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Anhänger der rechtsextremen und islamfeindlichen Splitterpartei Pro NRW protestieren am 9. Juni in Köln gegen eine von Salafisten organisierte Kundgebung.

© dapd

Gastbeitrag: Der Fundamentalismus der anderen

Aufstand gegen die Moderne: Radikale Antworten auf die Probleme des 21. Jahrhunderts suchen nicht nur die Salafisten, sondern auch islamfeindliche Populisten. Diese Strömungen sind eine Gefahr für demokratische Gesellschaften.

Vor kurzem hatten die meisten noch nie von ihnen gehört, von den traditionalistischen Muslimen im altertümlichen Gewand, die als Werbegag Koranexemplare verteilen und fanatisch ihren Glauben propagieren. Jetzt gelten die Salafisten als allgegenwärtige Inkarnation eines radikalen islamischen Fundamentalismus.

Mit Fundamentalismus wurde ursprünglich eine konservative theologische Richtung im Protestantismus bezeichnet, die das Fundament ihres Glaubens gegen den Zeitgeist verteidigte. Im erweiterten Verständnis gilt auch das kompromisslose Festhalten an politischen Grundsätzen als Fundamentalismus. Konnotiert sind mit dem Begriff eindimensionale Weltsicht, Engstirnigkeit, Intoleranz, Fanatismus und Obskurantismus.

Bildergalerie: Salafisten verteilen Koran in Deutschland

Ein Wesenselement des Fundamentalismus besteht im autoritären Patriarchalismus; als richtige Sozialordnung gilt in nahezu allen Ausprägungen die gottgewollte Dominanz des Mannes in der patriarchalisch strukturierten Familie, nicht das gleichberechtigte Individuum in der pluralistischen Gesellschaft. Trotzdem gelingt die politische Mobilisierung von Frauen durch und für fundamentalistische Bewegungen immer wieder.

Der „Aufstand gegen die Moderne“ der Fundamentalisten findet längst auf vielen politischen und gesellschaftlichen Ebenen statt. Der in Europa relativ neuen Erscheinung fundamentalistischer Muslime stehen erstarkende Bewegungen gegenüber, die sich auf ihre westlich-christlichen Wurzeln berufen. Populisten und Demagogen beschwören fundamentale Werte mit eingängigen Parolen („Abendland in Christenhand“ – „Heimat statt Minarette“). Sie bedienen damit Vorurteile und stiften Feindbilder gegen Minderheiten. Toleranz als zentrales Element demokratischen Selbstverstehens wird von Fundamentalisten bekämpft, da ihr Weltbild keinen Interessenausgleich und keine Verständigung durch Kompromisse zulässt.

Ohnmachtsgefühle und der Wunsch nach Orientierung

Warum findet der Fundamentalismus gerade im 21. Jahrhundert eine solche Verbreitung? Fundamentalismus ist in der modernen Gesellschaft die Antwort auf komplexe und nicht überschaubare Probleme, die Ohnmachtsgefühle und den Wunsch nach Orientierung an leicht nachvollziehbaren Werten und Normen auslösen. Solche Werte und Normen finden sich natürlicherweise in erfahrenen oder überlieferten Traditionen.

Der Terminus Fundamentalismus dient nicht der Selbstkennzeichnung von religiösen und politischen Gruppen, sie werden vielmehr von außen abwertend als fundamentalistisch definiert. Die Bezeichnung wurde ursprünglich nur auf Protestanten verschiedener Denomination in den USA, vor allem Presbyterianer und Baptisten, angewendet, die seit der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts ihr traditionelles Verständnis von Christentum gegen moderne Wissenschaftlichkeit, gegen die Evolutionstheorie, gegen Erkenntnisse der Sozialwissenschaften verteidigten.

Politische Bedeutung gewann dieser religiöse Fundamentalismus Ende der 1970er Jahre, als eine „moralische Mehrheit“, geführt vom Fernsehprediger Jerry Falwell in der Koalition mit konservativen Katholiken, Juden und Mormonen, Ronald Reagan zum Amt des Präsidenten der USA verhalf. Militant und glaubensstark gewann der Fundamentalismus erheblichen Einfluss.

Die Orientierung an einer Heilsgeschichte, die sich Erwählten, also vom Geist Erleuchteten, als empirische Wahrheit darstellt, blieb nicht auf die USA und nicht auf Protestanten beschränkt. Im Katholizismus etablierte sich unter anderem die „Priesterbruderschaft St. Pius X.“ als traditionalistische Gegenbewegung zum Zweiten Vatikanischen Konzil.

Mit völkischem Nationalismus gegen Muslime

Die islamische Revolution im Iran unter Ayatolla Khomeini hat eine neue Qualität von Fundamentalismus in das Bewusstsein der internationalen Öffentlichkeit gebracht, nämlich die Mischung aus religiöser Intention und politischem Anspruch. In der jüdischen Welt stehen sich traditionell die religiösen Strömungen Orthodoxie und liberales Reformjudentum gegenüber. Seit der Gründung des Staates Israel machen Orthodoxe und Ultraorthodoxe politischen Einfluss geltend. Die Sammlung orthodoxer Gruppierungen „Agudat Israel“ ließ schon vor der Staatsgründung einige Grundregeln fixieren, die für die israelische Gesellschaft bindend sind: der Sabbat als nationaler Ruhetag, die Kaschrut, also die religiöse Speisegesetzgebung, die Ehe- und Scheidungsjurisdiktion durch rabbinische Gerichte und der Fortbestand eines separaten orthodoxen Erziehungssystems. Das Spannungsverhältnis zwischen dem laizistischen und sozialistischen Zionismus der Gründerzeit, der die Staatsideologie formte, und den fundamentalistischen religiösen Bewegungen beherrscht von Anfang an die Politik Israels.

Die Politikmächtigkeit religiöser fundamentalistischer Bewegungen ist evident. Darüber hinaus etablieren sich auch politische Strömungen, die Fundamentalismus propagieren und praktisch agieren. Das Ergebnis besteht in rechtsextremistischen Organisationen wie dem Vlaams Belang in Belgien. Er kämpft für eine unabhängige Republik Flandern und instrumentalisiert den Gegensatz zwischen Flamen und Wallonen für einen völkischen Nationalismus, der sich gegen Fremde und insbesondere gegen Muslime richtet. Ähnliche Gruppierungen sind der Front National in Frankreich und die Lega Nord in Italien.

In diesem Zusammenhang interessieren die Faktoren, durch die ursprünglich konservative oder liberale Parteien über fundamentalistische Angebote wie Nationalismus und Ethnozentrismus zu rechtsextremen Organisationen mutieren. Man muss die verschiedenen Bewegungen politischer Religiosität oder religiös beeinflusster Politik als Bündel neuer sozialer Bewegungen verstehen, die sich aus antimodernen Affekten speisen und nationalistisch, chauvinistisch, extrem agieren, sich kulturrassistischer Argumente bedienen, gegründet auf der Renaissance von Religion in der Gesellschaft.

Nach einem weit fortgeschrittenen Prozess der Säkularisierung, der unumkehrbar schien, galt die Bedeutung von Religion als Faktor sozialer Ordnung und Organisation mindestens in den modernen Industriegesellschaften als beendet. Die fundamentalistischen sozialen Bewegungen stellen dies radikal infrage.

Der Amerikaner Samuel Huntington hat ein theoretisches Erklärungsmodell zur Wiederkehr der Religion im öffentlichen Leben vorgelegt, das die Situation als „Kampf der Kulturen“ beschreibt. Dem hält der Religionssoziologe Martin Riesebrodt die Option eines „Bekenntnispluralismus“ entgegen, in dem unterschiedliche Möglichkeiten von Partizipation gegeben sind. Damit bricht Riesebrodt diametrale Positionen auf, die heute die öffentliche Diskussion bestimmen: Absolutes Naturrecht und geschlechtsneutrale Gleichheit als säkulares Modell wird dem religiösen Modell Naturrecht mit angeborenen Geschlechtsunterschieden und gottgewollter patriarchalischer Familienstruktur gegenübergestellt. Riesebrodts Modell deutet einen Ausweg zumindest an.

Fundamentalistische Strömungen sind weltweit auf dem Vormarsch. Sie appellieren wirkungsvoll an Emotionen des Unbehagens, des Bedrohtseins. Ursprünglich auf den Bereich des Religiösen beschränkt und nur in diesem Raum aktiv und als Sekten wahrnehmbar, haben sie die säkulare Bühne betreten und kämpfen um Einfluss in Gesellschaft und Politik. Durch ideologische Kompromisslosigkeit und Unfähigkeit zum Interessenausgleich, Propaganda von Feindbildern sowie eine manichäische, also pessimistisch-dualistische Weltsicht bilden sie eine Gefahr für die demokratisch verfasste Gesellschaft. Das macht die Auseinandersetzung mit fundamentalistischen Bewegungen notwendig. Und zwar ungeachtet ihrer religiösen und gesellschaftlichen Wurzeln.

Der Autor ist Historiker und ehemaliger Direktor des Zentrums für Antisemitismusforschung an der TU Berlin. Zum Thema: Fundamentalismus. Aktuelle Phänomene in Religion, Gesellschaft und Politik; hrsg. vom Sir-Peter-Ustinov-Institut. Braumüller-Verlag, Wien 2011. 160 S., 21,90 €.

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