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Warschauer Ghetto, April 1943. SS-Männer rekrutieren Arbeitskräfte aus einer Gruppe jüdischer Gefangener. Für eine Enzyklopädie der Lager dokumentieren Forscher des Washingtoner Holocaust Museums „jeden einzelnen Ort, an dem jemand festgehalten wurde“.

© AFP

42500 Lager in der NS-Zeit: "Niemand konnte wegsehen"

42 500 NS-Lager: Deutsche Historiker diskutieren die neuen Zahlen vom Holocaust Memorial Museum in Washington. Sie machen die "Allgegenwart" der Lager sichtbar. Doch in der Lagerforschung gibt es noch viele Lücken.

In der NS-Zeit existierten in Deutschland und in den von Deutschland besetzten Gebieten 42 500 Lager, in denen Menschen festgehalten, gequält, zur Arbeit gezwungen und ermordet wurden. Diese Gesamtzahl, die unter anderem große Konzentrations- und Vernichtungslager, deren Außenlager, jüdische Ghettos, Kriegsgefangenen- und Zwangsarbeiterlager, Zwangsbordelle sowie Heime für Euthanasieopfer und sogenannte „Judenhäuser“ einschließt, haben wie berichtet Forscher des United States Holocaust Memorial Museums ermittelt. Sie arbeiten an einer siebenbändigen Enzyklopädie der Lager, von der seit 2009 die ersten beiden Bände erschienen sind. Allein für Berlin haben die Forscher 3000 Lager identifiziert.

Tatsächlich sind die Washingtoner Historiker offenbar die ersten, die das Ausmaß des deutschen Lagersystems konkret beziffern. Der Berliner Historiker und NS-Spezialist Michael Wildt (Humboldt-Uni) nennt es deshalb „verdienstvoll, dass das Holocaust Memorial Museum die Gesamtzahl der Lager errechnet hat“. Dies verdeutliche die „Allgegenwart“ der Lager. „Wer in den Jahren von 1942 bis zum Kriegsende in Deutschland lebte, konnte insbesondere über die Zwangsarbeiter und über die Lager, in denen sie leben mussten, nicht hinwegsehen“, sagt Wildt. Das „abstrakte Wissen“ um die massenhafte Existenz solcher Lager sei schon länger weit verbreitet; Zahlen und Ortsangaben machten es aber greifbarer.

400 Mitarbeiter sind an der Washingtoner Enzyklopädie beteiligt, heißt es. Ziel des Projekts sei es, „jeden einzelnen Ort zu dokumentieren, an dem jemand verfolgt, zur Arbeit gezwungen, gefoltert, inhaftiert oder ermordet wurde“. Das sagte Geoffrey Megargee, der am Holocaust Memorial Museum seit 13 Jahren forscht und als Chefredakteur die Enzyklopädie herausgibt, auf „Zeit Online“. Megargee nannte die Zahl von 42 500 Orten des Naziterrors eine „Sensation“. Zwar seien die meisten Lager bekannt, häufig aber nur einem kleinen Kreis von Forschern und Betroffenen. „Bislang hatte niemand all diese Puzzleteile zusammengefügt“, sagte Megargee. Gerade von kleineren Einrichtungen wie den Wehrmachtsbordellen, Germanisierungslagern oder Straflagern für Wehrmachtssoldaten hätten vermutlich die meisten Menschen noch nie etwas gehört.

Ohne die Begleitumstände sind die Zahlen "wenig aussagekräftig"

Doch deutsche Historiker sehen die Bezifferung und Auflistung der Lagerorte auch kritisch. Ohne im Einzelfall die Lebens- und Arbeitsbedingungen der Menschen in diesen Lagern zu erforschen und zu dokumentieren, seien die Zahlen und Ortsangaben wenig aussagekräftig, betont Michael Wildt. Die Materialien, die von den Washingtoner Kollegen jetzt präsentiert wurden, seien „nicht enzyklopädiefähig“, sagt auch der Historiker Wolfgang Benz, ehemaliger Direktor des Zentrums für Antisemitismusforschung an der TU Berlin. „Der jeweils eigene Mikrokosmos ist in den allermeisten Fällen nicht erforscht. Seriöse Forschung zum nationalsozialistischen Lagersystem müsse „nicht einsammeln, sondern graben“. Benz ist Mitherausgeber eines zwischen 2005 und 2009 im Verlag C. H. Beck erschienenen neunbändigen Nachschlagwerks „Der Ort des Terrors. Geschichte der nationalsozialistischen Konzentrationslager“.

Benz’ Arbeit würdigt Megargee als eine „herausragende Dokumentation der Konzentrationslager und Unterlager“, die noch detaillierter sei als der erste Band der Washingtoner Enzyklopädie. Megargee vermisst in Deutschland aber das Interesse, auch andere Typen von Lagern ebenso detailliert zu untersuchen: „Wahrscheinlich ist es deshalb sinnvoller, uns hier damit weitermachen zu lassen als woanders dieselbe Arbeit doppelt zu machen.“ Gerade weil die Aufzeichnungen zu den vielen Orten so verstreut und viele Dokumente nur schwer zugänglich seien, brauche eine solche Forschungsarbeit eine starke Institution wie das Holocaust Memorial Museum im Hintergrund.

Auch wenn deutsche NS-Forscher das Anliegen der Washingtoner Enzyklopädie teilweise kritisch sehen – die jetzt präsentierten Zahlen halten sie für plausibel. In den Jahren 1943/44 sei etwa die Zahl der Außenlager von Konzentrationslagern massiv gestiegen, sagt Michael Wildt. Über diese Außenlager habe die SS in den letzten Kriegsjahren KZ-Insassen als Arbeitskräfte an Unternehmen vermittelt. Parallel entstanden bislang ungezählte Lager für zivile Zwangsarbeiter.

In Berlin habe es wahrscheinlich noch mehr als die von den Washingtoner Forschern identifizierten 3000 Lager gegeben, sagt der Historiker Cord Pagenstecher, Mitarbeiter der Berliner Geschichtswerkstatt und wissenschaftlicher Mitarbeiter am Center für Digitale Systeme der Freien Universität. Dort betreut er das Online-Archiv „Zwangsarbeit 1939-1945“. Allein die Zahl der Stätten, an denen zivile Zwangsarbeiter festgehalten wurden, belaufe sich nach seinen Recherchen auf rund 3000 – „vom großen Barackenlager mit Bewachung und Zaun bis zum Kohlenkeller, in dem vier Zwangsarbeiter untergebracht wurden“.

Was aber sagt die Zahl von über 40 000 Lagern über die Frage, was der einzelne Deutsche in der NS-Zeit über die Verbrechen des Systems gewusst hat? Mark Spoerer, Professor für Wirtschafts- und Sozialgeschichte an der Universität Regensburg, warnt davor, von der hohen Zahl auf das „Wissen über den Holocaust“, die millionenfache Ermordung der europäischen Juden, zu schließen: „Kriegsgefangenenlager mit 100 Franzosen, aus denen jeden Morgen Zwangsarbeiter abgeholt wurden, sah die Bevölkerung als kriegsbedingt.“ Trotz der oft unmenschlichen Lebensbedingungen der Zwangsarbeiter seien solche Lager etwas ganz anderes gewesen als das System der Konzentrations- und Vernichtungslager.

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