für die exportorientierte Wirtschaft nicht gut.

Wirtschaft wirft Angela Merkel Versäumnisse vor

Streit um Grenzsicherung und Flüchtlinge belasten die EU.
Streit um Grenzsicherung und Flüchtlinge belasten die EU.

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Die Wirtschaft drängt die Bundesregierung angesichts wachsender Konjunkturrisiken, mehr für Wachstum und Wohlstand zu tun. Die Präsidenten der fünf wichtigsten Wirtschaftsverbände warfen Kanzlerin Angela Merkel in der Umfrage große Versäumnisse in der Wirtschafts- und Sozialpolitik vor. Sie verlangten Reformen und Investitionen. Als aktuell größte Herausforderung betrachten sie die Integration der Hunderttausenden von Flüchtlingen. Diese würden kaum das große Problem des Fachkräftemangels lösen, mahnte Arbeitgeberpräsident Ingo Kramer.

Zu den aktuellen ökonomischen Perspektiven ergab sich ein gemischtes Bild. "Die Konjunkturaussichten trüben sich 2016 ein. In der gesamten Wirtschaft schwindet die Zuversicht", warnte der Präsident des Deutschen Industrie- und Handelskammertages (DIHK), Eric Schweitzer. Er rechnet für das nächste Jahr nur noch mit einem Wachstum in Deutschland von 1,3 Prozent. Das ist rund ein halber Prozentpunkt weniger, als die meisten Experten für 2015 erwarten.

Handwerkspräsident Hans Peter Wollseifer dagegen sieht für seine Unternehmen bislang keine Verschlechterung. "Die wirtschaftlichen Aussichten bleiben insgesamt gut", urteilte er. Das Handwerk profitiere weiter von der guten Binnenmarktentwicklung und erwarte für 2016 ein Wirtschaftswachstum von zwei Prozent. Auch Industriepräsident Ulrich Grillo bleibt optimistisch, vor allem wegen der starken Industrie und der günstigen Entwicklung am Arbeitsmarkt. "Das schiebt unsere Konjunktur an und dürfte auch im nächsten Jahr so weitergehen", erklärte er. Allerdings verwies Arbeitgeberpräsident Kramer auf die vielen politischen Krisenherde wie in der Ukraine und dem Nahen Osten, die für wirtschaftliche Unsicherheiten sorgten.

Vorwurf der Selbstgefälligkeit

Zur Bundesregierung äußerten sich die Cheflobbyisten durchweg kritisch. Sie verfolgt nach Worten von Handwerkspräsident Wollseifer nicht den richtigen Kurs. Er sprach von einer Arbeitsmarkt- und Sozialpolitik gegen die Wirtschaft. Auch Arbeitgeberpräsident Kramer beklagte aus seiner Sicht falsche Weichenstellungen, etwa durch Pläne zur Beschränkung von Zeit- und Leiharbeit. Ferner gebe es zu wenig Bürokratieabbau. Der Präsident des Handelsverbandes BGA, Anton Börner, hält das Vorgehen Merkels in der Finanz- und Wirtschaftspolitik zwar für richtig, in der Arbeitsmarkt- und Sozialpolitik aber angesichts immer neuer Eingriffe "ganz sicher nicht".

Industriepräsident Grillo forderte, die zweite Hälfte der Legislaturperiode müsse eine Phase der Investitionen werden. Auch in der Steuer- und Energiepolitik müsse die Regierung die heimische Wirtschaft stärken. DIHK-Kollege Schweitzer kritisierte, im Ringen um Reformen für mehr Wettbewerbsfähigkeit sei Deutschland zuletzt "eher selbstgefällig" gewesen.

Flüchtlinge können Fachkräftemangel nicht ausgleichen

Den großen Zustrom an Flüchtlingen sehen die Verbandspräsidenten als gewaltige Aufgabe. Kurzfristig profitiere die Konjunktur davon, langfristig könnte jedoch ein Druck auf die Sozialsysteme entstehen, sagte Börner. Auch Kollege Kramer warnte vor überzogenen Hoffnungen: "Niemand sollte meinen, dass wir mit Flüchtlingen die Fachkräftelücke in unserem Land bewältigen können", äußerte er.

Die Eingliederung der Flüchtlinge biete zwar Chancen für den Arbeitsmarkt, brauche aber lange Zeit. DIHK-Präsident Schweitzer forderte, damit die Firmen ihren Beitrag zur Integration leisten können, müsse die Regierung die richtigen Rahmenbedingungen schaffen. Dazu müsse ein Belastungs-Stopp für die Wirtschaft zählen. Ins gleiche Horn stieß Industriepräsident Grillo. "Die Politik muss uns Unternehmern dabei helfen, Flüchtlinge schneller in Arbeit zu bringen", verlangte er. (Reuters)

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