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Evolution

© dpa

Forschung: Ist die Evolution des Menschen am Ende?

Der britische Steve Jones stößt auf heftigen Widerspruch unter Anthropologen. Der Genetiker vertritt die These, dass die Evolution des Menschen beendet sei.

"Keine Flügel. Keine Spaghettiarme - wir sind raus." Eine britische Kolumnistin zeigte sich sehr enttäuscht von dem, was Steve Jones über die Zukunft des Menschen gesagt hat. "Die humane Evolution ist beendet", hatte der prominente Genetiker vom University College London gegenüber verschiedenen Medien behauptet. Und dafür heftigen Widerspruch geerntet.

Hunderte E-Mails erhielt er von Wissenschaftlern, Lehrern, Studenten. Forscher, mit Jones' These konfrontiert, reagieren zumeist mit Unverständnis. Claus Wedekind, Evolutionsexperte an der Universität Lausanne, findet sie "abstrus". Jean-Jacques Hublin, Paläontologe am Max-Planck-Institut in Leipzig, hält es für "sehr unwahrscheinlich", dass die Evolution des Menschen vorbei sei. Wie kommt Jones zu seiner Ansicht?

Nach Charles Darwin entsteht Evolution zum wesentlichen Teil dadurch, dass Individuen unterschiedlich gut an ihre Umwelt angepasst sind. Diejenigen, die mit den Verhältnissen besser zurechtkommen, überleben und können mehr Nachkommen zeugen. Wer schlechter angepasst ist, stirbt früher und gibt seine Gene weniger oft weiter. Natürliche Selektion nannte Darwin das.

Krankheiten sind ein starker Selektionsfaktor

Die Wissenschaft erklärt mit diesem Prozess beispielsweise, dass Menschen unterschiedliche Hautfarben haben. Vor 6000 Jahren hatten Mitteleuropäer wie ihre afrikanischen Vorfahren wohl noch überwiegend eine dunkle Hautpigmentierung. Es gab aber auch Menschen, die durch Mutationen hellere Haut hatten - und damit einen Überlebensvorteil. Denn jeder Mensch braucht für den Knochenbau Vitamin D und dafür wiederum UV-Licht. In heller Haut wird unter geringerer Sonneneinstrahlung mehr Vitamin D gebildet als in dunkler. Hellhäutige hatten einen Überlebensvorteil. Gene für dunkle Haut verschwanden aus Europa.

Tatsächlich zeigt eine Studie, die im Frühjahr im Wissenschaftsjournal "Nature Genetics" erschienen ist, dass natürliche Selektion an mindestens 2,8 Millionen Stellen im menschlichen Genom Spuren hinterlassen hat. Lluis Quintana- Murci vom Institute Pasteur in Paris hat Mutationen von Japanern, Chinesen, Afrikanern und Amerikanern verglichen. Mutationen entstehen zufällig und kommen ohne Selektion bei Menschen überall auf der Welt gleich häufig vor.

Die Studie ergab, dass Menschen je nach Herkunft unterschiedliche Mutationen haben. Verschiedene Umweltbedingungen begünstigen unterschiedliche Varianten, die sich dann durch Selektion durchsetzen. Besonders Mutationen in Genen, die mit dem Immunsystem zu tun haben, unterscheiden sich. Krankheiten sind ein starker Selektionsfaktor.

Dass natürliche Selektion auf den Menschen gewirkt hat, ist nicht erst seit dieser Studie bewiesen. Aber warum sollte sie das jetzt nicht mehr tun?

"Wir haben uns glücklicherweise vom Darwinismus verabschiedet"

"Wenn ich meinen Einführungskurs für Studenten gebe, sage ich ihnen: Schaut euch eure Banknachbarn an. Zu Shakespeares Zeiten wären zwei von dreien schon tot", sagt Jones. "Heute dagegen gibt es in der westlichen Welt keine natürliche Selektion mehr."

98 Prozent aller Kinder in der westlichen Welt erreichen ein Alter, in dem sie sich fortpflanzen können. In Europa und Nordamerika muss niemand verhungern, Infektionen sind kaum eine Gefahr.

"Gene, die anfällig für Krankheiten und Hunger gemacht haben, hatten kaum eine Chance, weitergegeben zu werden", sagt Jones. "Heute kommt jeder durch. Wir haben uns glücklicherweise vom Darwinismus verabschiedet."

Nicht nur, weil fast alle Menschen Kindheit und Jugend überleben, sei die Selektion ausgesetzt. "In unserer Kultur unterscheiden sich die Menschen kaum in ihrem Fortpflanzungserfolg", sagt Jones. Zu anderen Zeiten, bevor es Verhütungsmittel gab, und in anderen Kulturen sei das anders gewesen. "Es gibt das Beispiel von Sultan Moulay Ismail aus Marokko, der im 18. Jahrhundert lebte und 888 Kinder von 500 Frauen in seinem Harem gehabt haben soll. Das bedeutet, dass 500 Männer keine Frau hatten und auch keine Möglichkeit, ihre Gene weiterzugeben." Keine Unterschiede im Fortpflanzungserfolg heutzutage bedeute dagegen: keine Evolution.

Der Paläoanthropologe Jean-Jaques Hublin kann Jones' Argument nachvollziehen, kommt jedoch zu einem anderen Schluss: "Die natürliche Selektion ist heute nicht mehr stark - aber gerade das kann Evolution bewirken." Denn wenn die Personen, die früher wegen ungünstiger Gene als Kinder verstorben wären, überlebten und sich fortpflanzten, ändere auch das die Menschheit.

Evolution hat kein Ziel, da sind sich Biologen einig

"In der Steinzeit war es lebenswichtig, dass Menschen ein sehr robustes Gebiss haben", sagt Hublin. Heute haben Menschen, denen durch einen Gendefekt Zähne fehlen, kein Problem, zu überleben. "Wir haben gelernt, zum Beispiel durch Kochen weiche Nahrung herzustellen", sagt Hublin. "Die Selektion auf gute Zähne ist schwächer geworden. Zähne sind heute weniger robust. Also haben wir uns verändert."

Wenn man davon ausgehe, dass früher alle Menschen mit einem schlechten Gebiss jung starben, schließe das nicht aus, dass sich mangelhafte Zähne ausbreiten konnten. Evolution, da sind sich Biologen einig, hat kein Ziel und muss unsere Körper nicht besser machen.

Dass ein verringerter Evolutionsdruck den Menschen verändert, bestreitet Steve Jones nicht. Er glaubt allerdings nicht, dass sich Gendefekte in der westlichen Welt ausbreiten, die für schlechte Zähne sorgen. Jemand, der schlechte Zähne hat, vermehre sich im Moment nicht besser als jemand mit guten Zähnen. "Wenn alle sich gleich gut fortpflanzen, ändert sich nichts." "Die Evolution des Menschen ist erst dann beendet, wenn wir ausgestorben sind", sagt dagegen der Evolutionsbiologe Wedekind. "Ohne Selektion würden sich schädliche Mutationen anhäufen." Besonders schwere Veränderungen im Erbgut führten oft schon im Frühstadium einer Schwangerschaft zu einer Fehlgeburt - und würden dadurch eliminiert. Außerdem sei die sexuelle Selektion weiterhin wirksam. Körpermerkmale spielten eine Rolle bei Partnerwahl und Fortpflanzung, auch wenn klare Tendenzen sich schwer ausmachen ließen.

Claus Wedekind hat noch einen weiteren Einwand gegen Jones' These. "Evolution entsteht nicht nur durch Selektion", sagt er. "Durch die hohe Mobilität heutzutage werden Gene aus aller Welt durchmischt." Wenn eine Schwedin und ein Nigerianer ein Kind haben, sei die Hautfarbe der Kinder anders als die der Eltern. "Die Menschen ändern sich - das ist Evolution!", sagt Wedekind.

Jones ist sich mit seinen Kritikern einig, dass Menschen weder "Spaghettiarme" noch Flügel entwickeln werden. "Wir brauchen die Evolution nicht, um fliegen zu können, wir können Flugzeuge bauen", sagt Hublin. "Der Mensch passt sich mit Technik an." So könnte die Entwicklungsgeschichte des Menschen durch ihn selbst eine Wendung erfahren: Durch Gentechnik. "Wir werden selbst an unserem Genom arbeiten", sagt Hublin. "Es wird Evolution geben, aber sie wird anders sein als die, die wir kennen."

Frederik Jötten

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