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Fahndung nach den Folgen. Im Gebiet rings um Tschernobyl hat die Häufigkeit von Schilddrüsenkrebs bei Jüngeren drastisch zugenommen. Kinder werden regelmäßig mit dem Ultraschall untersucht.

© Reuters

Strahlenschäden: Die unsichtbare Gefahr

Eine Studie der Vereinten Nationen bewertet umfassend die gesundheitlichen Folgen von Tschernobyl. Über Opferzahlen wird weiter gestritten, nicht zuletzt aus politischen Motiven.

In den frühen Morgenstunden des 26. April 1986 barst nach einem missglückten Sicherheitstest die Hülle der Reaktoreinheit 4 im Kernkraftwerk Tschernobyl in der Ukraine. Im Reaktor entzündete sich Graphit, der Brand schleuderte Tonnen von radioaktivem Material in die Atmosphäre, zehn Tage lang. Die strahlenden Atome, vor allem Jod-131 und Cäsium-137, gelangten in mehr als 15 Kilometer Höhe, eine radioaktive Wolke verunreinigte ein Areal von 150 000 Quadratkilometern auf dem Gebiet der Sowjetunion, in dem fünf Millionen Menschen lebten. Spuren des Fallouts waren überall in der nördlichen Hemisphäre nachweisbar.

Betrachtet man die gesundheitlichen Folgen der Katastrophe, sind dabei nur zwei Dinge wirklich gewiss: Wie viele Menschen durch den schlimmsten Unfall in der Geschichte der friedlichen Nutzung der Kernenergie zu Schaden kamen, wird niemals genau geklärt werden. Und es wird weiter über Opferzahlen gestritten werden, nicht zuletzt aus politischen Motiven.

Am härtesten traf es die Arbeiter, die unmittelbar nach der Havarie am Reaktor eingesetzt wurden. 134 von ihnen wurden akut verstrahlt. 28 starben kurz darauf an den Folgen der Strahlenkrankheit. Bis 2006 starben 19 weitere Techniker, wobei die Todesursache meist nicht mit Radioaktivität in Verbindung zu bringen war. Als Spätschäden trugen viele der Verstrahlten Hautschäden davon oder erkrankten an einer Linsentrübung (Katarakt, grauer Star).

Die Strahlenkrankheit ist ein deterministischer Schaden, eine direkte Verbindung von Ursache und Wirkung ist möglich. Anders sieht es bei zufälligen „stochastischen“ Strahlenschäden aus. Sie erhöhen die Wahrscheinlichkeit, Jahre später an bestimmten Leiden zu erkranken. Im Vordergrund steht hier Krebs. Allerdings gibt es in der Regel kaum eine Möglichkeit, in diesen Fällen die Erkrankung auf einen Strahlenschaden im Erbgut zurückzuführen. Man sieht den Krebszellen nicht an, was sie hat genetisch entgleisen lassen. Stochastische Schäden lassen sich nur abschätzen.

Der mit Abstand größte stochastische Effekt durch Tschernobyl war ein dramatischer Anstieg von Schilddrüsenkrebs in der weiteren Umgebung des Kernkraftwerks – in erster Linie bei Personen, die zum Zeitpunkt der Katastrophe noch Kinder waren. 6848 Fälle von Schilddrüsenkrebs traten zwischen 1991 und 2005 bei Menschen auf, die 1986 unter 18 waren, fasst der aktuelle Bericht des wissenschaftlichen Ausschusses der Vereinten Nationen zur Untersuchung der Auswirkungen atomarer Strahlung (UNSCEAR) zusammen. Kinder, die nach 1986 geboren wurden, sind nicht betroffen.

Als wahrscheinlichste Ursache für die Zunahme an Schilddrüsenkrebs gilt das Trinken von Milch, die mit kurzlebigem radioaktivem Jod-131 verunreinigt war. Die wachsende Schilddrüse der Kinder könnte das Jod „wie ein Schwamm“ aufgesogen haben.

Kritiker haben angemerkt, dass die hohe Zahl von Krebsfällen dadurch mitbedingt sein könnte, dass bei den Reihenuntersuchungen Tumoren entdeckt wurden, von denen vermutlich keine Gefahr ausging und die ohne Untersuchung nie eine Rolle gespielt hätten – ein Effekt, wie er auch bei der Suche nach Brust- und Prostatakrebs von Bedeutung ist. Dafür spricht, dass trotz Tausender von Schilddrüsen-Tumoren bis 2005 „nur“ 15 Todesopfer durch den Krebs zu beklagen waren. Damit summiert sich die Zahl der weitgehend gesicherten Todesfälle durch Tschernobyl laut UNSCEAR auf 62.

Zu den am stärksten der Strahlung ausgesetzten Personen gehören rund 530 000 Menschen, die als „Liquidatoren“ eingesetzt waren, um die Folgen der Havarie zu bekämpfen. Die durchschnittliche effektive Dosis, der sie ausgesetzt waren, betrug 117 Millisievert (mSv). Stochastische Effekte durch Strahlung lassen sich etwa ab einer Dosis von 100 mSv beobachten, sagt der Medizinphysiker Christoph Hoeschen vom Helmholtz-Zentrum München. „Das Risiko an einer strahlenverursachten Krebserkrankung zu sterben kann mit 1,2 Prozent pro 100 mSv angegeben werden“, teilt das Bundesamt für Strahlenschutz dazu mit.

Laut UNSCEAR-Bericht gibt es Hinweise auf das vermehrte Auftreten von Blutkrebs und grauem Star bei Liquidatoren, die einer höheren Strahlenbelastung ausgesetzt waren. Überzeugende Belege für weitere strahlenbedingte Effekte in der Allgemeinbevölkerung sehen die Experten nicht. Die große Mehrheit brauche nicht in Furcht vor ernsthaften Konsequenzen durch Tschernobyl zu leben, das gelte umso mehr für Länder, die anders als Weißrussland, die Ukraine und Russland nicht direkt betroffen waren. Laut Bundesamt für Strahlenschutz betrug die Belastung in Deutschland im ersten Jahr maximal 50 Prozent der jährlichen natürlichen Hintergrundstrahlung von durchschnittlich 2,1 mSv. „Es gibt bisher keinen Nachweis, dass in Deutschland oder anderen Ländern Mittel- oder Nordeuropas negative gesundheitliche Strahleneffekte durch den Tschernobyl-Unfall verursacht wurden“, heißt es aus dem Amt.

In starkem Widerspruch dazu stehen die Hochrechnungen durch atomkritische Gruppen wie Greenpeace, Ärzte gegen den Atomkrieg (IPPNW) und die Gesellschaft für Strahlenschutz, die nicht selten von Hunderttausenden von Opfern ausgehen. So behauptet IPPNW Deutschland, bis 2056 würden in Europa „knapp“ 240 000 zusätzliche Krebsfälle auftreten, Greenpeace spricht von 200 000 zusätzlichen Todesfällen in der Region im Zeitraum von 1990 bis 2004 und ein Vertreter der Gesellschaft für Strahlenschutz behauptet, dass aufgrund der Strahlenbelastung 800 000 Kinder nicht geboren wurden.

„Solche Zahlen sind wissenschaftlich nicht haltbar“, kontert der Medizinphysiker Hoeschen und führt das auf erhebliche methodische Schwächen in den Studien zurück. Ein Mangel besteht darin, den potenziellen Schaden durch eine kleine Strahlendosis in Berechnungen aufzublähen. Das wird damit begründet, dass es keine Grenze nach unten gibt, ab der Strahlung unschädlich ist. Diese Annahme ist zwar sinnvoll für den Strahlenschutz, aber taugt im Bereich geringer Strahlendosen nicht als Basis für Modellrechnungen. Wegen „nicht akzeptabler Unsicherheiten in den Vorhersagen“ haben die Experten von UNSCEAR auf solche Kalkulationen für niedrig belastete Bevölkerungen verzichtet.

Auf einem anderen Blatt stehen die enormen seelischen und sozialen Belastungen der Bevölkerung im Umkreis von Tschernobyl. Mehr als 300 000 Menschen wurden umgesiedelt, Millionen leben in Furcht vor Strahlenschäden und litten oder leiden unter psychischen und psychosomatischen Störungen bis hin zum Suizid. Auch die Angst fordert ihren Tribut.

Die UN–Studie im Internet unter: www.unscear.org/unscear/en/publications/2008_2.html

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