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Ein anderes Wachstum. Am autofreien Sonntag auf einer Landstraße im Harz sind Aktivisten mit dem „Lindwurm“ unterwegs.

© picture-alliance / dpa

Nachhaltigkeit: Das schwere Erbe deiner Väter

Traditionsvergessen in Zeiten der Beschleunigung: Nachhaltigkeit braucht ein historisches Gedächtnis.

Es ging um „das Überleben der Menschheit“. 1972 konstatierte der Club of Rome angesichts von Bevölkerungszunahme, Rohstoffverbrauch und zerstörtem Lebensraum Grenzen des Wachstums und setzte die Nachhaltigkeit auf die politische Tagesordnung. Seit dem Bericht der Weltkommission für Umwelt und Entwicklung 1983 ist die „zukünftige Generation“ an die Stelle der Menschheit getreten: Die Fähigkeit der zukünftigen Generation, ihre Bedürfnisse zu befriedigen, dürfe nicht durch die eigene Bedürfnisbefriedigung gefährdet werden. Mit dieser Verschiebung der Sorge hat die Menschheit ein Gesicht erhalten. Indem es um die eigenen Kinder geht, rückt die Verantwortung den Bürgern auf den Leib.

Zugleich scheint Nachhaltigkeit kalkulierbar geworden zu sein – etwa mit dem „Nachhaltigkeitsfaktor“, der 2004 in Gestalt eines „Rentenquotienten“ (Relation von Rentnern und Beitragszahlern) eingeführt wurde. Dass die Regierung bereits im darauffolgenden Jahr begann, die Wirkung dieses Faktors zu modifizieren, auszusetzen und aufzuschieben, zeigt, wie wenig nachhaltig rein rechnerische Instrumente sind. Auf der Strecke bleiben strukturelle und qualitative Fragen. Um den Blick dafür zu öffnen, darf Nachhaltigkeit nicht nur in den Grenzen von Technik, Ökonomie und Ökologie diskutiert werden, sondern muss auch in kulturwissenschaftlichen Horizonten gesehen werden.

Die Idee der Generationengerechtigkeit und der Begriff der „künftigen Generation“ sind nicht neu. Sie sind vor etwa 200 Jahren auf den Plan getreten, zusammen mit dem modernen Erbekonzept. Damals etablierten sich der moderne Staat und die bürgerliche Kleinfamilie als wichtigste Akteure des Gemeinwesens. Als Medium der biologischen Reproduktion und des Vermögenstransfers steht die Familie seither dafür, dass die verschiedenen Facetten des (Ver-)Erbens – Biologie, Vermögen, Nachfolgeregelung – ineinandergreifen.

Um 1800 wurde als neuer Maßstab die Abfolge der Generationen (im ursprünglichen Sinne von Zeugungsakt) ins Erbrecht eingeführt. Je mehr Zeugungen zwischen Erbgeber und -nehmer, umso geringer der Anspruch. Im modernen Erbekonzept verbinden sich mehrere Ideen: die Produktion von Zukunft, das Recht der Jugend und Erben als Eigentumserwerb der Nachkommen in der biologischen Reproduktionskette. Seither wird in Generationen gedacht und das Volk als „Population“ betrachtet – als Demos, der Körper von Demokratie und Demografie.

Der Souverän des Ancien Régime hatte seine Untertanen als Besitz betrachtet, zusammen mit Grund und Boden, Bodenschätzen, Ernte, Vieh sowie Manufakturen. Er behandelte sie als Gegenstand von Zählung, Nutzung und Sorge. Mit der Geburt des modernen Staates kamen die Generationen, die Zukunft und die Schulden ins Spiel. Allerdings mussten die Schulden, als sie in Gestalt von geldwerten Krediten erschienen, noch der nachkommenden Generation direkt ins Gesicht sehen.

1813, vier Jahre nach Ende seiner Amtszeit als dritter Präsident der Vereinigten Staaten, entwarf Thomas Jefferson eine Finanzpolitik der Nachhaltigkeit, die erstaunlich aktuell klingt, obwohl sie sich gleichermaßen auf Gott, die Naturgesetze und die Statistik stützt: „Die Erde gehört den Lebenden, nicht den Toten“, schrieb der Vater der amerikanischen Unabhängigkeitserklärung. „Jede Generation hat die Nutznießung der Erde während der Zeit ihres Bestehens. Wenn sie aufhört zu existieren, geht die Nutznießung auf die nachfolgende Generation über, frei und ohne Verpflichtung, und so fort.“ Er vergleicht dies mit der Verpflichtung des Pächters, das Land bei seinem Tod ohne Belastungen zurückzugeben, und kritisiert die „moderne Theorie der Perpetuierung von Schulden“.

Ginge es allein um die Schulden, wäre Generationengerechtigkeit tatsächlich berechenbar. Auf der Grundlage der seinerzeit verfügbaren Geburts- und Sterbetafeln kalkuliert Jefferson, dass von der zu einem bestimmten Zeitpunkt lebenden erwachsenen Bevölkerung nach 18 Jahren und acht Monaten jeweils die Hälfte nicht mehr lebt, und leitet daraus ein Gebot der Schuldenpolitik ab. Der Congress müsse für aufgenommene Kredite spezielle Steuern erheben, genug, um die jährlichen Zinsen und innerhalb von 19 Jahren die gesamte Summe zurückzuzahlen.

Aus einer biblischen Idee – wir sind nur Gast auf dieser Erde – wurde vor 200 Jahren ein modernes, heute verdrängtes Schuldenprinzip abgeleitet. Das Problem der Nachhaltigkeit ist zusammen mit dem modernen Staat entstanden, als die Untertanen des Ancien Régime durch die Bevölkerung abgelöst wurden und die Geldbeschaffungspolitik des Monarchen durch eine Schuldenpolitik ersetzt wurde, die sich dadurch auszeichnet, dass das Volk bei sich selbst Schulden macht – bei sich selbst im status futurum.

Der Begriff Nachhaltigkeit wird gern aus der Forstwirtschaft abgeleitet, wo es um die Relation zwischen zu fällenden und nachwachsenden Bäumen geht. Doch jenseits von Bodennutzung, Technikfolgenabschätzung und Rentenfaktor eröffnen Literaturgeschichte, Philosophie und Kulturwissenschaft den Zugang zu einer anderen Semantik. „Das Haus soll gar nicht mehr den Menschen, sondern der Mensch das Haus überleben.“ Mit dieser Beobachtung hat Hannah Arendt in ihrem Beitrag über Natur und Geschichte in den 1950er Jahren einen Wandel im Verhältnis zwischen biologischer, historischer und der Zeit der Dinge konstatiert, eine Art Kreislauf von „bauen, verbrauchen, einreißen, und neubauen“. Die Beschleunigung der Entwicklung reiße die Welt „in einen proteischen Verwandlungsprozess“, in dem Fortschritt in mythische Zeit umschlägt, in das Gefühl, außerhistorischen Kräften ausgeliefert zu sein. Der Verlust historischer Zeit versetzt die Menschen zurück in das Bewusstsein der Kreatur, das nurmehr Überleben, aber kein Leben kennt. Was ihnen fehlt, ist Tradition.

1961 zitiert Arendt in „Between Past and Future“ einen Aphorismus von René Char – „Unserer Erbschaft ist keinerlei Testament vorausgegangen“ –, um über die Lücke zu reflektieren, die das Verschwinden des Konzepts „Tradition“ für das Handeln hinterlassen hat: „Das Testament, das dem Erben sagt, was rechtmäßig sein eigen ist, verfügt über vergangenen Besitz für eine Zukunft.“ Ohne Testament, ohne eine Tradition, die auswählt und benennt, die übergibt und bewahrt aber gebe es keine Vergangenheit und Zukunft, schreibt Arendt. An ihre Stelle trete immerwährender Wandel der Welt und des biologischen Kreislaufs der lebendigen Geschöpfe in ihr. Es geht Arendt nicht um den Verlust tradierter Kulturbestände, sondern um den Verlust von Tradition überhaupt: als ererbte Erfahrung, aus der sich erst qualitative Maximen der Nachhaltigkeit ableiten ließen.

Während die Zukunft eine Kategorie der Zeit ist, betrifft die Frage, wie wir uns die Zukunft vorstellen, eine Dimension, die aus den Parametern der empirischen Methoden herausführt. Nennen wir sie Dimension F: F wie Fiktion, Fantasie oder umfassender facultas fingendi, das menschliche Vermögen zur Vorstellung, zur Gestaltung und zum Wahrscheinlichkeitsdenken. Als Maxime des Handelns ist Nachhaltigkeit nur eine Seite der Medaille, ohne Wert, wenn sie nicht durch Erfahrung gedeckt ist.

Die Zukunft bedarf der Prägung durch Erfahrung, nicht unbedingt nur der praktischen, auch der durch Literatur und Filme. Sie sind das klassische Feld des Probehandelns, in dem eine imaginäre Zeit des Gewesen-sein-Werdens entworfen oder die Frage vorgelegt wird, wie sich einzelne Innovationen ausmachen, wenn sie ihren Sitz im Leben erhalten. Experimente in virtuellen Raum, wo sich Versuche am lebenden Objekt verbieten.

Beispiele wären die Neuerungen der Bio- und Reproduktionsmedizin, Klonierung und Organtransplantation, Eingriffe ins Hirn, Mensch-Maschine-Schnittstellen und Roboter, die von Autoren hinsichtlich ihrer biografischen, psychischen und sozialen Wirkungen befragt werden. Die meisten Transplantationsromane und -filme kreisen um Vorstellungen, die aus der Unmöglichkeit erwachsen, das transplantierte Organ gefühlsmäßig von der Spenderperson abzutrennen.

Wenn die Literatur jene Dimensionen des medizinischen Fortschritts aufarbeitet, die in der Forschung keinen Ort haben, weil diese vor allem mit den immunologischen Problemen der Transplantation beschäftigt ist, widmet sie sich der Kehr- und Unterseite der Wissenschaft. Ohne deren Berücksichtigung wird der wissenschaftliche Fortschritt nicht nachhaltig sein können. Ohne Kunst, Literatur und Kulturwissenschaft werden wir die Nachhaltigkeit immer schon verpasst haben.

Die Autorin ist Direktorin des Zentrums für Literatur- und Kulturforschung Berlin und Professorin an der TU Berlin.

Sigrid Weigel

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