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Meinhard Miegel.

© dpa

Sozialwissenschaftler Meinhard Miegel: "Viele Branchen werden sterben und scheitern"

"Der Boom beruht ganz wesentlich auf Schulden", sagt Meinhard Miegel. Der Sozialwissenschaftler spricht im Interview über die Gefahren des Aufschwungs und die Grenzen des Wachstums.

Herr Miegel, Sie warnen seit Jahren vor einem Ende des Wachstums. Jetzt boomt die deutsche Wirtschaft wie lange nicht mehr. Haben Sie sich geirrt?

Nein. Ich warne vor den grundsätzlichen Trends, und die widerlegt der derzeitige Aufschwung keineswegs. Wir erleben nur eine konjunkturelle Welle. Das ist wie ein sonniger Tag im November. Vielleicht werden wir noch einmal einen kleineren Aufschwung erleben, aber danach wird die Wirtschaft kaum noch zulegen oder sogar schrumpfen. Vielleicht gibt es noch in einzelnen Branchen Investitionen, aber viele andere werden sterben und scheitern. Unter dem Strich wachsen wir dann nicht mehr.

Die Wirtschaft ist 2010 vermutlich um über drei Prozent gewachsen, die Arbeitslosenzahl liegt nur knapp über drei Millionen und soll 2011 weiter sinken. Da gibt es doch keinen Grund für Pessimismus

Aber die Faktoren, welche unser Wachstum belasten werden, sind bereits jetzt sichtbar. Die deutsche Wirtschaft stöhnt ja bereits jetzt über die hohen Rohstoffpreise. Da gibt es derzeit schon Engpässe. Und die ganze Debatte über mangelnde Fachkräfte und Einwanderung ist ja in erster Linie ein demografisches Problem. Das wird sich verschärfen. Die Gründe, welche das Wachstum zukünftig bremsen, beginnen jetzt schon zu wirken. Es kommt von allen Seiten.

Welche Faktoren werden das Wachstum denn noch drosseln?

In den letzten Jahrzehnten haben wir unser Wachstum ständig über immense Schulden angekurbelt. Wir haben also das Wachstum aus der Zukunft in die Gegenwart geholt. Aber die Finanzkrise hat gezeigt, dass wir diese Strategie nicht weiter verfolgen können.

Der Politik ist es doch gelungen, die Krise in Rekordzeit hinter sich zu lassen

Aber auch dieser Aufschwung beruht ganz wesentlich auf Schulden. Etwa die Hälfte des Aufschwungs ist global betrachtet über Schulden finanziert. Noch nie in der Geschichte waren die Staaten so hoch zugunsten der Wirtschaft verschuldet wie gegenwärtig. Schauen Sie sich die USA an: Da werden irrsinnige Summen in die Wirtschaft gesteckt, damit es überhaupt weitergeht. Das gilt aber auch für die europäischen Länder. Von Japan ganz zu schweigen. Und diese Länder haben ja derzeit noch ein deutlich geringeres Wachstum als Deutschland.

Zumindest kommt der Aufschwung bei der Bevölkerung an. Die nächsten Tarifrunden versprechen kräftige Lohnerhöhungen.

Die Lohnerhöhungen werden den Menschen nur kurzfristig weiterhelfen. In zwölf Monaten werden wir feststellen, dass sich die Kaufkraft der Menschen nicht verändert hat. Die Lohnerhöhungen werden durch Belastungen geschluckt werden, etwa für Sozialabgaben, höhere Energiepreise und Umweltsteuern. Das ist das Spiel, das wir seit 20 Jahren spielen. Diesmal kommt noch hinzu, dass die Geldmenge extrem gestiegen ist, wir also eine größere Inflation haben werden.

Derzeit bejubeln die Politiker den deutschen Arbeitsmarkt. Aber wenn man Ihnen glaubt, dann ist Arbeitslosigkeit in fünf oder zehn Jahren ohnehin das geringste Problem

Der Arbeitsmarkt bereitet mir in der Tat die wenigsten Sorgen. Die Arbeitslosigkeit wird bei vier Prozent liegen, das ist Friktionsarbeitslosigkeit. Wir haben dann also quasi Vollbeschäftigung.

Ohne Wachstum soll es so viele Arbeitsplätze geben?

Das, was wir unter technischem Fortschritt und Produktivitätszuwachs verbucht haben, bestand hauptsächlich auf Ressourcenausbeutung. Wir werden aber ressourcensparender produzieren müssen. Das bedeutet, dass der Faktor Arbeit verglichen mit den anderen Produktionsfaktoren preiswerter wird. Die Nachfrage nach Arbeitskräften wird also steigen. Jeder wird aber auch mit anpacken müssen.

Das klingt nach einer schweren Zeit. Wie kann sich die Gesellschaft auf diese tiefgreifende Veränderungen vorbereiten?

Letztendlich sind das automatische Prozesse. Aber man muss der Bevölkerung sagen, dass es bald kein Wachstum mehr geben und es so nicht lange weitergehen wird. Es darf nicht so etwas wie eine Schockstarre geben. Die Bevölkerung darf nicht in Panik verfallen, man muss sie also darauf vorbereiten. Und die Bundesregierung versucht das derzeit ja auch sehr zaghaft.

Aber derzeit feiern doch alle Politiker den deutschen Aufschwung. Die von ihnen geforderte Debatte versandet doch.

Es wird nicht mehr so sein wie in der Vergangenheit. Der Club of Rome, der in den 70er Jahren vor den Grenzen des Wachstums gewarnt hat, galt noch als Exoten-Veranstaltung. Das ist heute anders. Die Kanzlerin hat erklärt, dass wir eine Wirtschaft betreiben, die ihre eigenen Erfolge zerstört. Das Problem ist also sogar bei unserer Regierung angekommen. Insofern bin ich eigentlich optimistisch.

Die CDU hat einen Gesprächskreis über eine mögliche Gesellschaft ohne Wachstum gegründet. Allerdings ist sie darüber sehr verschwiegen – man erfährt offiziell noch nicht einmal, wer daran teilnimmt.

Die CDU ist in diesem Punkt sehr zerrissen: Auf der einen Seite gibt es wichtige Menschen, die über dieses Thema debattieren wollen. Aber es gibt auch einflussreiche Kreise, die noch im alten Wachstumsdenken verhaftet sind. Das gilt auch für die CSU. Da wird eine breite Debatte verhindert. Obwohl deren Grundsatzkommission ganz klar gesagt hat, dass wirtschaftliches Wachstum neu überdacht werden muss.

Mit Versprechen auf Nullwachstum lassen sich auch keine Wahlen gewinnen.

Gerade deswegen müssen Politiker erklären, dass geringe Wachstumsraten eigentlich normal sind. Die Menschheit hat lange ohne wirtschaftliches Wachstum existiert. Die vergangenen 200 Jahre waren eine Ausnahme. Es wird ja auch weiterhin gesellschaftlichen Fortschritt und Innovationen geben, aber der muss qualitativ sein und nicht quantitativ. Die Leute, die sagen, wir bräuchten unbedingt Wachstum, argumentieren etwa so: Wenn wir die Qualität unserer Schlager steigern wollen, müssen wir nächstes Jahr 1030 Schlager statt 1000 komponieren. Aber dieses Argument ist doch unhaltbar.

Das Gespräch führte Frederic Spohr.

ZUR PERSON

DER SKEPTIKER

Meinhard Miegel (71), gebürtiger Wiener, ist ein konservativer Sozialwissenschaftler und Publizist. Er leitet die Stiftung „Denkwerk Zukunft“, die erreichen will, dass sich der Westen von seiner Fixierung auf steigenden materiellen Wohlstand löst. Auch mit der Belastbarkeit des deutschen Rentensystems hat er sich lange befasst – er plädiert für einen Ersatz des Umlagesystems durch eine steuerfinanzierte Grundrente für alle.

DER BERATER

Miegel war seit den 70er Jahren Ratgeber unter anderem von Kurt Biedenkopf, ehemals CDU-Generalsekretär und später sächsischer Ministerpräsident.

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