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Vergangener Ruhm. Paolo Macchiarini (links) demonstriert kurz vor einer Operation eine Testversion der Luftröhre.

© Jim Carlson, AFP

Deutsch-schwedisches Chirurgenteam in der Kritik: Zweifelhafter Ruhm

Eine künstliche Luftröhre, beimpft mit Stammzellen, sollte Schwerkranken helfen. Doch nun mehren sich Hinweise, dass der Erfolg der gefeierten Methode geschönt wurde.

Patienten mit schweren Verletzungen der Atemwege können Ärzte bislang kaum helfen. Paolo Macchiarini hat, gemeinsam mit dem deutschen Chirurgen Philipp Jungebluth, am Karolinska-Institut (KI) in Stockholm eine Technik entwickelt, künstliche Luftröhren oder Bronchienteile aus Plastik mit Stammzellen zu besiedeln, damit sie im Patienten anwachsen. Eine Technik, die Stammzellforschung, 3-D-Druck, chirurgische Kunst und Materialforschung vereint und deren vermeintlicher Erfolg Macchiarini berühmt gemacht haben.

Doch jetzt sind die Transplantationen derart in die Kritik geraten, dass der Vizekanzler des Karolinska-Instituts zurückgetreten ist. Anders Hamsten hatte Macchiarini im letzten Jahr noch von dem Urteil einer Untersuchungskommission freigesprochen, in sieben seiner Veröffentlichungen sei wissenschaftliches Fehlverhalten festzustellen. Nun sagt er: „Diese Operationen sind nicht mit den Werten des Karolinska-Instituts vereinbar“, nachdem eine schwedische Fernsehdokumentation des Journalisten Bosse Lindquist neue Vorwürfe erhoben hatte. Macchiarini habe das Vertrauen des KI verloren, seine Arbeit ruhe, sein Arbeitsvertrag werde nicht verlängert, sagte Pressesprecher Claes Keisu.

Außerordentlich umstrittener Professor

Vergleichbare Konsequenzen hat die Medizinische Hochschule Hannover (MHH) bislang nicht gezogen. Nach wie vor firmiert Paolo Macchiarini als „außerplanmäßiger Professor“ der MHH. Ein Titel, den er seit 2001 innehat und mit dem er alle inzwischen umstrittenen Operationen durchgeführt hat. Zwar erklärt die Hochschule ausdrücklich, keine der OPs in irgendeiner Form unterstützt zu haben. Doch ist denkbar, dass das Führen eines MHH-Professorentitels es Macchiarini erleichtert hat, Patienten und Genehmigungsinstanzen von seiner experimentellen Methode zu überzeugen. Dabei hätte Macchiarini den Titel wohl gar nicht mehr führen dürfen. „Wenn Herr Macchiarini ab Januar 2005 eine ordentliche Professur an der Universität Barcelona erhalten hat, hätte er es uns melden müssen, denn dann wäre die außerplanmäßige Professur der MHH erloschen“, sagt MHH-Pressesprecher Stefan Zorn. „Derzeit prüfen wir, ob und wenn ja wie ein Entzug einer außerplanmäßigen Professur möglich ist.“ Auch das Karolinska-Institut prüft zurzeit, ob Macchiarinis Lebenslauf, den er zu seiner Einstellung dort 2010 eingereicht hat, korrekt ist.

Mit Forschern der MHH hat Macchiarini bis 2006 zusammengearbeitet, vor allem mit den Leibniz-Forschungslaboratorien für Biotechnologie und künstliche Organe, deren Leiter, Axel Haverich, sich zu Macchiarini nicht äußern mag. Operationen, die im Rahmen einer Kooperation mit der MHH stattgefunden hätten, seien normale OPs gewesen, ohne jedwede Zelltransplantation, erklärt sein Sprecher Zorn. Offiziell sei Macchiarini damals als Leiter der Abteilung für Thorax- und Gefäßchirurgie beim städtischen Krankenhaus Heidehaus in Hannover angestellt gewesen, einem Lehrkrankenhaus der MHH. Er arbeitete beispielsweise mit dem Gewebezuchtspezialisten Augustinus Bader (inzwischen an der Uni Leipzig) zusammen.

Luftröhren aus Getränkeflaschen-Plastik

Bader beschreibt Macchiarini als „Macher“-Typ und eindrucksvolle Persönlichkeit. Er erzählt, dass dieser erst nach seiner MHH-Zeit mit künstlichen Luftröhren aus PET-Plastik zu arbeiten begonnen habe. Das Material, aus dem auch gewöhnliche Getränkeflaschen bestehen, lässt sich beliebig und zugleich porös und schwammartig gestalten, sodass es von Zellen und Äderchen durchdrungen werden kann.

Zusammen mit der Firma Harvard Apparatus Regenerative Medicine aus Holliston bei Boston ließ Macchiarini daraus die für die Operationen nötigen künstlichen Atemwege passgenau für die Anatomie der Patienten herstellen und mit den Stammzellen aus ihrem Knochenmark besiedeln. Die Stammzellen sollten auf dem Plastik anwachsen und nach der Transplantation helfen, die natürliche Schleimzellschicht der Atemwege wiederherzustellen. Sie ist nötig, damit Bakterien und Fremdstoffe aus den Bronchien heraustransportiert werden können und normales Atmen möglich wird. So die Hoffnung.

Betrug, Wunschdenken oder nur ein weiterer Stammzell-Fehlschlag?

Sechs von acht Patienten leben nicht mehr

Doch die Realität sah anders aus. Der erste Patient, der Äthiopier Andemariam Beyene, der auf Island lebte und sich im Juli 2011 operieren ließ, starb 2014. Das künstliche Stück Luftröhre war nicht eingewachsen, wie in Macchiarinis und Jungebluths Artikel im Fachblatt „Lancet“ suggeriert, der als Beleg für die Machbarkeit der Methode gefeiert wurde. Einer der Kritiker Macchiarinis, sein ehemaliger Kollege am KI Karl-Henrik Grinnemo, sagte in einem Deutschlandfunk-Interview, er habe die veröffentlichten Daten mit den Krankenakten verglichen: „Nichts stimmte. Röntgenbilder, die angeblich fünf Monate nach der OP gemacht wurden, waren schon nach einem Monat entstanden. Gewebeproben, die angeblich auf eine neu gebildete Schleimhaut hinweisen sollten, zeigten in Wirklichkeit eine sich auflösende Luftröhre, und es gab Hinweise auf Pilz- und Bakterieninfektionen. Es gab also überhaupt keine Hinweise auf eine Regeneration der Luftröhre.“

Der Patient Christopher Lyles aus Maryland, den Macchiarini im November 2011 operiert hatte, starb im Mai 2012. Dennoch operierte Macchiarini Wochen später zwei Patienten im russischen Krasnodar: Julia Tuulik starb, der andere Patient liegt noch immer im Krankenhaus. Insgesamt leben sechs von acht Patienten, die mit der Prozedur behandelt wurden, nicht mehr.

Todesfälle aufgrund oder trotz der Stammzellprozedur?

Das ist kein guter Schnitt. Ist die Hoffnung damit passé, Stammzellen könnten Plastikattrappen von Atemwegen so besiedeln, dass sie wie normales Gewebe funktionieren und so Patienten retten? So wenig es möglich ist, aus den acht Operationen abzuleiten, ob Macchiarinis OP-Methode funktioniert, so schwierig lässt sich nachweisen, ob die Todesfälle aufgrund der experimentellen Technik oder durch davon unabhängige Begleiterscheinungen ihrer Erkrankung zustande kamen. Immerhin starben die Patienten erst lange nach der Operation.

Die Patienten wussten zwar, dass es sich um ein neuartiges Verfahren handelt und sie mit ihrer Einwilligung ein hohes Risiko eingehen. Allerdings entbindet die Zustimmung des Patienten Ärzte, Forscher und Ethikkommissionen nicht von ihrer Fürsorgepflicht, ungeprüfte Methoden nur im Not- und Einzelfall anwenden zu dürfen. Die Richtlinien der Internationalen Gesellschaft für Stammzellforschung ISSCR besagen, dass solche Operationen nur in "sehr wenigen Einzelfällen" außerhalb von ordentlichen klinischen Studien stattfinden sollten, und wenn dann nur unter "unabhängiger Begutachtung und Kontrolle". Aber wie oft "sehr wenig" ist, definiert die ISSCR nicht, und auch nicht, ob nach mehreren Todesfällen weiter experimentiert werden darf.

Weitere Fachartikel unter Manipulationsverdacht

Das Karolinska-Institut hat die Untersuchung des Macchiarini-Falls inzwischen wieder aufgenommen. Es gebe viele neue Hinweise, dass die Entlastung Macchiarinis im August 2015 ein Fehler war, erklärte Anders Hamsten. Er spricht nun sogar von „wissenschaftlichem Betrug“. Nach der Fernsehdokumentation hätte das KI Informationen erhalten, die den Krankheitsverlauf des isländischen Patienten nicht nur anders darstellen, als in einer Reihe von Fachartikeln der Forschergruppe Macchiarinis dokumentiert worden sei. Es ständen nun auch zwei weitere Artikel Macchiarinis unter Manipulationsverdacht, in denen Transplantationsversuche mit künstlichen Atemwegen an Ratten zusammengefasst werden.

Ob es sich dabei um Veröffentlichungen handelt, an denen auch der deutsche Forscher Philipp Jungebluth beteiligt war, ist offen. Allerdings steht Jungebluths Name auf fast allen Veröffentlichungen Macchiarinis, die mit experimentellen Transplantationen in Ratten zu tun haben – oft als Erstautor.

Ziehsohn des Star-Chirurgen

Jungebluth lernte Macchiarini bereits als MHH-Student kennen, sprach ihn nach einem Vortrag an, folgte ihm nach Barcelona und wählte ihn als Doktorvater. Er gilt als Ziehsohn Macchiarinis. Auf zahlreichen Publikationen erscheinen beide Namen, oft haben sie gemeinsam operiert. Zurzeit erreicht man Jungebluth am Karolinska-Institut, wo er in der ACTREM-Forschungsgruppe Macchiarinis arbeitete. Er wird aber auch als Mitarbeiter der Thorax- und Gefäßchirurgischen Klinik der Universität Heidelberg geführt.

Seit die Arbeit seines Mentors angezweifelt wird, steht für den jungen, mehrfach ausgezeichneten Chirurgen eine ganze Karriere auf dem Spiel. Allein der Anschein, es könnte nicht alles korrekt gelaufen sein mit den Operationen in Krasnodar, an denen er beteiligt war, und den Publikationen, an denen er als Erst- und Zweitautor wesentlich mitgewirkt hat, wäre verheerend. Zunächst wollte sich Jungebluth auf Nachfragen dieser Zeitung zu den Vorwürfen äußern. Doch nach Konsultation eines Anwalts verweigerte der Forscher ein Gespräch.

Nur eine Schlammschlacht zwischen Forschern?

Zuvor hatte er jedoch Unterlagen geschickt, aus denen hervorgeht, dass das Karolinska-Institut über die Operationen in Krasnodar frühzeitig informiert und auch in die ethische Beurteilung und Genehmigung involviert war. Darüber hinaus wies Jungebluth darauf hin, dass den Anschuldigungen ein Streit zwischen Forschern der ACTREM-Gruppe vorausging. Jungebluth hatte den Kollegen Karl-Henrik Grinnemo beim Karolinska-Präsidenten angezeigt, ihre Daten und Konzepte ohne Rücksprache für einen eigenen Antrag genutzt zu haben, um 650 000 Euro Forschungsgelder einzuwerben – was vom Institut als Plagiat gerügt wurde. Kurz darauf war Grinnemo dann Wortführer der Gruppe von vier KI-Forschern, die Macchiarini (und damit auch Jungebluth) wissenschaftliches Fehlverhalten in sieben Veröffentlichungen vorwarfen. Artikel, an denen Grinnemo zum Teil selbst mitgewirkt hatte.

Dennoch ist es schwer vorstellbar, dass die Anschuldigungen gegen Macchiarini und Jungebluth nur auf einer Schlammschlacht ehemaliger Kollegen beruhen. Doch wenn Macchiarini und Jungebluth die Daten über den Erfolg ihrer Technik nicht gefälscht haben, bleibt die Möglichkeit, dass sie die Ergebnisse gemäß ihrer eigenen Wunschvorstellungen interpretiert haben. Dann stellt sich die Frage, warum es bei der Einschätzung neuer OP-Methoden keine Mechanismen gibt, solche Voreingenommenheiten auszuschließen.

Forscherinteressen dienen nicht unbedingt Patienteninteressen

Nicht umsonst erklärte Anders Hamsten in seiner Rücktrittserklärung, dass es nötig sei, das Verfahren zu überdenken, wie neue Techniken geprüft und Operationen an Menschen überwacht werden dürfen. Warum beispielsweise ist der Arzt, der eine neue Methode entwickelt und natürlich gern an Patienten testen möchte, der gleiche, der einen Patienten über die Chancen und Risiken einer solchen experimentellen Operation berät? Wäre es nicht dringend nötig, diese Beratung zwingend durch einen unabhängigen Chirurgen durchführen zu lassen?

Stattdessen darf eine schillernde, beeindruckende Persönlichkeit wie Macchiarini seine Versuchsobjekte selbst überzeugen. Warum müssen neue Arzneimittel Zulassungsbehörden durch langwierige Testverfahren überzeugen, bevor sie erstmals am Menschen erprobt werden, während es bei Operationsverfahren nur der Ethikkommission eines Krankenhauses obliegt zu entscheiden, ob ein in Stammzellen gebadetes Stück Plastik einem Patienten eingesetzt werden darf? Solche Fragen sollten dringend beantwortet werden. Unabhängig davon, ob Macchiarini oder Jungebluth bei ihrem Versuch, eine neue Therapie zu etablieren, nun verantwortlich oder unverantwortlich gehandelt haben.

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