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Reimer Gronemeyer.

© dapd

Gastbeitrag: Das Lebensende wird zur Planungsaufgabe

Die moderne Gesellschaft hat sich losgesagt von Gott und Gemeinschaft, sagt der Theologe und Sozialwissenschaftler Reimer Gronemeyer. Das bringt eine große Freiheit - und auch eine große Trostlosigkeit. Der Tod von Gunter Sachs ist ein Beispiel dafür.

Der "assistierte Suizid" bringt das Wesen der modernen Gesellschaft, in der wir leben, zum Vorschein. Diese ‚moderne Gesellschaft’ – ein unscharfer, aber kaum vermeidbarer Begriff – ist durch zwei Hauptmerkmale beschrieben: durch vollendete Säkularisierung einerseits und durch radikalisierte Individualisierung andererseits.

Man hat sich – anders gesagt - von Gott und der Gemeinschaft befreit. Religion und Sozialität sind (wie die Eisenringe, die im Grimmschen Märchen um die Brust des treuen Heinrich gelegt sind) abgesprengt, weil sich der homo modernissimus durch religiöse Bindungen und kollektive Zwänge zunehmend beengt gefühlt hat. Die große Freiheit von Gott und Gemeinschaft bringt freilich auch eine Lage hervor, in der der Mensch auf religiösen oder sozialen Trost immer weniger zurückgreifen kann – die neue Freiheit geht einher mit einer nie gekannten Trostlosigkeit: Keine Götter, keine Freunde. Statt dessen verbindet sich die neue Freiheit mit klirrender Einsamkeit.

Das Leben und das Lebensende werden in Konsequenz dieser Entwicklung zur ‚Aufgabe’. Nicht mehr Schicksal, Geschenk oder Gabe, sondern es geht um ein Projekt, das in eigener Regie erfolgreich absolviert werden muss. Familie, Bildung, Beruf, Gesundheit, Alterssicherung - alles wird zur Aufgabe. Und darin liegen – um es noch einmal zu betonen – Freiheit und Fluch. Es kann, aber es muss auch alles selbst in die Hand genommen werden. Daraus erwächst gewiss auch eine Überlastung des Individuums, das immer und unablässig zum Schmied des eigenen Glückes werden muss. Die Ambivalenz, die in der radikalen Freiheit liegt, setzt auch zunehmend Phänomene wie Burn Out, Depression, vielleicht auch ADS und Demenz aus sich heraus. Kinder mit ADS und Alte mit Demenz sind diejenigen, die offenbar an den Zumutungen und Drucklagen einer hochgradig beschleunigten, individualisierten Lebenswelt besonders drastisch scheitern. Es handelt sich um moderne Epidemien, die im Kielwasser der individualisierenden Hochleistungsgesellschaft wie Haie auftauchen und nach denen schnappen, die – dem Tempo nicht gewachsen - über Bord gehen.

Einen Teil dieser Aufgaben, die dem homo modernissimus, der ja ein metaphysisch und sozial Obdachloser ist, auf den Schultern liegen, gibt er zur Bearbeitung an Dienstleister ab. Sie kümmern sich um den Körper, coachen die Psyche, organisieren die Altersversorgung, bilden die Kinder aus. Man könnte denken, dass die immer komplexer werdende Ausarbeitung dieser Lebensverwaltung eine Art Ersatz für religiöse und soziale Einbindungen sein soll. Gesundheits-Prävention ersetzt die Hoffnung auf das Jenseits, die Alters- und Pflegeversicherung löst familiäre Netze ab. Es ist nicht mehr das Nest aus Stahl und Beton, von dem Max Weber gesprochen hat, sondern das Netzwerk der Dienstleister, das tragen soll.

Einfache Gesellschaften kennen nicht nur den Respekt vor den Alten, sondern durchaus auch die Altentötung. Die erwächst meist aus einer Notwendigkeit, die mit dem Überleben der Gruppe zu tun hat, da – bei Nomaden zumal – kranke, schwache, alte Gruppenmitglieder nicht mit auf die Reise können. Deswegen werden sie dann mit einem Topf Honig im Busch zurückgelassen oder sie werden auf dem Berge ausgesetzt oder mit dem Eisbärknochen erwürgt. Die Tradition, die einmal mit (vielleicht bisweilen fragwürdigen) Notwendigkeiten begründet war, kehrt im Nationalsozialismus wieder, der neben den bekannten Gruppen auch Hochaltrige ermorden ließ, um die Gesamtheit des Volkes von Schwachen zu ‚entlasten’. Es kann wohl kein Zweifel darüber bestehen, dass eine Gesellschaft, die so auf Konkurrenz, Leistungsfähigkeit, Flexibilität und Geld hin orientiert ist wie die unsere, Pflegebedürftige, speziell Demente, eigentlich als belastende Außenseiter ansehen muss. Objektiv und subjektiv sind sie gefährdet – welche Barrieren sorgen eigentlich bisher dafür, dass sie von der Gesellschaft nicht verworfen werden? (Die Selbstverwerfung findet ja oft genug statt.) Und werden diese Barrieren auch unter den Bedingungen einer demographisch alternden Bevölkerung und unter dem Druck ökonomischer Krisen halten und die Betroffenen davor schützen, lebensverkürzenden Maßnahmen ausgesetzt zu sein? (Die Rationierung von Gesundheitsleistungen findet ja schon statt).

Säkularisierung und Individualisierung des modernen Menschen haben indessen noch eine weitere Konsequenz: Verlorengegangen ist die Einbindung des Einzelnen in ein familiäres Woher und Wohin, in einen sozialen und kulturellen Zeitzusammenhang. Wir leben in einer ahnenlosen Zeit, in der die Erinnerung an die Vorangegangenen und an die, die nach uns kommen, kaum eine Rolle spielt. Die Asche wird anonym verstreut. Man versammelt sich nicht zu den Ahnen, das eigene Schicksal hat keine Transzendenz und deshalb spielt die Entscheidung für die Beendigung des Lebens, für den Suizid, auch nur für das Individuum selbst eine Rolle. Sie ist nicht vor Gott, den Göttern, den Ahnen oder anderen Instanzen zu verantworten.

Der Medizin kommt in diesem gesellschaftlichen Kontext eine Sonderrolle zu. Sie hat längst Kultstatus. Sie übernimmt heute neben der lebenslangen Begleitung eine besondere Rolle am Anfang und am Ende des Lebens, der Mensch mit dem weißen Kittel im Sprechzimmer löst gewissermaßen den Mann mit dem weißen Bart im Himmel ab. Die quasi priesterlichen Funktionen der Mediziner legen es nun nahe, dass Anfang und Ende des Lebens endgültig in ihre Hände geraten. Die wachsende Bedeutung der Reproduktionsmedizin, die Zunahme von Kaiserschnittgeburten, die Exzesse der Neonatologie sind Signale, die immer deutlicher ihre Entsprechung am Lebensende finden. Wer den Anfang macht, macht auch das Ende. Und die Einwände vieler Mediziner, die sich gegen den assistierten Suizid aussprechen, wollen das Lebensende nicht etwa für eine bürgerschaftliche und zivilgesellschaftliche Umsorgung öffnen, sondern das Lebensende in eine optimierte palliativmedizinische Abteilung verlegen und damit für sich reklamieren. (Dabei wird in beiden Bereichen die Durchsetzung neuer medizinischer Technologien und Eingriffe fast immer mit dem Verweis auf Extremfälle legitimiert. Der Extremfall ist die Speerspitze der Durchsetzung neuer Standesinteressen.)

Dass das Lebensende sich im Allgemeinen eher unspektakulär, gewissermaßen von selbst ereignet, wird schon nachgerade zum ärgerlichen Tatbestand, gegen mit wachsender Vehemenz das palliative Betreuungsprojekt in Stellung gebracht wird. „Priester und letzte Ölung waren noch ein Überbleibsel der Gemeinschaftlichkeit des Sprechens über den Tod. Heute haben wir ein black-out. Jedenfalls wird diese Funktion – auch wenn der Priester nur ein Leichenfledderer war – heute weitgehend durch die Medizin erfüllt, die jeden am Sprechen hindert, indem sie ihn mit Pflege und Betreuung überhäuft. Ein infantiler Tod, der nicht mehr spricht, ein unartikulierter, überwachter Tod. Das Serum und die Laboratorien, die ganze Heilung ist nur ein Vorwand für das Sprechverbot.“

Das säkularisierte Individuum, das sich nicht mehr als Geschöpf oder als ein Element in einer sozialen Konstellation sieht, begreift sich zunehmend als System. Sein Lebensende betrachtend, muss es sich dementsprechend als versagendes System diagnostizieren. „Man kann den sinnlich erfahrbaren Körper der Vergangenheit auslöschen, indem man sich als selbstregulierendes und selbstkonstruierendes System versteht, das einer Behandlung bedarf.“ (Ivan Illich: Die Nemesis der Medizin, 4. Auflage München 1995, S.207). Dies ist fast zwangsläufig der Augenblick, in dem die Idee unvermeidlich wird, dass im Leben des Systems Mensch eine Zeit kommen kann, in der es naheliegt, das ohnehin versagende System abzuschalten. Recht betrachtet ist der assistierte Suizid die logische Konsequenz gesellschaftlicher Entwicklungen. Dass und wie da von „Assistenz“ die Rede ist, könnte misstrauisch machen. Der Assistent, übersetzt: der „Herantretende“ will ja nie Assistent bleiben, sondern zielt auf die Hauptrolle, auf Übernahme. Und so darf man den assistierten Suizid wohl als einen Schritt zur medizinisch organisierten, überwachten, kontrollierten, projektierten Tötung ansehen. „Die Medikalisierung der Gesellschaft hat die Epoche des natürlichen Todes ihrem Ende zugeführt. Der westliche Mensch hat das Recht verloren, beim letzten Akt selbst Regie zu führen. ... Die technische Tod hat den Sieg über das Sterben davongetragen. Der mechanisierte Tod hat alle anderen Todesarten besiegt und vernichtet“ schreibt Ivan Illich (Ivan Illich: Die Nemesis der Medizin, 4. Auflage München 1995, S. 149). Der assistierte Suizid – der noch eine überraschend „krasse“ Bezeichnung trägt - öffnet den Weg in einen Wellness-Freitod, bei dem der Betroffene das tut, was er schon immer gelernt hat zu tun: Sich als Konsument von Gesundheitsdienstleistungen zu verstehen. Er ist tot, weil er nicht mehr konsumiert und er zelebriert den Übergang ins Nichts durch einen letzten Konsumakt. Beichte und letzte Ölung öffneten einmal den Blick, der Suizid-Mix schließt ihn.

Diejenigen, die widersprechen, sind fast zwangsläufig zum Scheitern verurteilt. Das radikal individualisierte, von religiösen Barrieren sich befreit denkende Individuum, klopft sich gewissermaßen begeistert auf die Schultern. Es wird sich das technische Instrument des assistierten Suizids, auf den es meint, einen Anspruch zu haben, nicht mehr aus der Hand nehmen lassen. Es kommt zudem dem Dominanzanspruch eines Gesundheitswesens entgegen, das sich längst zu einer monolithischen Weltreligion entwickelt hat.

Zwei Fraktionen leisten noch Widerstand: 1. Religiöse Institutionen, speziell die katholische Kirche, die auf den Schöpfungszusammenhang verweist. (Immanuel Kant hat den Versuch gemacht, der „Selbstentleibung“ philosophisch zu widersprechen und die alte Argumentation gegen den Suizid so aufrechtzuerhalten - und zwar aus der Autonomie des Individuums heraus. „Das Subjekt der Sittlichkeit in seiner eigenen Person zu vernichten, ist ebenso viel, als die Sittlichkeit selbst ihrer Existenz nach, so viel an ihm ist, aus der Welt vertilgen, welche doch der Zweck an sich selbst ist.“

2. Die Hospiz- und Palliativbewegung, die – vermutlich mittelfristig illusorisch – darauf verweist, dass eine gute hospizliche und palliative Versorgung den Wunsch nach Sterbehilfe verschwinden lässt. Demgegenüber stützen vor allem neoliberale Kräfte , die – ob grün, rot oder gelb, vielleicht sogar schwarz – in der individualisierten Zivilisation verankert sind, das „Recht“ auf den selbstbestimmten Tod und damit auf den assistierten Suizid. Den Weg in den selbstgewählten Tod wird man niemandem verbieten können oder wollen. Aber wir arbeiten gerade an der Verstaatlichung und Verdienstleistung des Suizids. Das ist ein letzter Angriff auf das sich autonom dünkende Individuum, dem so diese Autonomie gerade aus der Hand genommen wird. Man darf vermuten, dass dort – im assistierten Suizid - die Zukunft liegt. Zu arbeiten wäre noch an den Ausführungsbestimmungen. Fallpauschalenregelung? Abrechnung von Sterbeminuten? Und wer bezahlt den assistierten Suizid? Wer sorgt für Qualitätskontrolle und Evaluation? Welche Ethikkommissionen werden gebraucht? Wie werden sich die kirchlichen Träger von Krankenhäusern dazu verhalten? Die Krankenkassen müssten eigentlich die „Deckelung“ des Lebens begrüßen, denn das ist ein Beitrag zur Kostendämpfung. Dankbar überdies müten sie sein, dass die Lebensbeendigung bisher als „Selbst“-deckelung daherkommt.

Das Lebensende wird zunehmend zur Planungsaufgabe. Die ersten Schritte sind gegangen mit der Patientenverfügung, die ja im Wesentlichen eine Verzichterklärung ist; die Wahl des letzten Ortes kommt gerade in Mode und wird vermutlich nach amerikanischem Muster Hospiz heißen. Man muss befürchten, dass an diesen Orten, ob sie nun Pflegeheim, Palliativmedizinische Abteilung oder Hospiz heißen über kurz oder lang, der letzte gleiche Brei verfüttert wird. Irgendetwas zwischen terminaler Sedierung, assistiertem Suizid, verkappter und dann irgendwann offener Sterbehilfe. Muster für die Abwicklung kann man in der Fristen- oder Indikationslösung, die wir aus anderen Zusammenhängen kennen, finden. Die Dienstleistung „Sterben“ verlangt nach ordentlichen Verfahren, die das öffentliche und das private Interesse berücksichtigen.

Das Dilemma des Widerstands: Eine Hospiz- und Palliativbewegung, die sich allein auf das pragmatische Argument zurückzieht, das da lautet: Das palliative Angebot werde die Nachfrage nach Sterbehilfe reduzieren. Das Argument bleibt schwach und beschränkt sie sich darauf, sind ihre Zukunftsaussichten trübe. Die Aufgabe könnte heißen: Die Suche – vielleicht nur die Sehnsucht - nach einem kulturellen oder philosophischen Argument, das über die Pragmatik hinaus die Frage nach der Rückkehr des globalen Singles in einen sozialen Zusammenhang zu stellen wagt.

Reimer Gronemeyer

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