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Zerstört. Am 6. April 2009 verwüstete ein Erdbeben L’Aquila. Nun wurden Forscher dafür verantwortlich gemacht, nicht ausreichend vor der Gefahr gewarnt zu haben.

© AFP

Erdbeben von L'Aquila: Verschobene Verantwortung

Nach der Katastrophe wurde ein hartes Urteil über sieben Forscher gesprochen. Nun legte der Richter seine Begründung vor. Die Aufregung bleibt - und die Furcht, dass wissenschaftliche Beratung künftig eine riskante Angelegenheit sein könnte.

Der Prozess schlug weltweit hohe Wellen: Im Oktober 2012 verurteilte das Gericht von L’Aquila in Mittelitalien sieben Erdbebenexperten. Wegen fahrlässiger Tötung sollen sie für sechs Jahre ins Gefängnis. Angeklagt waren die Fachleute im Zusammenhang mit dem Erdbeben der Magnitude 6,3, das am 6. April 2009 die Stadt L’Aquila verheerte. Mehr als 300 Menschen starben. Den Experten wird vorgeworfen, trotz einer Reihe von Vorbeben die Öffentlichkeit über die Gefahr im Unklaren gelassen zu haben. Sie trügen wegen dieser Fahrlässigkeit eine Mitschuld am Tod von 29 Menschen und an den Verletzungen von fünf weiteren – diese seien aufgrund der fachlichen Einschätzung in Gebäuden geblieben.

Das Urteil hat viele Wissenschaftler empört, nicht nur in Italien. Sie finden, ihre Kollegen seien zu Sündenböcken gemacht worden. Doch erst jetzt, da der Richter Marco Billi die Begründung seines Urteils veröffentlicht hat, kann man sich mit seinen Argumenten genauer auseinandersetzen. Klar ist: Billi vermag die Kritik an seinem Urteil nicht zum Verstummen zu bringen.

Seine Begründung zeigt, dass er den Experten durchaus nicht vorwirft, dass sie es versäumt hätten, die Erdstöße vorherzusagen. Eine Bebenvorhersage sei nicht möglich, schreibt Billi. Da stimmt er mit der herrschenden Lehrmeinung überein. Das Vergehen sieht er woanders. Die Experten hätten wenige Tage vor dem Erdbeben „unvollständige, ungenaue und widersprüchliche Informationen zur Natur, Ursache, Gefahr und künftigen Entwicklung der seismischen Aktivität“ geliefert. Billi zufolge machte dies auf die Einwohner einen beruhigenden Eindruck. Die Experten hätten damit ihre gesetzliche Informationspflicht verletzt.

Der Hinweis auf die Informationspflicht ist wichtig. Am 31. März 2009 wurde nämlich in L’Aquila eine Sitzung der offiziellen italienischen „Kommission für Großrisiken“ anberaumt, nachdem ein Schwarm schwacher Beben die Einwohner beunruhigt hatte. In dieser Sitzung erläuterten die später angeklagten Fachleute dem Bürgermeister, politischen Vertretern der Region sowie Mitgliedern des Katastrophenschutzes, wie es um die Gefährdung der Stadt durch Erdbeben stand. Dabei fielen die verhängnisvollen Äußerungen.

Der Erdbebenschwarm sei kein Vorzeichen für weitere Beben, sondern ein normales geologisches Phänomen, hieß es in der Sitzung von den Forschern. Zuvor gab einer der Verurteilten – Bernardo De Bernardinis, damals Vizepräsident des Katastrophenschutzes – ein später scharf kritisiertes Interview. Er sagte, es bestehe „keine Gefahr“; die wissenschaftliche Gemeinschaft versichere ihm, dass die Lage „günstig“ sei, weil es eine Entladung von Energie gebe – eine Einschätzung, die die beteiligten Seismologen gar nicht vertraten. Darüber hinaus belegt ein aufgezeichnetes Telefonat, dass die Veranstaltung in L’Aquila von Guido Bertolaso, dem damaligen Chef des Katastrophenschutzes, veranlasst worden war, um die Bevölkerung zu beruhigen. Dieses Gesamtbild hat den Richter offenbar zu seinem drakonischen Urteil bewogen.

Auf die Urteilsbegründung haben sieben Wissenschaftler vom Instituto Nazionale di Geofisica e Vulcanologia mit einem offenen Brief reagiert (zu den Verurteilten zählt unter anderem der damalige Präsident des INGV, Enzo Boschi). Sie empfinden den Prozess und das Urteil als ungerecht, wie sie schreiben. Es fehle eine Analyse der institutionellen, politischen und behördlichen Verantwortlichkeit. Auch sei während der besagten Sitzung der Kommission sehr wohl auf die bestehende Erdbebengefahr in der Region hingewiesen worden. Dieses Argument jedoch, so erscheint es im Nachgang, passte nicht zu der beabsichtigten Beruhigung und wurde nicht weiter verfolgt.

Die Entscheidung von L’Aquila hat auch Erdbebenexperten in Deutschland überrascht. „Das Urteil kann dazu führen, dass manche Kollegen den Mund gar nicht mehr aufmachen, aus Angst, ihn sich zu verbrennen“, sagt Manfred Joswig, Geophysiker an der Universität Stuttgart. Das wäre aber falsch, Wissenschaftler sollten sich dem Dialog mit der Bevölkerung nicht verweigern. Die Verantwortung für Schutzmaßnahmen müsse allerdings von Politikern getragen werden.

Stefano Parolai, Leiter des Zentrums für Frühwarnung am Geoforschungszentrum Potsdam, hält es angesichts des Urteils für wichtig, dass klar definiert ist, wofür beratende Wissenschaftler verantwortlich sind. Wenn Forscher, die in einer Regierungskommission eine beratende Rolle einnehmen, fürchten müssten, dass ihre Äußerungen gegen sie verwendet werden könnten, zögerten sie womöglich, an solchen Beratungen teilzunehmen. Dann würde das Risikomanagement unter dem Mangel an Expertenbeiträgen leiden.

Die Angeklagten haben gegen das Urteil Berufung eingelegt. Angesichts der heftigen Kritik und der unklaren Rechtslage kann der Prozess in zweiter Instanz durchaus anders ausgehen. Der Vorgang hat jedoch längst weitreichende Auswirkungen nach sich gezogen. Die Nervosität unter Wissenschaftlern, Politikern und Beamten im Zusammenhang mit Erdbeben – sie war in Italien ohnehin groß – ist weiter gestiegen. Erst neulich kam es in der Toskana wieder zu einer Panikattacke: Nach leichten Erdstößen twitterte am 31. Januar die Verwaltung der Gemeinde Castelnuovo di Garfagnana, die Einwohner sollten die Nacht besser auf der Straße verbringen. Hunderte Einwohner folgten dem Rat, doch die Erde blieb ruhig. Anschließend entbrannte eine heftige Debatte, bei der auch der Hinweis aufkam, ohne den Prozess von L’Aquila hätte man wohl kaum so reagiert.

Solche Ereignisse dürften von der eigentlichen Lehre des Bebens ablenken. Um die Opferzahl künftiger Erdbeben in Italien zu verringern, fordern die INGV-Autoren des offenen Briefes eine bessere Vorsorge. „Die Gegend um L’Aquila ist seit 1915 als Gebiet hoher seismischer Aktivität eingestuft“, sagt Daniela Pantosti. Hätte man sich bei allen Gebäuden, die seitdem gebaut oder umgebaut wurden, an die Vorschriften zur Erdbebensicherheit gehalten, wären viele Menschenleben gerettet worden.

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