zum Hauptinhalt
Wildgänse fliegen über einem Acker in Brandenburg auf.

© dpa

Gastbeitrag: Mehr Bürger in die Wissenschaft

Bürgerwissenschaft (Citizen Science) muss heißen, dass Forscher und Laien auf Augenhöhe kooperieren. Das fordert Gert G. Wagner vom Deutschen Institut für Wirtschaftsforschung in einem Meinungsbeitrag für den Tagesspiegel.

Die Beteiligung von Laien an Forschungsvorhaben ist so populär wie nie. Wenn etwa ganz gewöhnliche Heimcomputer dazu genutzt werden, astronomische Massendaten zu analysieren, oder Seeleute helfen, Plankton-Populationen zu kartografieren, wird das als Citizen Science bezeichnet. In Berlin-Brandenburg fließen Laienberichte zur Beobachtung und Zählung von Wildschweinen, Igeln und Mücken in das Biodiversitätsprojekt ein und der Naturschutzbund Deutschland (Nabu) ruft seit Jahren erfolgreich zu Mitmachaktionen zur Zählung von Gartenvögeln auf.

Unterdessen ist eine bedeutende Art von Citizen Science gar nicht unter diesem Namen bekannt. An statistischen Erhebungen der Wissenschaft und der Statistischen Ämter beteiligen sich Zehntausende von Menschen. Sie beantworten freiwillig Fragen oder lassen sich medizinisch untersuchen. Sicherlich ist das eine eher passive Art, dem Erkenntnisfortschritt zu dienen. Aber so groß ist der Unterschied zum Sammeln von Daten oder Fotos im Auftrag von Wissenschaftlern nicht. Wenn es gelingt, die Teilnahme an solchen Befragungen als eine Spielart der Bürgerwissenschaft zu etablieren, wären wahrscheinlich auch wieder mehr Menschen bereit, sich zu beteiligen.

Raum auch für "anarchische Forschung", die nicht gesteuert wird

Gleichwohl sind alle diese Aktivitäten zentral von Profiforschern gesteuert und werden zentral ausgewertet. Diese Arten der Citizen Science haben nichts damit zu tun, was der Bielefelder Wissenschaftstheoretiker Peter Finke als letzten Rest „anarchischer Forschung“ bezeichnet; einer Forschung, die nicht von den Interessen der Forschungspolitik oder der Wirtschaft „gesteuert“ sei. Die gibt es tatsächlich: So ist die ehrenamtliche Leitung und Mitarbeit in Heimatmuseen vielfache Realität – häufig ohne die gebührende Anerkennung. Selbst Briefmarkensammler produzieren – ungewollt – Input für historische Studien. Der wird von Profihistorikern aber eher übersehen.

Bei repräsentativen Umfragen Texte schreiben, anstatt nur anzukreuzen

Auch Bürgerdialoge, wie sie etwa das Bundesforschungsministerium 2012 zu den Themen Demografischer Wandel, Hightechmedizin und Energietechnologien gestartet hat, gehören zur Citizen Science. Eine solche dezentrale Forschung systematisch auszubauen, ist einen Versuch wert. Traditionell werden Forschungsthemen von der Scientific Community, also den aktiven Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern, selbst bestimmt, im Sinne der akademischen Freiheit. Aber mehr denn je in den letzten 200 Jahren bestimmt die Politik über große Drittmittelprojekte und außeruniversitäre Institute kräftig bei der Forschungsagenda mit. Was fehlt, ist in der Tat ein direkter Einfluss der Bürgerinnen und Bürger auf Forschungsfragen. Dies gilt insbesondere in den Sozial- und Wirtschaftswissenschaften, deren Gegenstand unmittelbar die Menschen und ihre Organisationen sind.

Eine wirkliche Citizen Science darf aber nicht im üblichen Top-down-Ansatz erfolgen, bei der der Wissenschaftler seine Kooperationspartner quasi als Versuchskaninchen und Datensammler benutzt. Es bedarf vielmehr einer Diskussionskultur auf Augenhöhe aller Beteiligten, auch um der Kreativität von Laien Raum zu geben.

Für repräsentative Umfragen heißt das, die Befragten als Citizen Scientists ernst zu nehmen. Anstatt nur vorgegebene Antwortmöglichkeiten anzukreuzen, können sie Texte schreiben oder sprechen. Die computergestützten Auswertungsmöglichkeiten für solche „Klar-Texte“ werden immer besser. Internetnutzer könnten zudem bei einer Art virtuellem Bürgerdialog bei der Bestimmung von Forschungsthemen und der Hypothesengenerierung mitreden. Das wird etlichen Menschen mehr Spaß machen als das Zählen von Insekten oder Vögeln.

Bürgerwissenschaft: Wenn Bürger Wissenschaft finanzieren

Auch ein weltweites Problem staatlicher Forschungsförderung könnte mithilfe von Citizen Scientists etwas abgemildert werden. Staatliche Forschungsförderung muss sich Gutachtern bedienen, um das Geldausgeben rechtfertigen zu können. Dadurch werden Forschungsprojekte begünstigt, die etablierte Theorien und Methoden anwenden, denn die Gutachter urteilen anhand des gerade herrschenden Mainstreams in einer wissenschaftlichen Disziplin. Wirklich revolutionäre neue Ansätze haben es schwer. An der Stelle könnten Citizens sich stärker ins Spiel bringen, indem sie über Crowdfunding neue Ansätze finanzieren.

Es ist gut, dass die Bürgerbeteiligung an der Wissenschaft unter dem Label Citizen Science breite Aufmerksamkeit erfährt. Jetzt gilt es daraus etwas Produktives für alle Beteiligten zu machen, indem Profis und Laien wirklich zusammenarbeiten. Das erfordert nicht nur von den Profis Offenheit. Auch von den Laien ist Bereitschaft gefragt, sich mit Sprache und Methoden der Wissenschaft vertraut zu machen.

Der Autor ist Vorstandsmitglied des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung (DIW).

Gert G. Wagner.
Gert G. Wagner.

© Promo

Zur Startseite

showPaywall:
false
isSubscriber:
false
isPaid:
showPaywallPiano:
false