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Beppo Pohlmann in der Unibibliothek der FU

© Luisa Hommerich

Alumni der FU über die APO-Zeit: Kreuzberger Nächte in Dahlem

Es gibt noch keinen Döner, und in Rudi Dutschkes Kommune putzt niemand das Klo: Alumni der FU beschwören den Mythos West-Berlin zur Zeit der Studentenbewegung.

Im West-Berlin der 60er Jahre jagen die politischen Ereignisse einander bekanntlich – doch nicht nur das. Wohnungen kosten außerdem nur 67 Mark im Monat, die Straßenbahn fährt bis nach Spandau und in Rudi Dutschkes Kommune putzt niemand das Klo. Zu allem Übel gibt es noch keinen Döner, sondern nur eine einzige Pizzeria, und das sonstige kulinarische Angebot beschränkt sich auf Gurken und hart gekochte „Soleier“, die in Gläsern auf Kneipentheken dubios vor sich hin schwimmen.

Die FU im Spannungsfeld zwischen marxistischer Theorie und Schlager

Die Zustände in West-Berlin waren manchmal paradiesisch, manchmal aber ganz und gar nicht – davon erzählten die vier Zeitzeugen, die am Mittwochabend im Foyer der Universitätsbibliothek der FU ihre Geschichten aus dem Buch „Wo sich Gott und die Welt traf“ vorlasen. Fast nostalgiefrei und mit Augenzwinkern schildern sie darin ihre Studienzeit an der FU im Spannungsfeld zwischen Eckkneipe, marxistischer Theorie und Schlagergesang.

Was sie gemeinsam haben: Sie alle sind Anfang der 60er Jahre aus Westdeutschland nach West-Berlin gekommen, weil sie sich für ein Jahr verpflichtet hatten, der „Halbstadt“ ihre Arbeitskraft zu schenken. Denn als die Grenze zwischen den beiden Stadthälften am 13. August 1961 abgeriegelt wurde, fehlten über Nacht plötzlich etwa 10 000 Arbeitskräfte aus dem Osten, die nicht mehr „rüber“ durften. Also warb der Bundesjugendring junge Krankenpfleger, Fabrikarbeiterinnen und Bürokräfte an, um die Stadt notdürftig am Leben zu erhalten. „Dafür gab es drei Monate lang Überbrückungsgeld und zwei Freiflüge nach Westdeutschland“, erinnert sich Jenny Schon, die Herausgeberin des Buches. Sie kam 1962 als eine der ersten 600 Angeworbenen, bis heute ist sie geblieben. „Eine glitzernde Insel, ein Zufluchtsort, ja, ein Mythos“ sei die Stadt für sie gewesen.

In der Kommune mit Rudi Dutschke lief der Telefondraht heiß

„Eines Tages fragte ich mich, wo all die anderen geblieben sind, die mit mir gekommen sind. Es musste ja noch mehr geben, die bis jetzt durchgehalten haben“, erzählt sie von der Idee für das Buch. Mit zwei Anzeigen im Tagesspiegel 2011 fand sie schließlich eine Handvoll ebenfalls „Hängengebliebener“, die dann für ihr Buch ihre West-Berliner Abenteuer aufschrieben.

Manfried Hammer ist einer von ihnen. Er liest: „Ich erlebte damals West-Berlin als eine sterbende Stadt, in der alte Menschen mit blassen Gesichtern von den Kissen auf ihren Fensterbänken herunterblickten.“ Doch in seiner Kommune mit Rudi Dutschke war es spannender, da lief der Telefondraht heiß, weil die Presse Rudi ständig sprechen wollte. Und Horden von Studierenden übernachteten im Flur, weil sie wegen politischer Aktionen einen Platz zum Pennen in Berlin brauchten. „Gab es Stress mit dem Hausbesitzer“, liest Hammer weiter, „tauchte ein etwas ölig wirkender Mann im Anzug auf, unser Anwalt, und kümmerte sich darum: Horst Mahler“.

"Kreuzberger Nächte sind lang" - das Lied sollte eine Parodie sein

Immer wieder fallen in der Lesung bekannte Namen. Auch bei Jenny Schon: Sie flüchtete als 25-Jährige vor den Knüppelschlägen der „Jubelperser“ vor der Deutschen Oper, wurde von der Menge in die Krumme Straße getrieben und sah Benno Ohnesorg sterben. Die Texte zeugen von den Idealen, aber auch vom Bedrohungsgefühl der Linken zur Zeit der Studentenbewegung.

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Beppo Pohlmann immerhin hat Amüsanteres zu verlesen: Der Kneipen-Kracher „Kreuzberger Nächte sind lang“ geht auf sein Konto. Sein Bart ist noch genauso lang wie 1977 – da ulkte er noch mit dem damals unbekannten Jürgen von der Lippe im Liedermacher-Treffpunkt „Go In“ herum. Das Lied von den Kreuzberger Nächten sollte eigentlich eine Parodie auf allzu simple Stimmungslieder sein. „Aber plötzlich waren wir für die ZDF-Hitparade qualifiziert“, erzählt Pohlmann, Mitgründer der Gebrüder Blattschuss, „dabei wollten wir da gar nicht hin“. Aber irgendwann gingen sie doch, und dann verkaufte sich der Song 800 000 Mal, wurde zur inoffiziellen Hymne West-Berlins. „Frühmorjens wach ich auf, sechzehn Uhr zehn, die ganze Welt scheint sich um mich zu drehen“ – kaum einer, der da nicht mitklatscht. Am Schluss der Lesung schrammelt er seinen Song also nochmal für die Zuhörer auf der Gitarre. Auch dieses Lied gehört eben zum Mythos West-Berlin.

- Termine für weitere Auftritte gibt es noch nicht, Interessierte können sich hier informieren. – Das Buch „Wo sich Gott und die Welt trifft – Zeitzeugen erinnern sich der ersten Jahre nach dem Mauerbau“ (Hrsg. Jenny Schon, Geest Verlag), kostet 12,50 Euro.

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